China "Die Situation ist nicht gemütlich"

Dr. Stefan Oschmann, ist seit April 2016 Vorsitzender der Geschäftsleitung und CEO von Merck. Quelle: imago images

Für Pharmaunternehmen Merck wird China in den kommenden Jahren zum wichtigsten Markt. Vor Ort kämpft der Konzern mit der chinesischen Industriepolitik, die heimische Player bevorzugt. Unternehmenschef Stefan Oschmann glaubt trotzdem, dass man in Deutschland viel von dem ostasiatischen Land lernen kann.

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WirtschaftsWoche: Herr Oschmann, neben Ihren Festlichkeiten in Deutschland zum 350. Geburtstag von Merck haben Sie sich auch für eine große Feier in Shanghai entschieden. Warum ausgerechnet in China?
Stefan Oschmann: Wir sind ein Unternehmen, das einen sehr hohen Umsatzanteil in Asien macht. Asien war im vergangenen Jahr die größte Region für uns. Das hängt für uns vor alle mit der Display- und Elektronikindustrie zusammen, die hauptsächlich in Asien sitzt. Auch unser Life Science- und Health Care-Geschäft sind hier sehr stark. China ist zurzeit und auch in der vorhersehbaren Zukunft unser wichtigster Wachstumsmarkt. Ohne Frage und in allen Geschäften. Wir sind hier stark integriert und machen auch Forschung und Entwicklung speziell für den chinesischen Markt und darüber hinaus. Viele unser Produkte sind gar nicht für den Endkunden gedacht, sondern für chinesische Kunden, die dadurch konkurrenzfähiger auf dem Weltmarkt sind.

China versucht, sich von ausländischen Produzenten unabhängiger zu machen. Beispielsweise in der Chipindustrie. Spüren Sie das hier heimische Hersteller heranwachsen, die Ihnen gefährlich werden könnten?
Die Display- und Chiphersteller sind unsere Kunden. Aber es gibt Konkurrenz bei den Materialien, wie wir zum Beispiel bei den Flüssigkristallen zu spüren bekommen. Aber wir glauben, dass wir weiterhin konkurrenzfähig sein werden. Wir müssen schauen, dass wir schneller und besser in der Forschung sind und Produkte entwickeln, die den Chip- oder Displayentwicklern ermöglichen, gegen andere Hersteller aus Korea und Japan konkurrenzfähig zu bleiben.
Die chinesische Konkurrenz profitiert auch von der aggressiven Industriepolitik Chinas unter dem Stichwort Made in China 2025. Was bedeutet das für Merck?
Wir profitieren teilweise von dieser Politik und teilweise ist es eine Bedrohung. Wir profitieren von den Firmen, die wachsen wollen, und dafür unsere Produkte verwenden. Wir haben dann Schwierigkeiten, wenn chinesische Firmen ähnliche Produkte herstellen wie wir. Das hält sich ungefähr die Waage. Wir versuchen nicht nur unsere Produkte in Deutschland und in den USA herzustellen und hier zu verkaufen. Wir müssen Teil dieses Innovations-Ökosystems werden. Dafür müssen wir uns sehr eng mit chinesischen Firmen und anderen Akteuren verpartnern. Die Situation ist nicht gemütlich. Aber wenn wir das richtigmachen, dann werden wir in diesem Umfeld erfolgreich sein können.

