Fair, ökologisch, transparent Ist die Mode-Industrie auf dem Weg zu echter Nachhaltigkeit?

Kassenzettel = Wahlzettel? Hinter solchen und ähnlichen Plakaten steckt die Aufforderung: Macht Euch mehr Gedanken um die Kleidung die ihr kauft und tragt – und welchen sozialen und ökologischen Fußabdruck sie hinterlässt. Quelle: imago images

Nachhaltige Mode ist kein neues Konzept. In der Nische ist Kleidung schon seit Jahrzehnten nachhaltig. Mittlerweile ziehen auch Branchengrößen mit. Doch an vielen Stellen hakt es noch.

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„Stellt euch vor, es ist Black Friday und keiner geht hin“. So oder so ähnlich stand es auf den Schildern der Fridays-for-Future-Demonstranten, als sie am 29. November, in den USA der Tag nach Thanksgiving alias „Black Friday“, auf die Straße gingen und für mehr Umweltschutz demonstrierten. An einem Tag, der in der westlichen Welt als Konsum-Tag schlechthin bekannt ist, kritisierten sie den Konsum-Wahn – und machten klar: Wer ihm frönt, zerstört diese Welt. An immer mehr Tagen im Jahr wird daran erinnert, was der Massenkonsum, den Bürger westlicher Nationen pflegen, für Klima und Umwelt bedeutet. So auch am 24. April. „Whomademyclothes“ heißt der Hashtag jenes Datums, an dem vor sechseinhalb Jahren das achtstöckige Rana-Plaza-Fabrikgebäude am Rande von Dhaka einstürzte und mehr als 1100 Menschen begrub. Dahinter versteckt sich die Aufforderung: Macht Euch mehr Gedanken um die Kleidung die ihr kauft und tragt – und welchen sozialen und ökologischen Fußabdruck sie hinterlässt.

„Noch vor ein paar Jahren war Nachhaltigkeit für viele zum Gähnen. Der Begriff wurde auf die Öko-Schiene abgeschoben. Das ist heute schon etwas anders“, sagt Christiane Varga, Trendforscherin des Zukunftsinstituts. „Nachhaltigkeit kann heute cool und hip sein. Das spricht dafür, dass der Begriff im Mainstream angekommen ist. Der soziale Druck steigt auch – man wird häufiger schräg angeschaut, wenn man bewusst nicht nachhaltig konsumiert.“

Darauf reagiert auch die Branche – als Beobachter vermittelt sich der Eindruck, dass mehr und mehr Modeketten mit neuen Strategien und Kampagnen für ihre ganz eigenen nachhaltigen Programme werben. Dass das Interesse an nachhaltiger Produktion und Produkten in der Modeindustrie tatsächlich zugenommen hat, lässt sich konkret an den deutlich gestiegenen Bemühungen der Unternehmen um eine Zertifizierung mit anerkannten Nachhaltigkeitssiegeln ablesen. Zu den bekanntesten und allgemein anerkannten Siegeln, die Nachhaltigkeit bescheinigen, zählen etwa der „Cradle-to-Cradle“-Standard, das Oeko-Tex-Siegel „Made in Green“ und das Siegel GOTS. Sie alle erleben einen deutlichen Zulauf.

Greenwashing

„Seit einigen Jahren steigt das Interesse an dem „Cradle-to-Cradle“-Standard und der entsprechenden Zertifizierungen im Textil- und Modebereich kontinuierlich“, sagt etwa Christina Raab vom Cradle to Cradle Products Innovation Institute Amsterdam. Die Entscheidung für eine Zertifizierung habe unter anderem damit zu tun, dass Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft vermehrt Einzug in die Unternehmensstrategien und Geschäftsprozesse halten, und nach einem ganzheitlichen und glaubwürdigen Ansatz gesucht werde, dies an Kunden und Verbraucher verständlich zu kommunizieren.

