Direktvertrieb Wenn die Vertreter an der Haustür nie mehr klingeln

Den klassischen Haustürvertreter gibt es in Deutschland so gut wie nicht mehr. Nur Gabriele Zießler macht einfach weiter. Einblicke in einen aussterbenden Beruf.

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Handel: Gabriele Zießler ist eine der letzten klassischen Haustürvertreterinnen Deutschlands. Quelle: Gerald von Foris für WirtschaftsWoche

Wenn ihr eine Kundin fremdgeht, erkennt Gabriele Zießler das sofort. In sauberer Handschrift notiert sie nach jedem Besuch auf ihre hellbraunen Karteikarten: wann zuletzt bestellt wurde, welche Menge und wann demzufolge die nächste Bestellung fällig sein müsste. „Ich weiß ja, wie groß die Familien sind und wie viel die waschen“, sagt sie. Das Paar aus der Neubausiedlung, das weder Sport noch körperliche Arbeit macht, müsste noch genug haben. Bei den Nachbarn aber spielen alle Kinder Fußball und bringen dreckige Trikots nach Hause, das Mikrofaser-Waschmittel müsste aufgebraucht sein. Kommt heute keine Nachbestellung, wurde woanders gekauft.

Zießler hat die Karteikarten hinter den Schalthebel ihres Autos geklemmt. Auf dem Rücksitz steht ein schwarzer Korb, etwa so groß wie ein Bauchladen. Darin hat sie rund 20 Flaschen, Tuben und Tigel verstaut. Die 54-Jährige verkauft an niederbayrischen Haustüren so ziemlich alles, was das Leben sauberer macht: Spülschwämme für Gläser, Putzmittel für Parkettböden, Waschmittel für schwarze Kleidung. Die Produkte stammen von der Firma Haka. Der schwäbische Mittelständler vertreibt rund 150 Reinigungsprodukte fast ausschließlich über Vertreter an der Haustür.

Damit ist Zießler das Gegenmodell zum modernen Einkauf: Wer schnell und bequem etwas haben möchte, kauft im Internet; wer das Besondere sucht, geht in den Fachhandel. Nur an der Haustür, da möchte niemand mehr kaufen. Zumindest nicht von Vertrieblern, die ohne Voranmeldung mal vorbeischauen. Den klassischen Staubsaugervertreter, der in deutsche Wohngebiete einfiel und so das Berufsbild des klinkenputzenden Verkäufers seit der Wirtschaftswunderzeit prägte, gibt es nicht mehr, vermeldete der Bundesverband Direktvertrieb gerade. Vorwerk, einst so sehr Vorreiter dieser Vertriebsmasche, dass Loriot deren Staubsaugervertreter in einem Sketch verewigte („Es saugt und bläst der Heinzelmann ...“), setzt auf Beratungstermine, Tupperware veranstaltet nur noch Partys in den Wohnungen von Kunden, und auch Versicherungsagenten kommen nicht mehr unangekündigt. Nur sechs Prozent der deutschen Vertriebler klingeln noch ohne Vorwarnung.

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Jedes Haushaltsproblem wird zum Geschäft

Gabriele Zießlers Revier liegt in Niederbayern, einem Landstrich, wo die Dörfer nur ein paar Hundert Einwohner haben, das Dirndl eine Alltagsrobe ist und in der Bäckerei für Kaffee ‚zum miadnehma‘ geworben wird. Auch wenn Zießler unterwegs ist, gibt es ‚koa andiri Sproach‘ als Niederbayrisch. Die Frau mit der hellen, betonten Stimme streut immer mal wieder ein Lachen in ihre Sätze; sie ist es gewohnt, viel zu reden. Viele hier kennen sie als die „Waschmittel-Fra“.

Die Buchsbäume sind rund geschnitten, der Gartenzaun frisch lasiert, die Rasenhöhe gleichmäßig getrimmt. Die Vertreterin klingelt, richtet den Rücken gerade und betrachtet beim Warten das Holzherz an der Tür, auf dem „Carpe Diem“ steht. Als eine Frau Mitte 40 öffnet, erhellt sich deren Gesicht. „Grias di!“, ruft sie Zießler entgegen. Mit den meisten ist sie nach zehn Jahren Hausbesuchen längst per Du.

