Ausverkaufsberater „Rabatte wirken wie Kokain“

Ausverkauf: Wie Rabatte auf Kunden wirken Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche

Nicht nur Modehändler Gerry Weber kämpft ums Überleben. Überall im Land schließen Läden. Ausverkaufsberater wie Steffen Sigg sorgen für den letzten großen Umsatzschub. Was der Kampf um die Prozente mit den Kunden macht.

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Jeder gute Ausverkauf beginnt mit einem großen Umbau. Da ist sich Steffen Sigg sicher. Also klopft er an einem tristen Novembertag an das Schaufenster des Sport- und Modegeschäfts von Evelyne und Alexander Kauderer in Markdorf am Bodensee, begrüßt die Inhaber, plaudert mit dem Personal – während vier seiner Mitarbeiter Dutzende Stahlrohre, wie man sie von Baugerüsten kennt, hinauf in die erste Etage tragen. „Der Laden“, verkündet Sigg, „wird komplett umgebaut.“ Es gehe darum „ein echtes Räumungsverkaufsgefühl“ zu erzeugen. Die neue Optik würde den Kunden signalisieren, dass das hier nicht eine der üblichen Sale-Aktionen sei, bei der Saisonprodukte verschleudert werden – sondern eine echte Schließung, mit echten Schnäppchen. Ungläubig schauen Kunden ins Innere des Ladens, bevor sie das Hinweisschild am Eingang entdecken: „Umbauarbeiten für den Räumungsverkauf“, steht da. Drei Tage bleibt der Laden dafür geschlossen.

An den Metallstangen sollen später die Produkte hängen, fein säuberlich sortiert nach Größen und Warengruppen. Und direkt greifbar, um Kunden dazu zu bringen, sich selbst zu bedienen, und nicht mehr die gewohnte Beratung einzufordern. „Denn dafür ist im Ausverkauf keine Zeit“, sagt Sigg. Der 46-Jährige hat es mit seiner Firma „Zeit zum Handeln“ im Sport- und Modemittelstand zu einiger Bekanntheit gebracht. Seit 19 Jahren ist Sigg im Geschäft, hat mehr als 900 Ausverkaufsaktionen dirigiert, Warenhäuser, Boutiquen, Schreibwarenläden und andere Fachgeschäfte geschlossen.

Sein Geschäft hat Hochkonjunktur – vor allem, seit der deutsche Modehandel andauernde Unterkonjunktur hat. Fast jeden Tag käme momentan ein neuer Auftrag rein, sagt Sigg. Ein Sportgeschäft in Stuttgart, ein Modegeschäft in Bremerhaven, dann ein Fachgeschäft in Zittau. Es sind Ladeninhaber wie die Kauderers, die sich bei ihm melden und am Ende noch mal Kasse machen wollen. Oder besser: machen müssen, um Rechnungen zu bezahlen, einen Neustart zu wagen, sich in den Ruhestand zu verabschieden.

Krise als Geschäftsmodell

Auf breiter Front brachen im vergangenen Jahr die Umsätze ein, mussten Modeunternehmen ihre Prognosen kappen und ihre Bestände mit hohen Rabatten in den Markt drücken. „Es ist zu befürchten“, sagte Steffen Jost, Präsident des Handelsverbands Textil, neulich, dass „sich dies negativ auf die Renditen auswirkt und zu vermehrten Geschäftsschließungen führt“.

Tatsächlich hat sich die Zahl der Modeeinzelhändler seit der Jahrtausendwende bereits nahezu halbiert. Zuletzt erwischte es die Damenmodekette Gerry Weber, die Insolvenz anmelden musste. Beim gerade neu formierten Warenhauskonzern Karstadt-Kaufhof steht der Abbau von 2600 Vollzeitjobs ins Haus. Und das sind nur die bundesweit bekannten Fälle.

Fast täglich erwischt es lokale Händler wie das Bottroper Traditionskaufhaus Moses, die schwäbische Modehandelskette AWG oder eben die Kauderers in Markdorf, die rechtzeitig vor einer Insolvenz die Reißleine ziehen und das defizitäre Geschäft aufgeben.

Der Schlussverkauf – er ist weit mehr als ein Einzelphänomen, sondern längst Synonym für den Zustand einer ganzen Branche.

Dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, wurde Alexander Kauderer schon im letzten Frühjahr klar. Sein kombiniertes Mode- und Sportgeschäft in einem Einkaufszentrum in der Innenstadt lief immer schlechter, schrieb immer höhere Verluste. Irgendwann empfahl ihm sein Steuerberater, einen Schlussstrich zu ziehen. Kauderer sprach mit seinem Einkaufsverband und bekam den Hinweis, sich an einen professionellen Ausverkaufsberater zu wenden. Einen wie Steffen Sigg.

