Essig und Öl aus dem Zapfhahn Supermärkte kämpfen gegen Verpackungswahn

Seite 3/3

Welche Chance "verpackungsfrei" wirklich hat


Im Gegenteil: Der Zahl der Verpackungen steigt und steigt. „Die Verpackungsbranche muss auf ein durchschnittliches jährliches Wachstum von zwei bis drei Prozent reagieren“, sagt Winfried Batike, Geschäftsführer des Branchennetzwerks Deutsches Verpackungsinstitut. Befeuert wird die Entwicklung durch die veränderten Lebensumstände der Deutschen. In Zeiten von Singlehaushalten und kurzen Mittagspausen, steigt die Nachfrage Convenience-Lebensmittel. Currywurst aus der Pappschale und eingeschweißter Salat mit Plastikgabel sind angesagt. Ein lukratives Geschäft: Laut jüngsten Zahlen liegt der der Jahresumsatz der deutschen Verpackungshersteller bei mehr als 32 Milliarden Euro – Rekordniveau.

Die größten Lügen der Lebensmittelindustrie
Der Name kann über Erfolg oder Misserfolg eines neuen Produktes entscheiden. Deshalb verpflichten Unternehmen zum Teil extra Namenserfinder: Das hilft aber nicht immer - manchmal sind die Namen irreführend und es versteckt sich nicht das dahinter, was man auf den ersten Blick erwartet. "Crispy Chicken" ist schlichtweg paniertes Hähnchenbrustfilet und in einem Frischkäse mit Ziegenmilch wird nicht nur Ziegenmilch drin sein, sondern auch andere Milchbestandteile. Ein Blick auf die Rückseite hilft den "richtigen" Bestandteilen auf die Spur zu kommen.Der Ratgeber "Lebensmittel-Lügen – wie die Food-Branche trickst und tarnt" deckt diese und andere 'Lügen' auf. Er ist für 9,90 Euro bei allen Verbraucherzentralen oder im Internet unter www.vz-ratgeber.de erhältlich. Quelle: dpa
Man vermutet es nicht, aber nicht selten versteckt sich Alkohol in der Zutatenliste - das ist vor allem für Alkoholiker gefährlich, die schon bei kleinsten Mengen rückfällig werden können. Achtung: Sollte sich nur eine sehr geringe Menge Alkohol in den Lebensmitteln verstecken, kann das häufig auch als Trägerstoffe oder Lösungsmittel getarnt sein und taucht dann nur als Aroma auf. Quelle: dpa
Immer mehr Verbraucher achten bei ihrem Einkauf auf regionale Produkte - das kann sich aber schnell als Lüge entpuppen. Denn ein einheitliches Gesetz gibt es dafür nicht, sondern es liegt im Ermessen der Anbieter, ob die Produkte wirklich regional sind, also dort hergestellt wurden oder nur dort verkauft werden. Man sollte sich also ganz genau die Verpackung anschauen. Quelle: dpa
Für Zutaten, die - meist verführerisch - auf Gläsern, Verpackungen oder Dosen abgebildet sind, besteht eine "Mengenkennzeichnungspflicht", die anzeigt, wie viel davon tatsächlich im Produkt steckt. Vorsicht ist noch an anderer Stelle geboten: Steht auf der Verpackung der Hinweis "Serviervorschlag", dann entfällt eine Kennzeichnungspflicht. Zutaten, die dann auf dem Glas gezeigt werden, sind oft gar nicht enthalten, kritisiert die Verbraucherzentrale. Quelle: dpa/dpaweb
Noch eine Lüge kann sich hinter dem Terminus 'Hausfrauenart' verstecken. Denn neben der Regionalität der Produkte liegen auch solche im Trend, die auf Geschmacksverstärker und Konservierungsstoffe verzichten. Es erklärt sich allerdings beinahe von selbst, dass die Produkte aus dem Supermarkt, vor allem in der Vielzahl, wie sie dort stehen, direkt aus dem Kochtopf von Oma in das Glas hüpfen. Quelle: dpa
Lecker und gesund schließt sich leider in der Mehrzahl der Fälle aus: Die Wahrheit zeigt dann ein Blick auf die Nährwerttabelle - und hilft dabei die Lebensmittel, die zwar mit einer "Extraportion Milch" werben, aber verschweigen, dass da auch mehr Zucker und mehr Fett drin ist, zu entlarven. Quelle: dpa
Immer mehr Hersteller ersetzten Originalzutaten durch Billigstoffe und deklarierten das nicht deutlich genug auf der Verpackung, kritisieren Verbraucherschützer. Ein weiteres Problem: Oft fehlt das Zutatenverzeichnis ganz oder ist nur schwer lesbar. Ausnahmen darf es etwa bei Käse oder Getränken mit Alkoholgehalt von mehr als 1,2 Prozent geben, sonst aber nicht. Der Verbraucherschutz empfiehlt deshalb, sich beim Hersteller zu beschweren, wenn das Verzeichnis fehlt. Quelle: AP

