
Es sind noch Zellen frei in der Justizvollzugsanstalt Essen mitten im lebendigen Essener Stadtteil Rüttenscheid. 514 Häftlinge könnte die gut hundertjährige Haftanstalt aufnehmen, 420 sitzen derzeit aber nur ein - unter anderem, weil gut 30 Häftlinge durch die in Nordrhein-Westfalen alljährliche Weihnachtsamnestie vorzeitig auf freien Fuß kamen, erklärt der amtierende Anstaltsleiter Alfred Doliwa im Gespräch mit unserer Redaktion.
Doliwas und Deutschlands prominentester Häftling Dr. Thomas Middelhoff hingegen sitzt irgendwo im Gebäudetrakt A hinter Schloss und Riegel und erlebt, was sich der frühere Bertelsmann- und Karstadt-Chef sicher nie hätte träumen lassen: Weihnachten im Knast.
Das sind drei besinnliche Tage der anderen Art. Egal, ob Heiligabend, erster Weihnachtsfeiertag oder zweiter Weihnachtsfeiertag - geweckt werden Middelhoff und alle anderen Häftlinge wie immer um 5.40 via Lautsprecheranlage. Das Frühstück nimmt er um 6.10 an der Zellentür in Empfang, das Mittagessen um 12, das Abendbrot um 17 Uhr. Gegessen wird in der Zelle, natürlich alleine - im Bewusstsein, dass der eigene Platz am Familientisch in der heimischen Villa leer ist.
Es klingt spartanisch, was die Knastküche Middelhoff auf dem Tablett arrangiert. Zum Frühstück an Heiligabend sind Fleischwurst, Brot, Magarine und Tee das Komplettprogramm, mittags gibt es Chinapfanne mit Reis, Salat und Obst, abends Hering in Tomate und nochmals laut Speiseplan: "Brot, Margarine, Tee".
Der Middelhoff-Prozess von A bis Z
Die Pleite des Arcandor-Konzerns (Karstadt, Quelle, Thomas Cook) im Jahr 2009 war einer der spektakulärsten Firmenzusammenbrüche der Nachkriegszeit. Thomas Middelhoff leitete das Unternehmen bis wenige Monate vor dessen Ende. Im Essener Prozess ging es aber nicht um die Pleite selbst, sondern „nur“ um den Verdacht, dass der Manager Arcandor Kosten in Höhe von 1,1 Millionen Euro zu Unrecht in Rechnung gestellt haben soll - vor allem für teure Flüge in Privatjets. Middelhoff weist diese Vorwürfe entschieden zurück.
Auslöser für die umfangreiche Nutzung von Privatjets war Middelhoff zufolge eine Bombendrohung gegen ein Linienflugzeug, in dem er gesessen hatte. Danach sei er aus Sicherheitsgründen auf Charterjets umgestiegen. Insgesamt nutzte Middelhoff in seiner Zeit bei Arcandor nach eigenen Angaben 610 Mal Privatjets. Er selbst habe 210 Flüge bezahlt, die übrigen 400 seien Arcandor in Rechnung gestellt worden. Im Prozess geht es allerdings nur um 48 dieser Flüge, bei denen die Staatsanwaltschaft die dienstliche Veranlassung bezweifelt. Deren Gesamtkosten beziffert die Anklage auf 945 000 Euro.
Thomas Middelhoffs sonst eher öffentlichkeitsscheue Ehefrau Cornelie erinnerte sich als Zeugin im Essener Prozess vor allem an die hohe Arbeitsbelastung ihres Mannes in der Arcandor-Zeit: „Er hat eigentlich immer gearbeitet, immer, immer.“
Dauerstau auf dem Weg zur Arbeit ist für viele Pendler ein Ärgernis - nicht aber für Middelhoff. Als eine Baustelle am Kamener Kreuz die Fahrt zwischen seinem Wohnsitz in Bielefeld und der Konzernzentrale in Essen zur stundenlangen Quälerei machte, stieg er auf Hubschrauber um. Die Rechnung ging an Arcandor. Zu Recht, findet Middelhoff: Er habe so nämlich effizienter arbeiten können. Zu Unrecht, findet die Anklage: Die Kosten für den Arbeitsweg seien Sache des Arbeitnehmers.
Ein weiterer Vorwurf der Anklage: 180 000 Euro habe Arcandor auf Veranlassung Middelhoffs für eine Festschrift zu Ehren des ehemaligen Bertelsmann-Chefs Mark Wössner spendiert. Für die Staatsanwaltschaft ist das Buch ein „persönliches Geschenk“ Middelhoffs an seinen früheren Mentor. Der Manager hätte demnach für das teure Präsent selbst zahlen müssen. Nach Middelhoffs Worten diente die Festschrift dagegen der Verbesserung des Arcandor-Images und der Netzwerkpflege.