Rabattstratege: Berater Sigg hat mehr als 900 Ausverkäufe dirigiert, momentan hat er Hochkonjunktur. Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche

Schon Wochen bevor der Umbau startet, studiert Sigg Grundrisse und Verkaufszahlen, unterteilt den Warenbestand im Geist schon in Untergruppen. Vor Ort fährt er seinen Laptop hoch und trommelt die Mitarbeiterinnen vor dem Kassentisch zusammen. Seit Monaten wissen sie, dass ihr Laden schließen wird. Anfangs gab es Tränen. Inzwischen haben sie den Schock überwunden. Aufgekratzt mustern sie den Mann mit der dunkel gerahmten Brille. Sigg trägt Jeans, unter seinem grauen Tommy-Hilfiger-Pullover schaut der Kragen eines rot-weiß karierten Hemdes hervor. Er dreht den Laptopbildschirm zu den Frauen und erklärt mit ruhiger Stimme das Ziel der Mission: „maximale Umsätze und Erträge“. Dafür muss es „an der Kasse flutschen“. „Geht bitte nicht mehr ans Telefon“, sagt Sigg. „Tauscht keine Ware um“ und „verpackt keine Geschenke mehr“. „Gott sei Dank“, flüstert eine junge Mitarbeiterin. Statt um Service gehe es nun um Tempo – und darum, dass der Laden nicht im Chaos versinkt.

20 Prozent auf alles

„Mit steigendem Rabatt sinkt tendenziell leider auch das Niveau der Kunden“, sagt Sigg. Teils führten sie sich auf „wie die Wildschweine“, würden Ware vom Bügel reißen, Preisetiketten vertauschen und um höhere Rabatte feilschen. Er habe Käufer erlebt, die hätten bei den XXL-Hemden zugeschlagen, obwohl sie kaum 50 Kilo wogen. Irgendetwas passiere da im Kopf, ist er sich sicher, „Rabatte wirken wie Kokain“. Die Frauen kichern. Sigg meint es ernst.

Als der Laden drei Tage später öffnet, ist das Geschäft nicht wiederzuerkennen. Die Schaufenster sind zugepflastert mit Plakaten: „Alles ist reduziert!“, ist darauf zu lesen. „Totalräumungsverkauf – wir schließen!“. Oder schlicht: „%“.

Kleidung, Schuhe und Sportartikel hängen jetzt an den Metallstäben, zusätzliche Umkleidekabinen stehen bereit. Vor der Kasse hat Sigg eine textile Quengelzone aufbauen lassen. Statt Schokoriegeln und Kaugummis wie im Supermarkt gibt es dort „Socken und andere Basics, die man immer braucht“. Überall im Geschäft werben leuchtend rote Fähnchen mit dem Schlachtruf: „Alles muss raus“.

Wie einst bei der Baumarktkette Praktiker gibt es zum Start „20 Prozent auf alles“. Bei Produkten, auf denen Sterne oder Smileys pappen, sind es 30 und 50 Prozent Rabatt. Sie werden am Anfang nur vereinzelt eingesetzt. Denn in der Startphase gehe es nicht darum, den Laden leer zu bekommen, sondern darum, „dass Ertragspotenzial auszuschöpfen“, sagt Sigg.

Im Vorfeld hat er Kauderer gebeten, bei seinen Lieferanten noch zusätzliche Ware zu bestellen. Hoodies, Socken, Wanderschuhe, selbst Reisekoffer werden in rauen Mengen angekarrt. Sigg will die Aufmerksamkeit für den Ausverkauf nutzen, um den Umsatz nach oben zu treiben.

Artikel, die gut laufen, werden so lange nachbestellt, bis der Absatz bröckelt. Erst wenn der Kundenansturm nachlässt, zündet er die nächste Rabattstufe, erhöht den Basisabschlag auf 30 Prozent, gibt auf einzelne Artikel 40 oder 50 Prozent Nachlass und lockt damit neue Schnäppchenjäger. Dann kommt 40/50/60. Der Zeitpunkt hängt von den Verkaufszahlen ab. „Rabatte brauchen eine Dramaturgie“, sagt Sigg.

Immer tiefer würden die Preise sinken. Aber erst zwei, drei Tage bevor der Laden tatsächlich geräumt werden muss, touchiert er schließlich die 70-Prozent-Marke.

Schon zum Start herrscht ein Andrang, wie ihn die Kauderers lange nicht erlebt haben. Stammkäufer schauen rein, bedauern, dass der Laden schließt und greifen beherzt zu. Kunden, die bislang bei der Konkurrenz shoppten, stöbern sich durch die Angebote. Jacken, Socken, Fußbälle sind die Renner.

Aus der Mode gekommenZahl der Unternehmen im Bekleidungshandel in Deutschland (in Tausend)Quelle: Statistisches Bundesamt

Als Alexander Kauderer und seine Mutter Evelyne am Abend hinten in dem zugestellten kleinen Ladenbüro die Abrechnung machen, haben sie mehr als den zehnfachen Umsatz eines normalen Verkaufstags eingenommen. Ein Rekord, der selbst die Einnahmen in Stoßzeiten vor Ostern und Weihnachten und an verkaufsoffenen Sonntagen in den Schatten stellt. Kauderer registriert die Zahlen, ist erleichtert, gleichzeitig enttäuscht: Hätten die Kunden nicht früher kommen können?