Entsprechend gering ist derzeit die Sorge in der Branche, in Zukunft Aufträge zu verlieren. Einen großen Trend könne er aus den vereinzelten Versuchen, Supermärkte ohne Verpackung zu etablieren, ohnehin nicht erkennen, sagt Batike. „Bei der Gesamtzahl von etwa 200 Milliarden Verpackungen jährlich in Deutschland spielen diese Ideen eine völlig untergeordnete Rolle.“ Trotzdem schaut die Industrie mit Argusaugen auf die Entwicklung. Schließlich ist sie die radikalste Art mit dem ungeliebten Produkt umzugehen.

Worauf die Kunden beim Thema Nachhaltigkeit achten

Batzke weiß, dass seine Produkte vielen Konsumenten sauer aufstoßen. Und die Branche reagiere darauf: Mit Recyclingmaßnahmen wie dem Grünen Punkt, mit einer kontinuierliche Absenkung des Materialverbrauches pro Produkt und durch die Anpassung von Verpackungen an das veränderte Verbraucherverhalten.

Chance in der Nische

Dass sich die Verpackungsindustrie das Thema Nachhaltigkeit – nicht zuletzt aus Image-Gründen – auf die Fahnen geschrieben hat, weiß auch Marie Delaperrière. Sie hofft, mit ihrem Konzept den Druck auf die Industrie weiter erhöhen zu können. „Wenn es genug Menschen gibt, die auf Verpackungen verzichten, wird die Industrie härter daran arbeiten, den Müll zu reduzieren.“

Aber auch wenn die ganz große Revolution wohl ausbleibt, glaubt selbst Susanne Eichholz-Klein, dass verpackungslose Lebensmittelangebote in gewissen Bereichen funktionieren können. Der Handelsexpertin schwebt eine Art Teilzeitmodell vor: Während die allermeisten Kunden ihre Haupteinkäufe weiter im Supermarkt und Discounter erledigen, beruhigen sie ihr Gewissen beim gelegentlichen Shoppen mit Einweckglas und Tupper-Dose. „Innerhalb dieses Einkaufsstättenportfolios wird ein Supermarkt, der auf Verpackung verzichtet, ebenso wie Biosupermärkte einen Platz finden, aber sicherlich nur für wenige Konsumenten zur Haupteinkaufsstätte werden“, so Klein.

Bleibt die Frage, ob der Platz groß genug zum Überleben ist. Jahrelang galt der 2007 in London eröffnete Supermarkt „Unpackaged“ als Vorzeigeobjekt der Szene. Anfang 2014 musste er schließen. Das Geschäft war nicht rentabel. Angst macht Marie Delaperrière das Scheitern des Vorbilds nicht. „Die Mieten in London sind viel höher“, sagt sie. „Und vielleicht war der Laden seiner Zeit ein bisschen voraus.“ Erst jetzt sei die Richtige gekommen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%