In Branchen wie der Pharmazie schreiben die chinesischen Lokalregierungen zum Teil vor, dass Krankenhäuser beim Kauf von Medikamenten bestimmte Quoten für heimische Hersteller einhalten müssen. Inwiefern ist das ein Problem für Sie?
Das ist im pharmazeutischen Bereich nichts Neues. Das kennen wir von anderen Ländern auch. Wir haben eine sehr große Produktion in Nantong, wo wir zwei Fabriken aufgebaut haben. Mit unseren Medikamenten im Diabetes- und im Bluthochdruckbereich sowie bei Schilddrüsenerklärungen sind wir auf der so genannten Liste für essentielle Arzneimittel. Das heißt, diese Produkte werden automatisch von der Regierung erstattet. Wir haben aber Probleme bei der Zulassung von neuen Medikamenten gesehen. Da sind die chinesischen Behörden langsamer als andere.
Sie sind bei ausländischen Herstellern besonders langsam.
Auch das ist richtig. Da gibt es eine Zwei-Klassen-Medizin. Aber die chinesische Regierung ist der internationalen Behörde für die Zulassung beigetreten. Und wir sehen da signifikanten Fortschritt. Was auch wichtig ist, die chinesische Regierung macht sehr viel im Bereich des Patentschutzes. China will selbst exportieren und deshalb ist der Patentschutz jetzt auf einmal auch für China sehr wichtig.
Zwischen den Zeilen sagen Sie, dass die Kosten hoch sind, in China zu sein. Aber dass es sich gleichzeitig unterm Strich auch lohnt, weil der chinesische Markt zu wichtig ist, um nicht dabei zu sein.
Nicht nur zu wichtig. Hier entsteht auch viel Innovation. Wenn Sie hier leben, sehen Sie, wie viel digitaler China ist als Deutschland. Was die Menschen in China inzwischen mit dem Messenger WeChat oder mit Alibaba alles machen, da können wir Deutschen uns nur wundern. Speziell im digitalen Bereich, der immer wichtiger für uns wird, können wir von den Chinesen lernen.

"Ich persönlich glaube, dass ethische Standards absolut sind"

Chinesische Unternehmen wie Ihr neuer Kooperationspartner Alibaba Health profitieren davon, dass in China Daten in einem Umfang gesammelt werden können, wie es in Deutschland nie erlaubt wäre. Angela Merkel hat sich bei ihrer letzten China-Reise so ein Start-up aus der Gesundheitsbranche angesehen und ist da eher rückwärts wieder rausgegangen. Wie sehen Sie das?
Das bezieht sich wohl eher auf dem Bereich der gesellschaftlichen Überwachung. Das ist ein Bereich mit dem wir nichts direkt zu tun haben und auch nicht wollen. Im Gesundheitsbereich gibt es in Deutschland, der EU und in den USA sehr klare Vorschriften und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich China anders entwickeln wird. Patientendaten müssen einerseits geschützt werden. Andererseits müssen sie genutzt werden können. Denn wir können unglaublich viel erreichen an medizinischen Fortschritt, wenn wir das klug machen.

Sie sind gerade eine Kooperation mit der Shanghaier Tongji-Universität eingegangen, so dass diese auf ihre Datenbank für die Präzision-Genom-Editierung zugreifen darf.
Präzision-Genom-Editierung erlaubt eine Art Ingenieursansatz in der Biologie. Man kann das Genom wirklich wie geplant beeinflussen. Das birgt einerseits ganz große Möglichkeiten. Diese liegen in der Grundlagenforschung, um Krankheiten besser zu verstehen. Es gibt aber auch Gefahren, weil man mit solchen Technologien an die Menschenoptimierung herangehen kann. Wir haben vor kurzem erst in einem wichtigen wirtschaftlichen Journal einen Artikel veröffentlicht, in dem unser Ethikbeirat definiert hat, was wir tun und was wir nicht tun.

In China gibt es viele Firmen, die in diesem Bereich Forschung betreiben. Die ethisch-moralischen Fragen bleiben dabei häufig auf der Strecke. Der Präsident des Shenzhener Genom-Instituts hat jüngst erklärt, er dulde nicht, dass seine Mitarbeiter behinderte Kinder zur Welt bringen würden, weil das eine „Schande“ für die Firma sei. Mitarbeiter werden gezwungen, sich auf mögliche Erbkrankheiten testen zu lassen. Eine Kooperation mit einer chinesischen Universität könnte problematisch gesehen werden.
Bei der Kooperation geht es um Grundlagenforschung. Das sehe ich als unproblematisch an. Wir sind oft in der Situation, dass die Technologien, die wir entwickeln und dann verkaufen, einen so genannten „dual purpose“ haben. Wir sind zum Beispiel ein großer Hersteller von Biotechnologieanlagen. Mit diesen kann ich Krebsmittel herstellen. Aber ich kann auch biologische Kampfstoffe herstellen. Da müssen wir aufpassen, dass wir unsere Kunden genaustens analysieren. Hundertprozentig können wir das nicht machen. Da gibt es immer wieder kleinere Probleme. Aber wir erwarten, dass unsere Kunden im Genom-Editierungsbereich unseren Ethikkanon unterschreiben.

