Expertin Claudia Groß Neben Thermomix und Tupperparty – „Im Direktvertrieb gibt es viele graue Schafe"

Der Verkauf im Wohnzimmer boomt. Branchenexpertin Claudia Groß fordert eine bessere gesetzliche Kontrolle – und warnt vor dubiosen Firmen.

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Vorwerk, Tupperware: Neben Etablierten gibt es viele graue Schafe Quelle: Vorwerk, Dennis Savini

Düsseldorf Claudia Groß kennt die Welt der Direktvertriebe von innen. Für ihre Forschung hat die Assistenzprofessorin am Institut für Management Research in Nijmegen auf Verkaufspartys und Schulungen diverser Direktvertriebe recherchiert. Ihre Doktorarbeit über Identität und Ideologie im Multi-Level-Marketing wurde von der Universität Mannheim ausgezeichnet. Auf ihrer Webseite www.fakten-direktvertrieb.de sammelt sie Informationen rund um die undurchsichtige Branche.

Frau Groß, allein in Deutschland arbeiten etwa 800.000 Menschen im Direktvertrieb - mehr als in der Automobilbranche. Bald sollen es eine Million sein, die im Wohnzimmer Produkte oder Dienstleistungen verkaufen. Wie erklären Sie sich diesen Boom?
Das Versprechen im Direktvertrieb lautet: Jeder kann unbegrenzt verdienen. Je nachdem, wieviel Zeit und Mühe er oder sie investiert. Die Ausbildung spielt keine Rolle. Selbst der Ungelernte kann theoretisch ganz viel verdienen. Auch der Immigrant, der vielleicht nicht so gut Deutsch kann oder dessen Diplom nicht anerkannt wird. Im Direktvertrieb sind alle gleich.

Was reizt die Leute - überwiegend ja Frauen - noch an der Branche?
Mütter können überwiegend von zuhause arbeiten und ihre Zeit frei einteilen. Auch Ältere werden nicht diskriminiert und können arbeiten so viel und solange sie wollen – keine Selbstverständlichkeit im heutigen Berufsleben. Viele suchen dort auch soziale Anerkennung. Denn jeder Erfolg wird belohnt.

Lob, um noch mehr zu verkaufen. Der Umsatz im Direktvertrieb hat sich hierzulande in zehn Jahren ja auf 17 Milliarden Euro verdoppelt.
Auf den Gruppentreffen wird bereits beklatscht, wer für 100 Euro mehr verkauft hat als in der Vorwoche. Was die anderen nicht unbedingt wissen: Oft war es ein Geschäft mit der Nichte oder Nachbarin. Aber Tatsache ist: Im Direktvertrieb gibt es für Leistung Anerkennung, die es im normalen Beruf so nicht gibt. Dazu zählen auch Motivationspartys und Incentive-Reisen wie Kreuzfahrten. Die Firmen werben damit, Teil einer „großen Familie“ zu werden. Denn für Direktvertriebe ist die Rechnung einfach: Je mehr Berater umso mehr Umsatz.

Nicht nur die Firmen, auch viele Vertriebler hoffen, mit Verkaufspartys reich zu werden. Wie viel verdienen sie tatsächlich?
Fast alle Direktvertriebler arbeiten ja als Selbstständige nebenher. Sie verdienen meist weniger als ein Minijobber. Genaue Zahlen fehlen. Unter den 800.000 Beratern ist nur schwer auszumachen: Wie viele sind Karteileichen? Davon gibt es viele. Wer deckt nur seinen Eigenbedarf? Etliche steigen nur ein, um Vitamine oder Schmuck selbst billiger zu bekommen. Wer macht es nebenher? Und wer verdient richtig gut damit? Den wenigen Einkommensmillionären steht ein riesiger Unterbau von Vertrieblern gegenüber, die nur ein Taschengeld verdienen.

Aber auf Verkaufspartys kommen ja zum Teil ganz schöne Umsätze zusammen…
Bei einer Thermomix- oder Tupper-Party etwa lassen sich ein paar hundert Euro Umsatz generieren. Das klingt toll. Aber netto bleibt hier nicht unbedingt viel übrig. So kostet zum Beispiel die Vorbereitung auch viel Zeit. Ich rate jedem, genau aufzuschreiben, wie viele Stunden er einsetzt. Und die eigenen Kosten gegenzurechnen. Nur so lässt sich erkennen, ob der Stundenlohn akzeptabel ist.

Oft werden Familie und Freunde als Kunden herangezogen. Was ist davon zu halten, wenn Geschäft und Privates vermischt wird?
Familie oder Freunde kaufen oft nur aus Pflichtgefühl. Das ist sehr problematisch – besonders bei zwei Produktgruppen: Versicherung und Vermögensberatung sowie bei allem rund um die Gesundheit. Finanzprodukte oder Nahrungsergänzungsmittel haben schließlich langfristig Einfluss auf unsere finanzielle und körperliche Gesundheit. Im Direktvertrieb arbeiten aber Laien.

