Einzelhandel Die Revolution im Handel beginnt im Kleinen: mit Geistershops in Kioskgröße

Roboshops und die Bürokratie in Deutschland: Josefs Nahkauf Box. Quelle: PR

Kein Geld, keine Kassen, keine Verkäuferinnen? Viele Handelskonzerne testen Hightechläden nach dem Vorbild von Amazon Go. Doch bis die sich durchsetzen, dürften Jahre vergehen. Aussichtsreicher ist ein anderes Konzept.

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Die Handelsrevolution im oberfränkischen Pettstadt begann mit Hindernissen: In der 2000 Einwohner zählenden Gemeinde wollte der Rewe-Kaufmann Josef Sier vor ein paar Wochen einen vollautomatisierten Minisupermarkt eröffnen und 700 Artikel vom Apfel bis zur Zahnbürste verkaufen – ganz ohne Personal. Der Einkauf muss von den Kunden an einer Self-Check-out-Kasse selbstständig gescannt und per EC- oder Kreditkarte bezahlt werden. Die Öffnungszeiten: „24/7“. Also 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche – so war es jedenfalls geplant.

Allein, die Bürokratie spielte bei „Josefs Nahkauf-Box“ zunächst nicht mit. An Sonn- und Feiertagen sollte das 39-Quadratmeter-große Geschäft geschlossen bleiben, verlangte das bayerische „Gesetz zum Schutz der Sonn- und Feiertage“. Schutzregeln für einen Automaten-Shop ohne Personal? 

„Mit einer Sondergenehmigung der Gemeinde konnten wir am Ende dann doch die 24/7-Öffnung des Marktes realisieren“, sagt Sier. Doch das Beispiel zeigt, dass es für Hightechläden, die ohne Personal und Kassen auskommen, in Deutschland wohl noch ein weiter Weg ist. 

Das erwartet auch Rewe-Chef Lionel Souque. „Prinzipiell ist die Idee gut“, sagt Souque im Podcast „Chefgespräch“ mit WirtschaftsWoche-Chefredakteur Beat Balzli. Die meisten Verbraucher hätten schließlich „keinen Bock, an der Kasse 15 Minuten zu warten“, ihre Waren aufs Band zu packen und sie anschließend wieder in den Einkaufswagen zu räumen. Einen „Kassensturz“ und den Siegeszug automatisierter Robo-Shops sieht er in den kommenden zehn Jahren dennoch nicht. Zum einen seien die Investitionen für solche technologisch hochgerüsteten Läden „extrem hoch“. Zum anderen habe Einkaufen für viele Menschen auch einen „sozialen Charakter“, die Shoppingabläufe sind so habitualisiert, dass Rewe wohl noch sehr lange Zeit auf klassische Kassen setzen werde, sagt Souque. 

Und trotzdem forciert auch der Kölner Handelsriese den Einsatz neuer Technik in seinen Läden. Der Konzern experimentiert mit unbemannten Automatenfilialen wie in Oberfranken, testet aber auch zwei komplett kassenlose Supermärkte. Und nicht nur Rewe erprobt die „Geistershops“. Überall im Handel wird derzeit nach Kräften automatisiert und algorithmisiert. 

Aus gutem Grund: Als der Onlineriese Amazon 2016 einen ersten kassenlosen Shop namens Amazon Go in Seattle eröffnete, versetzte das die Branche in Alarmstimmung. Überrascht registrierten Handelsmanager, dass sich die Amerikaner nach dem Onlinehandel wohl auch den stationären Markt vornehmen würden. Doch diesmal wollten sie das Feld nicht kampflos räumen.

Dabei hatte der Amazon-Markt anfangs mit allerlei Kinderkrankheiten zu kämpfen. Wenn mehr als 20 Kunden gleichzeitig im Laden waren, verlor die künstliche Intelligenz hinter dem Abrechnungssystem den Überblick. Der schlaue Laden wusste nicht mehr, ob Kunden entnommene Waren in den Einkaufskorb oder zurück ins Regal gelegt hatten.

