Corona-Schutzmaßnahmen Streit um Videoüberwachung bei Amazon

Amazon in Bad Hersfeld. Quelle: IMAGO

Temperaturmessungen zu Schichtbeginn und Videoüberwachung, um Abstandsregeln zu kontrollieren: So will Amazon seine Mitarbeiter vor Covid-19 schützen. Doch Mitarbeiter fürchten Missbrauch – und ziehen vor Gericht.

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Am Dienstag vor zwei Wochen zeigte das Infrarotthermometer nur 32,4 Grad Celsius. „Das taugt nichts“, sagt Thomas Krämer, Mitarbeiter im Lager des Onlinehändlers Amazon in Bad Hersfeld. Aus medizinischer Perspektive hätte Krämer mit einer so niedrigen Temperatur kurz vor dem Kältetod stehen müssen. Doch die Kontrolleure zeigten sich wenig beunruhigt, sie winkten Thomas Krämer einfach durch, damit er seine Schicht im Lager antreten konnte. Wäre seine Temperatur zu hoch gewesen, hätten sie ihn wohl gestoppt.

Thomas Krämer will seinen wahren Namen nicht nennen. Er fürchtet negative Folgen, wenn er seinen Arbeitgeber öffentlich kritisiert. Ob und wie gut Amazon seine Mitarbeiter schützt, ist für den Konzern zu einer sensiblen Frage geworden.

Amazon gilt als Gewinner der Coronakrise. Weil mehr Menschen zuhause bleiben und in vielen Ländern Geschäfte geschlossen sind, gibt es mehr Onlinebestellungen. Der Aktienkurs stieg seit Beginn der Krise um mehr als 20 Prozent an. In den USA will Amazon rund 175.000 zusätzliche Mitarbeiter einstellen, um den Ansturm zu bewältigen. Nur bleibt dabei die Frage: Wie will Amazon all seine Beschäftigten vor dem Coronavirus schützen?

In den USA kündigte Amazon einem Mitarbeiter, der den Konzern wegen fehlender Schutzausrüstung kritisiert hatte. An 130 Standorten sollen dort bereits Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt seien, berichtet die Arbeiterorganisation „United for Respect“. Hunderte Angestellte wollen sich krank melden und so gegen die Schutzmaßnahmen des Konzerns protestieren. In Frankreich zwang ein Gerichtsurteil Amazon dazu, den Betrieb in seinen Lagern für fünf Tage zu stoppen – auch dort hatte Amazon aus Sicht des Gerichts seine Mitarbeiter nicht genügend geschützt.

von Jacqueline Goebel, Max Haerder, Henryk Hielscher, Matthias Hohensee

In Deutschland gibt es bisher weder Streiks noch Proteste. Erst von einem Standort sei bekannt, dass dort Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt seien, heißt es bei der Gewerkschaft Verdi. Hierzulande dreht sich die Diskussion um eine andere Frage: Welche Grenzen überschreitet Amazon, um die Schutzmaßnahmen durchzusetzen?

Nach Informationen der WirtschaftsWoche hat Amazon nicht nur in Bad Hersfeld Temperaturkontrollen eingeführt, sondern bundesweit. „Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme haben wir Temperaturmessungen beim Betreten unserer Logistikgebäude eingeführt“, bestätigt der Konzern. Mit Infrarotthermometern oder Wärmebildkameras will der Konzern die Temperatur seiner Mitarbeiter bei Schichtbeginn überprüfen.

Im Lager gelten strenge Abstandsregeln. Mitarbeiter sollen zwei Meter Entfernung einhalten, in den Pausenräumen und in der Kantine wurden dafür Möbel und Stühle verrückt. Mit Hilfe von Videokameras will Amazon außerdem überwachen, ob die Abstandsregeln eingehalten werden oder ob Prozesse verbessert werden müssen.

Bei den Mitarbeitern sorgt das für Unruhe. Schon lange gibt es Kameras in den Lagern, sie sollen zum Beispiel Förderbänder kontrollieren und Paketstaus melden. Auch die öffentlichen Räume und Arbeitsplätze werden per Videokamera überwacht. Nach einem Softwareupdate sollen diese Kameras nun auch erkennen können, ob sich Mitarbeiter versammeln oder gegen die Distanzregeln verstoßen. Man habe „einige unserer besten Experten für maschinelles Lernen damit beauftragt, Möglichkeiten zur weiteren Verbesserung der Sicherheitsabstände in unseren Gebäuden zu prüfen“, erklärt Amazon offiziell.