Beraterin für alles

Die beiden gehen ins Wohnzimmer. Zießler kennt die Familie schon lange, doch immer wieder gibt es neue Herausforderungen. Die Kundin verschwindet für eine paar Minuten und kommt mit zwei langen, schwarzen Überzügen für Stiefel wieder. „Riech mal!“, sagt sie. Die Verkäuferin beugt sich über den Tisch, hält die Nase darüber, zieht zweimal kurz Luft ein und nickt dann wissend: Reitstall. „Die wäschst du am besten mit einem Silbertuch und sprühst sie dann mit unserem Geruchsentferner ein“, sagt sie und seufzt. Sie habe ja selbst ein Pferd und kenne das Thema gut.

„Jeder hat ein Problem im Haushalt. Ich muss nur herausfinden, welches“, sagt sie. Für viele ist sie eine Beraterin für alles. Die Kundin ruft ihre elfjährige Tochter herbei. Das Kind steht etwas ratlos vor den beiden Frauen, als ihre Mutter an ihrer Schulter das T-Shirt leicht zur Seite schiebt. Die Kleine habe hier so empfindliche Haut. Zießler betrachtet die gerötete Hautpartie und empfiehlt ein spezielles Duschgel aus ihrem Sortiment, extra sensitiv.

Vergangene Woche hat sich eine Kundin bis auf die Unterhose vor ihr ausgezogen, damit sie das Kühlmittel direkt am Rücken testen kann. Andere schreiben ihr abends SMS und fragen, welches Hausmittel gegen Zecken hilft. Und einige erzählen ihr nicht nur von Grasflecken, sondern auch von der Krise mit dem Ehepartner. „Alles muss im Haus bleiben, das ist extrem wichtig in meinem Beruf. Gerade hier, wo sich alle kennen“, sagt sie.

So plaudern die beiden Frauen eine Dreiviertelstunde lang. Schließlich klopft die Beraterin mit ihren Fäusten auf den Tisch, als ob es nun an die Arbeit ginge. Zießler legt ein Durchdruckpapier unter den Bestellschein und schreibt: Fleckenentferner, Silbertuch, Sonnencreme, Schwarzwaschmittel, Geruchsentferner. „Danke, dass ich hier sein durfte, Lieferung müsste nächste Woche da sein, bis zum nächsten Mal“, sagt sie, während sie ihren Korb wieder einräumt.

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Eine Arbeit für Nebenberufler

An guten Tagen macht sie rund 500 Euro Umsatz, von denen sie knapp ein Fünftel behalten darf. Doch das Geschäft ist schwieriger geworden. Zwar geben die Deutschen jährlich mehr als 16 Milliarden Euro bei Verkaufsgesprächen in ihren Wohnzimmern aus, das meiste jedoch auf Produktpartys oder bei vorab vereinbarten Gesprächen. Immer mehr Kunden sind berufstätig.

Ihnen wirft sie einen Katalog in den Briefkasten und ruft sie abends von zu Hause an. Zießlers Mann ist Versicherungsvertreter, die beiden wissen, wann sie wen am besten erreichen. Doch insgesamt, das ist Zießler bewusst, arbeitet sie in einem Krisengewerbe. 839.000 Menschen sind in Deutschland als Vertreter unterwegs, aber nur noch ein Drittel davon macht das hauptberuflich.

Zießler fährt auf den Hof eines Bauernhauses. Eine ältere Frau mit weißen Locken und pinkgemusterter Kittelschürze öffnet. Es ist kurz nach zwölf, auf der Anrichte steht ein Braten, daneben eine gusseiserne Schale mit Kartoffeln. Doch als sich Zießler auf die Eckbank unter das Kruzifix setzt, ist klar, dass es nicht lange dauern wird. Die Frau diktiert: „Ich brauche einen Reserve-Eimer Schmierseife und zwei Liter Essigreiniger.“ Schmierseife gehört zu Zießlers Topsellern. Gäbe es sie nicht, wäre es für viele Kunden schwierig, an Putzmittel zu kommen. Die Kundin schaut aus dem Fenster und sagt: „Früher gab es hier alles: Metzger, Bäcker und eine Bank. Heute hat alles zu.“

Zießler tätschelt ihr den Arm. Dann schreibt sie die Bestellung auf, und weiter geht’s. Schließlich liegen hinter dem Schalthebel noch zehn Karteikarten. Doch an manchen Tagen hält sie vor Häusern, zu denen es noch keine Karte gibt. Wenn sich herumgesprochen hat, dass jemand „zuagezogen“ ist. Das ist vor allem vielversprechend, wenn sie im Garten Rutsche oder Schaukel entdeckt, Hinweise auf eine neue Familie im Dorf. Und Familien waschen viel.

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