Werden die nicht geschult?
Die Schulungen sind aber keine Ausbildung zum Finanzexperten oder Diätisten, sondern vor allem Verkaufs- und Motivationstrainings. Da rutscht manchen Beratern schon mal das ein oder andere Heilungsversprechen heraus – sei es gegen Migräne oder Arthrose.

Solche Versprechungen sind doch explizit verboten…
Das stimmt, aber was im privaten Wohnzimmer erzählt wird, darüber haben die Unternehmen keine Kontrolle. Oder sie wollen es gar nicht so genau wissen. Die Kunden vertrauen aber auf solche Versprechen, besonders von Schwester oder Freundin.

Wie erkenne ich, ob es sich um einen seriösen Direktvertrieb handelt?
Einkommensversprechen, die exorbitant hoch sind, sollten stutzig machen. Außerdem sollte man schauen, ob bei einer Firma wirklich das Produkt im Mittelpunkt steht oder der Aufbau einer vielköpfigen Vertriebsorganisation, die hauptsächlich an ihren Mitgliedern verdienen will. Ich schätze, das ist jeweils die Hälfte.

Wie sind beide Typen zu unterscheiden?
Ganz einfach: Wann gibt es die höchste Provision? Wenn ich selbst verkaufe oder dann, wenn ich viele neue Verkäufer anwerbe und an deren Umsatz mitverdiene? Bei seriösen Firmen ist das nur ein geringer Prozentsatz vom Umsatz.

Sind solche Pyramidensysteme nicht verboten?
Im Direktvertrieb gibt es viele graue Schafe. Die Firmen sind nicht dumm. Sie formulieren ihre Richtlinien gesetzeskonform. Die Frage ist, wie dies in der Praxis gelebt wird. Und solange es Produkte gibt, die Mitglieder kaufen (müssen), ist der Nachweis eines Pyramidensystems sehr aufwändig.

In den USA und Belgien etwa gab es Klagen gegen Herbalife. Was wurde da bemängelt?
Das Handelsgericht in Belgien urteilte 2011, dass es sich bei Herbalife um ein Pyramidensystem handelt. Im Laufe des Verfahrens gab es nach Anpassungen von Herbalife einen außergerichtlichen Vergleich. In den USA war es ähnlich. Herbalife musste zwar 200 Millionen Dollar Bußgeld unter anderem wegen übertriebener Einkommensversprechen zahlen. Daraufhin wurden ebenfalls die Richtlinien intern angepasst.

Wie genau?
In den USA wirbt Herbalife etwa nicht mehr mit Fotos von Villen oder Sportwagen, die Reichtum versprechen. Allerdings ist nicht jeder Kritiker von der Einigung mit Herbalife und der Federal Trade Commission überzeugt.

Gibt es hierzulande Direktvertriebe, vor denen Sie warnen?
Wenn man reich werden will, dann rate ich: Finger weg von allen! Alles was nach Pyramidensystem aussieht, meiden. Wenn man Produkte günstiger kaufen will oder ein bisschen nebenher verdienen will, dann sieht es wieder anders aus. So ein Job kann ja auch Abwechslung bringen. Eine Tupper-Beraterin sagte mir mal: „Wenn ich zum Tennis gehe, gebe ich Geld aus. Wenn ich eine Tupper-Party mache, habe ich auch Spaß, aber verdiene etwas.“ Grundsätzlich problematisch finde ich nur, wenn Nahrungsergänzungsmittel und Finanzprodukte verkauft werden: Hier fehlt Beratern wie gesagt das Wissen, um wirklich eine objektive vom Unternehmen unabhängige Beratung zu geben.

Apropos Tupper-Partys. Die galten zeitweise als spießig. Nun erleben Verkaufspartys eine Renaissance. Warum ist das Gesellige beim Einkauf heute so wichtig?
Heute wird vieles anonym im Internet gekauft, da ist eine Verkaufsparty mit Bekannten ein willkommener Ausgleich. Da kann man Spaß zusammen haben. Da zahlen die Leute gerne auch ein bisschen mehr für die Plastikschüssel als im Supermarkt. Auf der Party kann man nicht wie im Laden oder Online-Shop schnell mal Preise und Funktionen vergleichen. Zudem geht man ja auch eine gewisse Verpflichtung gegenüber der Gastgeberin ein, wenn man sich bei ihr im Wohnzimmer mit Häppchen und Trinken verwöhnen lässt.

Wie hat das Internet die Branche verändert?
Die sozialen Medien machen es heute extrem einfach, Leute einzuladen. Es ist nicht mehr peinlich wie früher, als man jeden Gast persönlich anrufen musste. Das war viel aufdringlicher als eine Anfrage über WhatsApp oder Facebook. Und generell probieren die Leute heute mal gern etwas Neues aus.

Viele Direktvertriebe eröffnen auch Online-Shops oder Läden, so wie Vorwerk oder Tupperware. Kannibalisiert das nicht das Geschäft der freien Vertriebler?
Das kann deren Umsatz schmälern, gleichzeitig wird die Marke bekannter. Wenn man im Internet etwas bestellt, wird man oft an die Beraterin in der Nähe verwiesen. Direktvertriebe experimentieren gerade viel mit verschiedenen Kanälen.

