Einzelhandel in der Kleinstadt Das Rätsel des Dessousladens

Wie überlebt ein Einzelhändler in der Kleinstadt angesichts von Online-Riesen wie Amazon? Von den Antworten hängt ab, wie lebendig oder tot die Innenstädte bald sein werden. Eine Kommission hat nun Ergebnisse vorgelegt.

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Mit der Zahl von 50.000 Händler-Standorten, jedem zehnten, der bis zum Jahr 2020 verloren gehen dürfte, hat der Handelsverband Deutschland Alarm geschlagen. Quelle: dpa

Berlin Von „hochexklusiven Dessous“, die ein kleiner Laden in ihrem Wahlkreis verkauft, berichtet Brigitte Zypries. Lange habe sie sich gefragt, wie sich das Geschäft seit Jahren in einer Kleinstadt halten könne, erzählt die Bundeswirtschaftsministerin. Die Eigentümerin habe es ihr verraten. 70 Prozent des Umsatzes mache sie im Internet. Sonst hätte sie den Laden längst schließen müssen.

Dann wäre da vielleicht noch ein Nagelstudio, eine Spielhalle oder ein weiterer Handyladen eingezogen. „Das kann es nicht sein“, sagt Roland Schäfer, der Bürgermeister der Stadt Bergkamen im Ruhrgebiet ist und Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds. Es gehe nicht nur darum, eine vielfältigen Einzelhandel zu bewahren. „Wir machen uns Sorgen um die Grundversorgung.“

Das heißt: Eine Apotheke, ein Bäcker, ein Lebensmittelgeschäft – das aber ist auf dem Land immer häufiger nicht mehr da. Vor zwei Jahren hat das Wirtschaftsministerium deshalb eine „Dialogplattform Einzelhandel“ ins Leben gerufen. Die Experten haben ihre Ergebnisse am Dienstag bei einer Konferenz in Berlin vorgelegt.

Mit der Zahl von 50.000 Händler-Standorten, jedem zehnten, der bis zum Jahr 2020 verloren gehen dürfte, hat der Handelsverband Deutschland (HDE) zuvor Alarm geschlagen. Verdi-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger spricht von einem „Vernichtungswettbewerb im Handel“, der über Einkaufspreise, Verkaufsflächen, Öffnungszeiten und Löhne geführt werde.

Gelassener sieht es Günter Althaus, der Präsident des Zentralverbands Gewerblicher Verbundgruppen (ZGV): „Diese 50.000 verschwinden auch, weil sie völlig langweilige Geschäftsmodelle haben, die keine Mensch mehr braucht.“ Viele kleine und mittelständische Unternehmen müssten endlich die „Riesenchance“ erkennen, die ihnen das Internet biete, wenn sie zweigleisig fahren. Zudem müssten sie ihre Stärken ausspielen: „Fühlen, riechen, schmecken“ könnten die Kunden nur im Laden, nicht online.

Dennoch: Die Unternehmen werden getrieben vom Online-Branchenprimus Amazon, der mit seinem riesigen Sortiment fast überall Marktanteile gewinnt. Deshalb werden sich die Innenstädte weiter verändern. In einer im Mai veröffentlichten Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) heißt es, in wenigen Jahren stünden auch Geschäfte in guten Lagen leer. Der HDE glaubt deshalb, dass man in vielen Städten die Fußgängerzonen bewusst „gesundschrumpfen“ müsse, indem etwa Ladenzeilen zu Wohnungen verwandelt werden.


Warenhäuser wollen mehr verkaufsoffene Sonntage

Die Experten greifen das in ihrem Bericht als Beispiel auf. Leerstand müsse vorgebeugt werden, dazu sei eine gute Mischung des innerstädtischen Angebots von Einzelhandel, Gastronomie, Kultur und öffentlichen Institutionen wichtig. Konkreter werden die Experten hier nicht – es ist ein Kompromisspapier, an dem Handelsverbände, die Gewerkschaft Verdi, Städteplaner und Politiker mitgearbeitet haben.

Die zunehmende Marktmacht großer Internetplattformen ist auch der Hintergrund für den Vorstoß großer Warenhausunternehmen für mehr verkaufsoffene Sonntage, Karstadt, Kaufhof und andere fordern, die Ladenöffnung an mehr Sonntagen zu ermöglichen. Es gehe um Wettbewerbsgleichheit, denn der Sonntag sei einer der wichtigsten Einkaufstage im Internet.

Im Sinne der Einzelhandelsmitarbeiter und ihrer Familien wollen dies Gewerkschaften und Kirchen verhindern. In einigen Chefetagen großer Handelsketten wird zudem bezweifelt, dass sich sonntags Konsumenten in bedeutender Zahl vom heimischen Computer abwenden und in der Stadt einkaufen gehen.

Die Autoren der BBSR-Studie halten fest, die Händler müssten ihre Kunden dort „abholen“, wo sie gerade einkaufen wollten – sei es beim Einkaufsbummel in der Innenstadt oder auf der Couch mit dem Smartphone. Es gehe also „nicht um online gegen offline, sondern um online plus offline“. Irgendwie im Internet präsent zu sein, reiche freilich auch nicht aus. Man könne sich mit Marktauftritt und Vertrieb an eine große Plattform anhängen oder zum Beispiel mit anderen kleineren Unternehmen derselben Region zusammenschließen.

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