„Das Bewusstsein der Konsumenten für ökologische und soziale Standards ist stark gestiegen und somit in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt Helmut Müller von Oeko-Tex. Unternehmen der Mode- und Textilbranche reagierten auf diese Veränderung. „Wir merken das an der gestiegenen Anzahl der vergebenen ‚Made in Green‘, die allein innerhalb des letzten Jahres um rund 100 Prozent gestiegen ist.“

Auch bei GOTS sehen die Zuständigen in den vergangenen Jahren einen deutlichen Anstieg GOTS-zertifizierter Betriebe: „Von 2017 zu 2018 war es ein Anstieg von 14,6 Prozent, sodass wir jetzt bei 5760 Betrieben sind. Dies ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass alles mal mit 27 Betrieben in 2006 begann, drei Jahre später schon 2800 Betriebe zertifiziert waren und die Zahlen seitdem kontinuierlich gestiegen sind“, sagt Franziska Dormann, GOTS-Beauftragte für Deutschland. „Im Bereich der mittelständischen Unternehmen haben wir natürlich die Pioniere, die bereits seit langem nachhaltig und fair produzieren“, so Dormann. „Aber daneben sehen wir viele, die nun das Thema aufgenommen haben.“ Vor allem im Premiumsegment sei zuletzt das Interesse an einer GOTS-Zertifizierung stark gestiegen und auch im Massenmarkt seien immer häufiger GOTS-zertifizierte Textilien zu finden.

„Rund ein Drittel der Modeunternehmen haben entscheidende Schritte bereits gemacht“, sagt Sebastian Boger, Mode-Experte beim Beratungsgesellschaft Boston Consulting. Das geht auch aus der Studie „Pulse of the Fashion Industry“ hervor, die die Boston Consulting Group jährlich gemeinsam mit dem Forum „Global Fashion Agenda“ herausbringt. Darin messen die Experten mit Blick auf Umwelt- und Sozialperformance, wie stark sich die Modebranche gen Nachhaltigkeit entwickelt. Das aktuelle Ergebnis: Der Pulse-Score stieg 2019 zwar um vier Punkte von 38 auf 42 (insgesamt sind hypothetisch 100 möglich), 2018 waren die Fortschritte aber größer – mit einem Anstieg um sechs Punkte. Damit haben die im Puls-Score messbaren Fortschritte im vergangenen Jahr um ein Drittel abgenommen.

Die Branche, so zeigen es Berichte, Zahlen und auch viele Unternehmensstrategien, hat noch nicht konsequent auf Nachhaltigkeit umgeschwenkt. „Inditex hat das ‚Fast-Fashion-Prinzip‘ durch seine einzigartige Logistik und Preispolitik perfektioniert. Burberry war vor einem Jahr in den Medien, da sie Ware lieber zerstören statt sie rabattiert anzubieten“, sagt Trendforscherin Varga. „Das sind natürlich Riesengeschichten, die zeigen, dass das System noch immer nicht so ideal läuft, wie es sollte.“

Nichtsdestotrotz, meint Boger, sei Bewegung hineingekommen: „Ein Unternehmen, das sehr aktiv an dem Thema arbeitet und Nachhaltigkeit für sich identifiziert hat, ist H&M. Auch Inditex hat zum Jahresanfang Ziele ausgegeben, die man ihnen vor ein oder zwei Jahren nicht zugetraut hätte.“ Große Player hätten in den vergangenen Jahren die Ressourcen gehabt, in Nachhaltigkeit zu investieren – sowohl finanziell als auch personell. „Bei den kleineren Unternehmen sind es in erster Linie Nischenplayer, wie Patagonia, die das Thema für sich entdeckt und zum Teil der Brand-DNA gemacht haben und deshalb in Nachhaltigkeit schon länger stark investieren“, sagt Boger.

Bei allen ist der Entwicklungsbedarf allerdings noch enorm – das sieht auch Boger. Das Bewusstsein dafür, dass etwas passieren muss, scheint vorhanden. Das zeigt etwa eine aktuelle Studie des Branchenmagazins Textilwirtschaft, für die 169 Mode-Hersteller und 291 Bekleidungshändler befragt wurden: Drei Viertel (73 Prozent) der befragten Hersteller bezeichneten Nachhaltigkeit demnach inzwischen als „das drängendste Projekt unserer Zeit“. Und für 78 Prozent aller Befragten – Hersteller wie Händler – ist Nachhaltigkeit Chefsache, berichten die Studienmacher.

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