Ein Pharma-Riese in Familienhand
Nachfahrin Renate KoehlerEine historische Engel-Figur mit dem Familienwappen und historische Bilder: Sie erinnern an die 350 Jahre lange Geschichte der größten Apotheke in Darmstadt. Friedrich Jakob Merck hatte 1668 mit der Übernahme der zweiten Hofapotheke die Keimzelle für den gleichnamigen Pharma- und Chemiekonzern gelegt. Der Dreißigjährige Krieg war da erst 20 Jahre vorüber. Heute steht die „Engel“-Apotheke im Merck-Haus am Luisenplatz im Darmstädter Zentrum. Sie ist nach wie vor in Hand der Familie - so wie Merck selbst. Inhaberin Renate Koehler, eine Nachfahrin von Friedrich Jakob in elfter Generation, plant schon die Nachfolge: „Es ist moralisch eine wichtige Sache, dass es in der Familie bleibt.“ Quelle: dpa
Die GeburtstagsfeierDiese Tradition spielt in Darmstadt eine besondere Rolle. Denn Merck liegt mit rund 70 Prozent der Aktien in Besitz der Merck-Familie. Über die E. Merck Kommanditgesellschaft kontrolliert sie den Konzern. Damit ist Merck im Leitindex Dax ein Sonderfall.Am Donnerstag feiert sich das Unternehmen selbst, zusammen mit rund 800 Gästen. Viele der 270 Familienmitglieder reisen an, auch Kanzlerin Angela Merkel schaut vorbei. Mit 350 Jahren ragt Merck selbst unter alten deutschen Wirtschaftsriesen wie BASF oder Siemens heraus. Quelle: imago images
Von kleiner Apotheke zum forschenden Industrieunternehmen Seit 1668 hat Merck viel überstanden, nicht zuletzt zwei Weltkriege. Heute hat der Konzern fast 53.000 Mitarbeiter weltweit und erzielt gut 15 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Er spielt im globalen Pharmakonzert mit, wenn auch nicht auf Augenhöhe mit den Branchenriesen aus der Schweiz oder den USA. Der Wandel von der kleinen Apotheke zum forschenden Industrieunternehmen habe sich mit dem wissenschaftlich gebildeten Emanuel Merck vollzogen, sagt Merck-Historikerin Sabine Bernschneider. Er legte 1827 für Ärzte, Chemiker und Apotheker eine Sammlung hochreiner Pflanzen-Alkaloide an - Naturstoff-Verbindungen mit medizinischer Wirkung. Sein Ziel: „Sie mit wenigen Kosten in den Stand (zu) setzen, Versuche anzustellen.“Im Bild: Ein Labor des Chemiekonzerns Merck in Darmstadt, 1920. Quelle: dpa
In die Welt hinausUm die Firma abzusichern, gründete Emanuel Merck mit seinen Söhnen 1850 die Gemeinschafts-Sozietät E. Merck mit mehreren Teilhabern - „im richtigen Moment die richtige Geschäftsidee“, so Bernschneider. Als Kaufmann, Apotheker und Chemiker führten die drei Brüder Merck gemeinsam. Schnell folgte die Expansion über Deutschland hinaus. Die Weltkriege aber warfen Merck zurück. So verlor der Konzern im Zuge des Ersten Weltkrieges seine US-Tochter. Als Merck & Co ist sie heute eigenständig und an der Wall Street notiert. Und 1944 wurden bei einem Luftangriff auf die Darmstädter Fabrik 60 Menschen getötet und fast 70 Prozent der Gebäude zerstört. Damals waren rund 3000 Leute, einschließlich 257 Zwangsarbeitern, in Darmstadt beschäftigt.Im Bild: Das Gelände des Chemiekonzerns Merck 1913. Quelle: dpa
Der Sprung in den DaxJahrzehnte später, 1995, gelang Merck der Aufstieg in den Dax per Börsengang. Mit 2,4 Milliarden D-Mark Volumen war er der bis dato größte Deutschlands. Die Familie trat die operative Führung ab, behielt aber die Kontrolle im Hintergrund. Wichtige Entscheidungen treffen seither andere. Merck kaufte etwa die Biotech-Firma Serono, den Spezialchemiekonzern Electronic Materials und den Laborausrüster Sigma-Aldrich. Allein Zukäufe seit 2007 kosteten 30 Milliarden Euro. Heute treibt Chef Stefan Oschmann den Umbau zum Wissenschaftskonzern voran. Als Arzneihersteller sieht sich Merck nicht mehr, selbst wenn die Sparte am meisten Umsatz bringt. Auch das Image soll moderner werden. Mit knalligen Farben will Merck die Marke aufpeppen. Und im neuen Innovationszentrum tüfteln Start-ups und Mitarbeiter an Ideen. Quelle: imago images
Gegenwärtige HerausforderungenDoch ausgerechnet im Jubiläumsjahr schwächelt Merck. 2018 werden leichte Rückgänge beim Betriebsergebnis erwartet. Im hochprofitablen Geschäft mit Flüssigkristallen etwa für Smartphone-Displays drückt die Konkurrenz aus China die Preise. Merck habe zu spät auf neue Wettbewerber reagiert, gab Frank Stangenberg-Haverkamp, Vorsitzender des Merck-Familienrats, zuletzt im „Manager Magazin“ zu. Zudem bringen alte Kassenschlager-Arzneien immer weniger Erlös. Große Hoffnungen liegen auf dem Mittel Avelumab, das das körpereigene Abwehrsystem stärken soll, um Krebszellen zu zerstören. Bei einem seltenen Hautkrebs und Blasenkrebs bekam es erste Zulassungen, scheiterte aber in anderen Tests. In der Pharmasparte ist Avelumab der einzige große Pfeil im Köcher von Merck - er muss sitzen. Quelle: dpa
Stefan OschmannIndes muss Merck für die angepeilte Wende 2019 Kompromisse machen. So verkaufte Merck-Chef Stefan Oschmann die rezeptfreien Arzneien an Procter & Gamble für 3,4 Milliarden Euro. Er braucht das Geld, um Schulden zu senken und teure Pharma-Blockbuster voranzutreiben: „Wir müssen unsere finanziellen Mittel genau einteilen.“ Zumal Merck für Enttäuschungen gewappnet sein muss, sollte Avelumab in weiteren Studien scheitern. Rückschläge allerdings hat Merck schon viele bewältigt, auch in der Apotheke von einst. Sie wurde im Bombenhagel 1944 weitgehend zerstört, sie soll nun in zwölfter Generation in der Merck-Familie bleiben. Koehlers Nichten könnten in einigen Jahren die neuen Chefinnen sein. Dann kämen die nächsten Mercks zum Zug. Quelle: REUTERS