Inzwischen läuft die Technik. Trotzdem hadert Amazon inzwischen mit dem Konzept. Der US-Onlineriese habe die Expansion des Formats in Großbritannien auf Eis gelegt, berichtete jüngst die „Sunday Times“. Grund dafür seien enttäuschende Verkaufszahlen in den bestehenden 19 kassenlosen Märkten, zu hohe Technologiekosten sowie schlechte Wirtschaftsaussichten. Schließlich würden die hohen Lebenshaltungskosten viele Briten zur Sparsamkeit zwingen.

51 Smart-Store-Konzepte in Deutschland

Amazons Expansionsstopp verschafft den deutschen Händlern Zeit, um eigene Technologien zu testen und weiterzuentwickeln. So hat der Discounter Aldi Nord im Sommer im niederländischen Utrecht eine Filiale eröffnet, die ohne Kassen auskommt und ähnlich wie Amazon Go funktioniert. Kunden müssen sich beim Betreten des Geschäfts per Smartphone-App einchecken, packen die gewünschten Artikel dann einfach ein und gehen wieder. Kameras, Sensoren und Computer erledigen den Rest, erfassen den Einkauf und ermöglichen die Zuordnung zum Kunden. Auch bezahlt wird via App. 

Vergleichbare Systeme verwenden Aldi Süd in einer Londoner Testfiliale und die Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) in Heilbronn. Und auch Rewe nutzt hunderte Sensoren und Kameras, um in einem „Pick & Go“ getauften Shop in Köln, die Laufwege der Kunden zu erfassen und zu messen, welche Produkte aus den Regalen entnommen oder wieder zurückgestellt werden. Eine Software analysiert die Daten und ordnet jedem Kunden den richtigen Warenkorb zu. 

In Köln funktioniert das bisher allerdings nur auf vergleichsweise kleiner Fläche und mit einer überschaubaren Anzahl von rund 2000 Produkten. Der nächste Schritt ist daher die Übertragung der Technik auf eine 400 Quadratmeter große Filiale mit rund 10.000 Produkten im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Rewe-Mitarbeiter können den kassenlosen Einkauf dort bereits ausprobieren. Voraussichtlich ab November beginnt dann der Live-Test mit externen Kunden, die im Markt ihre Lebensmittel zusammensammeln und anschließend an der Kasse vorbeispazieren.

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Deutschlandweit soll es mittlerweile 51 so genannte „Smart-Store“-Konzepte geben, berichten die Handelsforscher Stephan Rüschen und Julia Schumacher von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW). Allerdings handele es sich dabei ganz überwiegend nicht um Großprojekte wie in Berlin, sondern um Kleinflächenkonzepte, die ohne Personal auskommen. Automatenläden wie Josefs Nahkauf-Box zählen dazu, oder auch „Teo“, ein Ableger der hessischen Handelskette Tegut.

Auf gut 50 Quadratmetern gibt es in den Teo-Läden, alles was man im Notfall braucht: Käse, Pizza, Wurst, Kaffee und frisches Gemüse. Anders als in den Hightechläden von Amazon und Rewe müssen die Kunden aber ihre Einkäufe selber scannen. Bezahlt wird per App oder über einen Scanner. Alles unter den wachsamen Augen gut platzierter Kameras. 16 Teo-Geschäfte gibt es bereits.

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Und es sollen rasch mehr werden: „Ein Potenzial von bundesweit mehreren Hundert Standorten“, haben Manager der Handelskette ausgemacht. Auch der ehemalige Real-Chef Patrick Müller-Sarmiento gibt sich optimistisch: Im August hat er Hamburg den ersten kassenlosen Bio-Markt Deutschlands eröffnet. Bis zu sechs Kunden können laut Müller-Sarmiento in dem „Hoody“ genannten kleinen Markt mit rund 65 Quadratmeter Verkaufsfläche gleichzeitig shoppen. 

Klingt ganz so, als würde die große Handelsrevolution im Kleinen beginnen: mit Geistershops in Kioskgröße.

Hören Sie hier das Gespräch mit Rewe-Chef Lionel Souque im Podcast „Chefgespräch“.  

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