Für Middelhoff wurden nach eigener Aussage vor allem die Besuche der Gerichtsvollzieher im Gerichtssaal zur Belastung. Sie nutzten die Gelegenheit, um den im südfranzösischen Saint-Tropez lebenden Manager mit Millionenforderungen seiner Gläubiger zu konfrontieren. In einem Fall pfändete ein Gerichtsvollzieher sogar eine wertvolle Armbanduhr. Die Pfändungsversuche seien demütigend, sagte Middelhoff selbst am Rande des Verfahrens: „Das ist wie ein apokalyptischer Traum.“
Zeitweise wurde das Verfahren in Essen von einem drohenden Haftbefehl gegen Middelhoff überschattet. Eine Gerichtsvollzieherin hatte diesen laut einem „Spiegel“-Bericht beantragt, um den Manager im Zusammenhang mit Zahlungsforderungen des Arcandor-Insolvenzverwalters zur Offenlegung seiner Vermögensverhältnisse zu zwingen. Das Thema erledigte sich nach Angaben der Middelhoff-Anwälte aber von selbst, als dessen Managerversicherung eine Haftungsgarantie für 3,4 Millionen Euro übernahm.
Möglich allerdings, dass ihm seine Angehörigen in einem Paket Delikatessen haben zukommen lassen oder die Anwälte ihm etwas mitgebracht haben. Ein Nikolaus als Schokoladen-Hohlfigur, ein Kuchen oder ein Glas Konfitüre dürfte aber kaum bis in die Zelle gelangen. Es könnten ja Drogen darin versteckt sein. Jedes eingehende Paket wird durchsucht und Verdächtiges aussortiert. Unverdächtig ist nur die Ware aus dem Anstalts-Shop, in dem Middelhoff bereits einkaufen konnte.
Keine Höhepunkte an den Weihnachtstagen
Der katholische Gottesdienst für die Häftlinge aus dem A-Trakt ist an Heiligabend um 14 Uhr. Dass Middelhoff und Leidensgenosse Helge Achenbach in der Kirchenbank nebeneinander knien, ist ausgeschlossen: Der Düsseldorfer Kunsthändler, dessen Prozess wegen Betrugsverdacht bereits läuft, sitzt auch in Essen in U-Haft, aber im B-Trakt. Für ihn ist katholischer Gottesdienst am ersten Weihnachtstag morgens um acht.
Der Middelhoff-Prozess von A bis Z
Für Schlagzeilen sorgte Middelhoff, als er im Juli nach einem Besuch beim Gerichtsvollzieher über ein Garagendach vor den wartenden Journalisten flüchtete. Middelhoff selbst schien stolz auf die Aktion: „Ich bin wie die Katze übers Dach. Ich musste drei Meter tief auf eine Garage springen und dann noch einmal drei Meter auf die Straße“, berichtete der 61-Jährige danach. Der Manager hatte beim Gerichtsvollzieher seine Vermögensverhältnisse offenlegen müssen.
Trotz des Ärgers mit diversen Gläubigern fuhr Middelhoff an den Verhandlungstagen standesgemäß mit einer Limousine und eigenem Fahrer vor. Allerdings musste er sich nach dem Aussteigen mit allen anderen Anwesenden in die Warteschlange an der Sicherheitsschleuse einreihen.
Beim Mittagessen zeigte sich Middelhoff an den Prozesstagen bodenständig: Er nahm es in der Regel in der Gerichtskantine ein.
Der Untreue-Prozess gegen Thomas Middelhoff begann gleich mit einer Panne. Wegen eines Formfehlers des Gerichts am ersten Tag musste das Verfahren am zweiten Tag noch einmal von vorn beginnen. Sowohl die mehr als einstündige Verlesung der Anklage als auch die weit umfangreichere persönliche Erklärung Middelhoffs mussten wiederholt werden. Middelhoff zeigte sich verärgert über die Zeitvergeudung.
Die Empfehlung, nach der Bombendrohung gegen einen Linienflieger aus Sicherheitsgründen nur noch Charterjets zu nutzen, soll nach den Worten Middelhoffs von der Arcandor-Großaktionärin Madeleine Schickedanz gekommen sein. Sie habe sogar zugesagt, bei Privatflügen die Mehrkosten zu übernehmen, berichtete der Manager. Schickedanz selbst bestritt allerdings als Zeugin eine derartige Zusage vehement.
Die Verteidigung Middelhoffs hat einen Freispruch für den Angeklagten gefordert. Dagegen verlangte die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten wegen schwerer Untreue - Middelhoff habe den früheren Karstadt-Quelle-Konzern „nach Gutdünken“ mit Kosten seiner zahlreichen externen Nebentätigkeiten belastet.
Eine bei Middelhoff bei einer Taschenpfändung im Essener Landgericht gepfändete Armbanduhr der Nobelmarke Piaget wurde von der Gerichtsvollzieherin nach Zwangsvollstreckungsrecht im Internet versteigert. Der prominente Vorbesitzer ließ die Uhr für die Bieter offensichtlich attraktiv erscheinen: Obwohl ihr Wert in einem Gutachten lediglich auf 2800 Euro geschätzt wurde, erzielte sie bei der Online-Auktion am Ende einen Preis von 10 350,99 Euro.
Das wars dann aber auch mit Sonderprogramm. Es gibt sonst keinerlei Highlights an den dunklen Weihnachtstagen im Knast. Besuch? Nein, die JVA ist an Feiertagen und an Wochenenden geschlossen. Denn Besuchstage sind wegen der notwendigen Kontrollen personalintensiv. Und Vorrang hat, dass die Bediensteten bei ihren Familien sein können. "Jeder der Kollegen hat rund 100 Überstunden", verweist Doliwa auf die knappe Personaldecke.