In der EU und Deutschland gibt es Ethikräte und es entstehen ethische Werte durch die Zivilgesellschaft. In China werden solche ethische Standards durch die chinesische Regierung vorgeben. Setzen Sie sich damit auseinander, wie ethische Grundsätze dort entstehen und genutzt werden?
Wir haben bioethische Beratungsgremien, mit denen wir uns gemeinsam Trends anschauen und diskutieren. In der Arzneimittelforschung sehe ich dieses Problem in China nicht. Die Standards für die Ethikkommissionen sind international festgelegt. Da geht es um den Schutz der Patienten. Zum Beispiel die Frage, wie man bei psychisch Kranken Forschung betreiben kann. Wie kann dieser mitentscheiden, ob eine neue Therapie an ihm getestet werden darf. Das sind ganz praktisch Fragen. Da hat China durch den Beitritt in den International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use (ICH) auch die gleichen Standards unterschrieben, wie wir sie in den USA und der EU haben.

Ihre Antwort impliziert aber auch, dass Sie in anderen Bereichen Probleme sehen.
Es gibt eine große gesellschaftliche Diskussion, ob ethische Ansätze absolut oder relativ sind. Sind sie kulturell oder politisch bedingt. Da wundert es mich manchmal, was Bekannte so sagen. Egal, ob sie links sind oder konservativ eingestellt. Ich persönlich glaube, dass ethische Standards absolut sind und dass Menschenrechte für alle Menschen auf der Welt gleich gelten sollen. China hat in vielen Bereichen andere Ansätze als wir. Aber den Chinesen lebensrettende Arzneimittel vorzuenthalten, hilft da auch nicht.

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