
Düsseldorf Alle sechs Wochen trafen sich die „zwölf Apostel“ - die Geschäftsführer von Aldi Nord, der Verwaltungsrat und der Chef des zentralen Einkaufs. Das Programm: pflichtschuldig konzentriertes Zuhören und Abnicken vorgefasster Beschlüsse. Beim letzten Abendessen trällerten sich dann alle den Frust der 72-Stunden-Tortur aus den Rippen, bevorzugt „Prost, Prost, meine Herren“. Alle - außer Theo Albrecht. Der, wenn er nicht schon zur Ruhe gegangen war, nur ein bisschen summte.
Das ist nur eine von mehr als 40 „Aldi-Geschichten“, die Eberhard Fedtke, 75, in seiner Zeit bei Aldi erlebt hat. Sein gerade erschienenes Buch ist ein an Nähe nie da gewesenes Porträt von Deutschlands legendärem Discounter und seinen verschwiegenen Gründern Karl und Theo Albrecht. Reich an bislang unbekannten Interna, informativ, mit Dokumenten belegt - humorvoll eingebettet. Fedtke - zwischen 1967 und 1977 erst anwaltlicher Mitarbeiter der Aldi-Brüder, dann bei Aldi Nord Geschäftsführer der Regionalniederlassung Essen mit rund 40 Filialen und einem jährlichen Umsatz von damals gut 320 Millionen Mark - schildert die „kaufmännische Meisterleistung“, aber auch die systemimmanente „Total-Kontrolle“. Zutage kommen Szenen des Aldi-Alltags in den 60/70ern - einzigartig, aber nicht frei von Kritik.
So brachte das 1969 eingeführte Publizitätsgesetz Aldi, damals bereits geteilt in Aldi Süd (Karl) und Aldi Nord (Theo), in Bedrängnis. Um die Bilanzsumme, die Jahresumsätze und die Mitarbeiterzahlen unter dem gesetzlichen Limit zu halten und die Bücher nicht offenlegen zu müssen, wurde Aldi in GmbHs aufgesplittet - laut Fedtke ein „Tanz auf dem juristischen Drahtseil“. Die Leiter der zwölf regionalen Niederlassungen, so auch er selbst, wurden 1974 Geschäftsführer einer eigenen GmbH. De facto hatten sie bei Aldi Nord aber nichts zu sagen.
Die „Allzuständigkeit“, schreibt Fedtke, hatte der Verwaltungsrat mit Theo Albrecht und zwei Vertrauten. Die Geschäftsführer nannten sich selbst „Marionetten“, dem knapp 1000 Stichworte umfassenden Inhaltskatalog des Geschäftsführerhandbuchs verpflichtet. Der Tagesplan musste im 15-Minuten-Takt ausgefüllt werden. Dazu kamen die „inquisitorisch umfänglich ausgedehnten Kontrollen“. Selbst an seinem 40sten Geburtstag wurde Fedtke ausgiebig überprüft. Die Bewertung im voluminösen Besuchsbericht: „Die Art der Durchführung lässt vermuten, dass Herr Dr. Fedtke die Tagesplanung nicht richtig handhabt.“
„Fundamentalistischer Eifer zur Sparsamkeit“
Zur damaligen Führungskultur bei Aldi Nord gehörte auch die sogenannte Zwei-Taler-Fuchtel. Wie Fedtke schreibt, wurde im Streben nach ständiger Verbesserung die in Sportvereinen gepflegte Tradition der Strafzahlung eingeführt. Er sollte einmal die Höchststrafe zahlen, weil er in die Dankesworte auf einer Weihnachtskarte an seine Belegschaft auch den Betriebsratsvorsitzenden einschloss - eine „unpassend stilisierte Sozialpartnerästhetik“, wurde ihm signalisiert.
Fedtkes Resümee: Nicht zufällig, sondern kaufmännisch logisch hat Aldi Süd laut Schätzungen von „Forbes“ bislang 23,5 Milliarden Dollar angehäuft, Aldi Nord dagegen nur 16,7 Milliarden (rund 12 Milliarden Euro). Knapp 30 Prozent Differenz als „Quittung für die administrativen Auswüchse“. Schon zu Fedtkes Zeit lag der Jahresumsatz bei Aldi Süd im Schnitt 7,5 Prozent höher, weil „die Süd-Lichter den Verkauf dynamisierten“. Die jüngst angekündigten millionenschweren Rekordinvestitionen von Aldi Nord hält Fedtke für richtig, sofern sich das Unternehmen im Kern treu bleibe.
Theo Albrecht - im Gegensatz zu seinem beredten, forschen Bruder Karl eher zurückhaltend und stets bemüht, das Erreichte behutsam abzusichern - meinte es gut, erinnert sich Fedtke an den im vergangenen Sommer gestorbenen Aldi-Gründer. Aber Aldi Nord litt unter dessen „fundamentalistischen Eifer zur Sparsamkeit“. Spesenmachen gab es nicht: Lieferanten wurden nicht ein-, sondern vorgeladen. Die Geschäftsführer logierten bei Tagungen im Hotel mitunter in Zweibettzimmern.
Fedtke ertrug das Ganze „mit Langmut und Humor“ bis Ende 1977. Missen möchte er die Zeit bei Aldi aber nicht: Zu viel hat er gelernt - über sich und die einzigartige Aldi-Effizienz. Theo Albrecht, so schreibt er, ging trotz seines ungebremst wachsenden Reichtums nie aus sich heraus. Selbst beim Singen blieb er stets gefasst.
Das Buch „Aldi Geschichten. Ein Gesellschafter erinnert sich“ von Eberhard Fedtke mit Zeichnungen von Philipp Heinisch ist seit heute im Handel erhältlich (NWB-Verlag, ISBN 978-3-482-63731-5).