2013 hatte er den Sportladen eröffnet, später die Fläche nebenan übernommen und dort seinen Modeladen einquartiert. Doch irgendwann riss der Kundenstrom ab. Warum? Kauderer überlegt kurz: Den Onlinehandel habe er unterschätzt, Preiskämpfe und das Wetter hätten eine Rolle gespielt. Es ist der Mix aus strukturellem Ungemach und schlichtem Händlerpech, den zuletzt die gesamte Branche zu spüren bekam.

Der lange und heiße Sommer kostete Umsatz. Billiganbieter wie die irische Modekette Primark erobern die deutschen Einkaufsstraßen und erschüttern das Preisgefüge. Onlineplayer befeuern den Kampf um Kundschaft. Die großen Anbieter reagierten zwar und zogen eigene Webshops hoch, vernachlässigten dabei aber ihr Kerngeschäft.

„Der Onlinefokus allein reicht nicht aus“, sagt Christian Gerloff, die stationären Anbieter müssten wieder stärker in ihre Läden investieren. Gerloff war als Insolvenzverwalter und Sanierer bei Krisenfirmen wie Escada, Laurèl und Wöhrl im Einsatz. Seit vergangener Woche ist er auch bei Gerry Weber an Bord. Viele Händler seien „nicht mehr in der Lage, Begehrlichkeiten zu wecken“ oder schnell genug auf neue Trends zu reagieren. „Ein Großteil der Angebote ist austauschbar geworden“, konstatiert Gerloff.

Finaler Umsatzschub

Auch Niedrigpreisstratege Sigg sieht die Ladeninhaber in der Pflicht. Er vermisst „neue Ideen und die Bereitschaft, mal etwas auszuprobieren“. Warum, fragt er, ließen sich größere Modegeschäfte zum Beispiel nichts einfallen, um shoppingmüde Männer zu beschäftigen und ihre Frauen in Ruhe einkaufen zu lassen? Genervte Begleiter gelten schließlich als zentrales Verkaufshindernis. „Eine kleine Ecke im Geschäft, wo die Bundesliga im TV läuft, und die Sache wäre erledigt“, sagt Sigg. „Von den Händlern kommt da zu wenig.“

Aber auch er weiß, wie schwierig es in der Praxis ist, gegenzusteuern, wenn sich plötzlich die Gegebenheiten ändern. Sein Vater führte jahrelang selbst ein Glas-Porzellan-Fachgeschäft. Als die Kunden wegblieben, musste er schließen, startete einen Ausverkauf und war wohl selbst überrascht, wie gut es lief. Er spezialisierte sich auf Ausverkäufe. Später stieg der Sohn ein.

Als Sigg am Tag vor der Schließung noch einmal in Markdorf vorbeischaut, brummt der Laden. Im hinteren Teil stehen leere Kartons, die Metallstangen sind bereits abgebaut. Vorne hängen die verbliebenen Artikel, Fußballschuhe, Trekkinghosen, Fleece-Pullis und knallrote Werbetafeln schreien den Kunden entgegen: „70 Prozent auf restlos alles“.

Alles muss raus: Räumungsverkauf in einem Sport- und Modegeschäft in Markdorf am Bodensee Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche

Sigg nickt zufrieden. Viel Ware ist nicht mehr da. Insgesamt haben die Kauderers in der Ausverkaufsphase mehr Umsatz erzielt als sonst in einem halben Jahr.

Doch die letzten Tage seien hart gewesen, sagt Alexander Kauderer. Zwei Frauen hätten sich im Streit um die letzten Hosen fast geprügelt. Viele Kunden würden ihre Einkäufe auf den Verkaufstresen knallen und über die „hohen Preise“ stöhnen. Selbst ein Bekannter hätte sich bei ihm per WhatsApp gemeldet, um auszuloten, ob sich nicht doch noch ein paar Cent sparen lassen. „Ich hasse die 70-Prozent-Phase“, sagt sogar Sigg. Das Publikum verändere sich. „Alle Kunden kaufen nur noch den Rabatt, es geht nicht mehr um die Ware.“

Als der letzte Verkaufstag anbricht, überwiegt deshalb die Erleichterung. Schon kurz nach neun ist der Laden gut besucht. Eine Mutter probiert mit ihrer Tochter Schuhe an, „die sind zu groß“, stellt sie fest und packt sie trotzdem ein. Ein Rentnerpaar dreht vollbepackt mit Sportzeug Richtung Kasse ab. Neun Stunden geht es so. Dann schließt der Laden. Sigg ist zufrieden mit dem Ergebnis.

Als er die endgültigen Umsatzzahlen aus Markdorf bekommt, ist er schon unterwegs zum nächsten Einsatzort. Ein weiterer Ausverkauf beginnt.

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