Der Direktvertrieb rühmt sich seiner geringen Retourenquoten. Zu Recht?
Die niedrige Retourenquote ist nicht verwunderlich, denn hier greift die soziale Kontrolle. Es fällt leichter, etwas anonym im Internet zurückzuschicken als den Thermomix der netten Nachbarin zurückzugeben. Je höher der Umsatz desto größer ist ja das Geschenk der Firma für die Gastgeberin und der Verdienst der Beraterin. Das müssten diese dann wieder zurückgeben. Der soziale Druck ist nicht zu unterschätzen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Direktvertriebe? Hat nicht jeder inzwischen genug Plastikschüsseln und Kosmetik zuhause?
Die Branche wird weiter wachsen – beflügelt durch die sozialen Medien. Oft verdienen Firmen allein schon am Eigenbedarf ihrer Vertriebler gut – seien es Vitamine oder Plastikdosen. Ob es wirklich bald eine Million Berater gibt hierzulande, sei dahingestellt. Mehr Vertriebler zu finden, ist für die Firmen ein Problem - gerade wenn der Arbeitsmarkt leergefegt ist wie jetzt. Die Fluktuation ist hoch. Anders als früher gibt es heute in Deutschland hunderte Direktvertriebe. Denn die Firmen wittern lukrative Geschäfte.

Für Direktvertriebe scheint das Geschäft ja ziemlich risikolos…
Absolut. Berater verursachen so gut wie keine Kosten, weil sie ja selbstständig sind. Die Direktvertriebe zahlen keine Sozialabgaben. Um Kranken- und Rentenversicherung müssen sich Berater selbst kümmern. Sie haben kein gesichertes Einkommen. Direktvertriebe sehe ich als Vorreiter der so genannten Gig Economy. Selbstständigkeit gilt heute als hipp. Das größte Risiko für Direktvertriebe ist ein Imageschaden, falls ihre Vertreter etwas falsch machen und das tatsächlich in die Medien kommt.

Man hört von Direktvertrieblern, die auf einem Schuldenberg sitzen bleiben. Wie kommt das?
Es gibt Leute, die viel Geld, Zeit und Hoffnung investieren, aber auf den Produkten sitzen bleiben und zerstörte Freundschaften haben. Dies passiert vor allem Menschen, die selbst wenig Kapital haben und zu große Hoffnung in die Versprechen der Unternehmen bzw. ihrer Berater setzen.

Setzen die Firmen Anreize zum Schuldenmachen?
Bei Großbestellungen gibt es Rabatt - wie in jeder Branche. Je mehr Umsatz die Gruppe macht umso mehr Superprovision bekommt ein Teamleiter. Bei einem Gruppenumsatz von 1000 Euro gibt es zum Beispiel fünf Prozent Provision, bei 2000 Euro Umsatz zehn Prozent. Wenn bis zu der Schwelle nur ein paar hundert Euro fehlen, kaufen manche einfach selbst dazu.

Warum das?
Dann erreichen sie eine höhere Stufe und werden auf dem Meeting von allen beklatscht. So häufen sich immer mehr Schulden an. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dass sie die Waren verkauft bekommen bzw. viele neue Mitglieder anwerben, an deren Einkäufe sie mitverdienen können.

Sind Direktvertriebler also selbst schuld, wenn sie in die Schuldenfalle geraten?
Das wird durch das Provisionssystem und die Motivationsschulungen natürlich gefördert: „Jeder kann es schaffen, wenn er sich nur anstrengt.“ Leute, die Anerkennung suchen, sind hierfür besonders empfänglich. In der Gruppe will jeder zeigen, dass er erfolgreich ist. Wenn eine Teamleiterin die Kreuzfahrt als Incentive wieder nicht bekommt, ist es nicht gut für die Motivation ihrer Gruppe. Da kauft sie lieber selbst dazu, um zu den Besten zu gehören. Solche Anreize verlocken zu Schulden.

Sollte der Gesetzgeber da nicht eingreifen?
Unbedingt. Der Direktvertrieb war lange ein Randphänomen. Es gibt keine Regulierungsbehörde, die etwa die Unternehmen registriert oder auf die Provisionsregeln achtet. Dabei hätte der Gesetzgeber viele Stellschrauben, um Unseriöses zu verhindern.

Was könnte er konkret tun?
Etwa in Anwerbeprospekten Bilder von dicken Autos und Luxus-Villen verbieten. Auch teure Starter-Kits für die eigenen Berater gehören verboten. Freiwillige Selbstkontrolle wie im Bundesverband Direktvertrieb Deutschland reicht nicht.

Was schlagen Sie vor?
Neben einer Regulierungsbehörde wäre auch ein neutraler Ombudsmann sinnvoll, bei dem sich Vertriebler und Kunden beschweren können. Das alles würde in der Branche zwar für Aufruhr sorgen. Langfristig würde es aber helfen, die dunkelgrauen Schafe auszusortieren und so das Image des Direktvertriebs zu verbessern. Damit wäre allen geholfen: Unternehmen, Beratern und Kunden.

Frau Groß, vielen Dank für das Gespräch.

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