Arbeitsgericht Wesel: Amazon verletzt Mitbestimmungsrechte

Die Gewerkschaft Verdi kritisiert die Videoüberwachung der Schutzmaßnahmen: „Jetzt soll die Krise genutzt werden, um die Überwachung der Beschäftigten auszudehnen“, so eine Sprecherin. „Eine Videoüberwachung am Arbeitsplatz bei Amazon lehnen wir ab.“

Der Betriebsrat des Standort Rheinberg in Nordrhein-Westfalen beantragte eine einstweilige Verfügung gegen die Videoüberwachung. Das zuständige Arbeitsgericht Wesel gab dem Antrag auf Unterlassung nun teilweise Recht. „Der Arbeitgeber kontrolliert anhand Bildaufnahmen der Arbeitnehmer die Einhaltung der im Rahmen der Corona-Pandemie empfohlenen Sicherheitsabstände“, erklärte das Gericht in einer offiziellen Mitteilungen. Die Aufnahmen aus dem Betrieb würden auf Servern im Ausland mittels einer Software anonymisiert. Die Übermittlung der Daten ins Ausland widerspreche jedoch einer geltenden Betriebsvereinbarung.

Außerdem hatte der Konzern den Betriebsrat lediglich über das Softwareupdate der Kameras informiert – der Betriebsrat hätte dem aber zustimmen müssen, hatte die Gewerkschaft Verdi kritisiert. Auch das Arbeitsgericht Wesel sah deshalb die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats verletzt.

Noch ist der Beschluss des Arbeitsgerichts allerdings nicht rechtskräftig. „Wir werden die Entscheidung des Arbeitsgerichts Wesel sorgfältig prüfen“, erklärte ein Sprecher von Amazon auf Anfrage der WirtschaftsWoche. Das Unternehmen könnte gegen den Beschluss noch Rechtsmittel einlegen.

Doch für die Mitarbeiter von Amazon ist das Urteil bereits ein großer Sieg. Auch wenn das Gericht nur die Situation am Standort Rheinberg beurteilt, so gibt es auch an den anderen Standorten ähnliche Betriebsvereinbarungen zu Datenschutz. Die Betriebsräte der anderen Lager können sich nun auf das Urteil berufen.

Wer arbeitet, bekommt zwei Euro mehr pro Stunde

Und auch gegen die Temperaturmessungen gibt es vereinzelt Widerstand. So finden am Standort Leipzig keine Temperaturkontrollen statt, weil der Betriebsrat das verhindert hat. An anderen Standorten hatten die Betriebsräte diesen Temperaturmessungen zugestimmt. In Bad Hersfeld hat ein Mitglied des Betriebsrats außerdem eine einstweilige Verfügung gegen die Temperaturkontrollen eingereicht, bestätigte das Arbeitsgericht Fulda auf Anfrage der WirtschaftsWoche. Nach Ansicht des Betriebsratsmitglieds stellt die Temperaturmessung eine Zutrittsbeschränkung dar und beschränke damit die Betriebsratsarbeit.

Amazon hingegen betont: „Die Gesundheit und das Wohlbefinden unserer Mitarbeiter hat für uns höchste Priorität.“ Man arbeite eng mit den Gesundheitsämtern zusammen und habe „die Wirksamkeit unserer Maßnahmen mehrfach bestätigt bekommen“, so ein Sprecher. So hätten Mitarbeiter des Gesundheitsamts Hamburg-Harburg die Maßnahmen im Lager in Winsen erst Anfang April inspiziert und hätten „keinerlei Anlass für Beanstandungen“ gesehen, so ein Sprecher.

Seinen Mitarbeitern in den Versandlagern zahlt Amazon aktuell zwei Euro zusätzlich zum Stundenlohn. Immerhin das sei eine gute Nachricht, findet Thomas Krämer. Im Lager in Bad Hersfeld freuen sich viele über den Bonus. 11,52 Euro bekommen Mitarbeiter hier, wenn sie im Lager anfangen. Nach zwei Jahren seien es 13,43 Euro, so Krämer. „Da machen zwei Euro viel aus.“ Allerdings zahlt Amazon den Coronabonus voraussichtlich nur bis Ende April – und auch nur pro geleistete Arbeitsstunde. Wer krank ist, sich um die Kinderbetreuung kümmern muss, oder aber zur Risikogruppe gehört und deshalb nicht arbeiten kann, der gehe leer aus. Der Coronabonus sei deshalb eine „Anwesenheitsprämie“, kritisiert Mechthild Middeke, Gewerkschaftssekretärin für Verdi in Hessen. „Das kann Mitarbeiter verleiten, krank zur Arbeit zu kommen.“

Ob die Infrarotthermometer und Wärmebildkameras diese kranken Mitarbeiter dann auch entdecken? Thomas Krämer jedenfalls glaubt nicht dran. Am vergangenen Montag bescheinigte ihm das Thermometer eine Temperatur von 35 Grad Celsius.


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