Hosen und Hemde, die keiner will - Jürgen Wolff nimmt sie mit Kusshand. Der Textilunternehmer verdient sein Geld mit so genannten Überhängen, also Kleidungsstücken, die Kaufhäuser nicht verkaufen konnten. Das gehört im Einzelhandel zur Tagesordnung. „Wenn 20 Prozent der Saisonware übrig bleibt, ist das Geschäft noch überlebensfähig. Aber weniger ist besser“, erklärt Wolff, der unter anderem zehn Jahre als Einkäufer für Kaufhof gearbeitet hat. Gerade bei dem bisher kalten Frühling ist es für Modehändler schwierig, ihre Ware los zu werden – und jeder unverkaufte Rock steht für eine Abschreibung in der Bilanz. Möglichkeiten, den Verlust klein zu halten, gibt es viele: Fabrikverkäufe, Outlets, Verkaufsclubs im Internet, Sonderverkäufe in zeitweise angemieteten Ladenlokalen oder auf Restposten spezialisierte Händler.
Dazu zählt Wolffs Firma Overstock & Services. Sie verkauft Altware weiter nach Osteuropa. An diesem Mai-Nachmittag steht etwa ein 15 Meter langer Laster vor dem Krefelder Lager und wartet auf seine Abfahrt nach Rumänien. „Wir stimmen die Absatzmärkte mit unseren Kunden ab und schließen auf Wunsch einen Reimport nach Deutschland aus“, sagt er. Das ist vielen Modeunternehmen wichtig, um ihr Image zu schützen. Dass ihre Kleidungsstücke in Deutschland oder anderen entscheidenden Absatzmärkten verramscht werden, kommt für sie nicht in Frage. Manche gehen auch auf Nummer sicher und verlangen, dass die Markenzeichen vor dem Weiterverkauf entfernt werden.
Esprit kaufte Kunden Hosen und T-Shirts wieder ab
Trotz dieser branchenüblichen Vorgehensweise, taucht Altware bekannter Modemarken immer wieder ungewollt bei deutschen SB-Warenhäusern und Discountern auf. Einige Label wehren sich dagegen. Derzeit liegt dem Landgericht München I etwa eine Zivilklage gegen die Warenhauskette Real vor. Diese hatte zwei mal Kleidungsstücke der Marke Superdry angeboten, die unter anderem für ihre bunten, großflächig mit dem Markenzeichen bedruckten T-Shirts bekannt ist.
Die britische Muttergesellschaft von Superdry, DKH Retail, stört sich an zwei Dingen: Einerseits weiß sie nicht, wie die Ware zu Real gekommen ist, da weder sie, noch ihre deutsche Vertriebsagentur die Warenhauskette beliefert hat. Andererseits scheint ihr ein nüchterner Großsupermarkt nicht gut genug für ihre jungen, hippen T-Shirts zu sein. Da Real sich geweigert haben soll, offenzulegen, woher die Ware stammt, ist DKH Retail nun vor Gericht gezogen. Beide Seiten wollten sich gegenüber der WirtschaftsWoche nicht zur Klage äußern.
Ähnliche Fälle gibt es genügend: Erst Ende März ist trotz der rigorosen Vertriebspolitik der US-Modemarke Abercrombie&Fitch ein Sonderposten beim deutschen Online-Outlet Borelly gelandet. Im November 2012 hat Woolworth 90.000 Teile der britischen Premiummarke Belstaff angeboten, im Juli zuvor 200.000 Teile von S.Oliver – hierbei auch mit rechtlichen Folgen.
Für Aufmerksamkeit in den sozialen Medien sorgte im Mai 2012 beim Textildiscounter Kik aufgetauchte Esprit-Kleidung. Das Modeunternehmen ging damit offensiv um: „Hinter den Esprit Produkten, die bei dem Textil-Diskont ab sofort angeboten werden, können wir nicht zu 100 Prozent mit unserem Namen stehen“, schrieb Esprit am 16. Mai 2012 auf seiner Facebook-Seite. Das Unternehmen rief seine Kunden dazu auf, ihre bei Kik erstandenen Kleidungsstücke in seinen Filialen abzugeben – gegen den erstatteten Kaufpreis und einen Zehn-Euro-Gutschein. Die zurück gebrachten Hosen und Oberteile hat Esprit gespendet.
Lieber verbrennen als weiterverkaufen
Dass immer wieder solche Fälle auftreten, kann viele Gründe haben, sagt Textilunternehmer Jürgen Wolff. Einerseits sind auch unseriöse Aufkäufer von Restposten unterwegs, die zwar einen Reimport nach Deutschland ausschließen, sich aber nicht dran halten. Sie bewegen die Altware über verschiedene Zwischenhändler und Ländergrenzen sooft hin und her, bis die Ware irgendwann wieder in Deutschland landet. Der Handelsweg und die rechtliche Lage sind dann nur noch schwer nachzuvollziehen. Oftmals handelt es sich aber auch gar nicht um deutsche Restposten, die hier zu Lande beim Discounter auftauchen. „Viele Modeunternehmen sind Global Player“, sagt Wolff. „Das kann dann auch Altware aus anderen Ländern sein.“
Nicht zuletzt drücken Modeunternehmen auch von sich aus beide Augen zu. Sind die Geschäfte schlecht gelaufen, wollen manche nur ihre Kleiderberge zum besten Preis loswerden – ohne auf ihr Markenimage zu achten. „Dann gilt der Grundsatz: Liquidität kommt vor Rentabilität“, sagt Wolff. Um an schnelles Geld zu kommen, verzichten Unternehmen dann auf Auflagen, wie die Markenzeichen zu entfernen. „In der Not machen Menschen vieles, manche überfallen sogar eine Bank“, sagt Wolff.
Überwachter Weiterverkauf
Esprit hat mittlerweile herausgefunden, wie seine Restposten bei Kik landen konnten. „Wir haben den Weg letztendlich zurückverfolgen können und sichergestellt, dass keine Esprit-Produkte mehr diesen Weg gehen können“, erklärte das Unternehmen schriftlich gegenüber der WirtschaftsWoche, ohne Details zu nennen. „Wir arbeiten daran und sind zuversichtlich, dass wir solche Vorkommnisse bald ausschließen können. Dabei setzen wir insbesondere auf neue Partner bei dem Weiterverkauf von Überschüssen.“
Doch letztlich bleibt Esprit auch bei den neuen Partnern nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen. Ein lukrativer Weg, sich vor Ramschverkäufen zu schützen, ist es, den Abverkauf selbst zu steuern – etwa über eigene Outlets und geschlossene Verkaufsclubs im Internet, wie Brands4Friends oder Vente Privee. In Outlets können sich Marken angemessen präsentieren und eine Wühltischatmosphäre vermeiden. Das gleiche gilt für die Online-Verkaufsclubs, deren Sonderaktionen in enger Abstimmung mit den Modeunternehmen ablaufen
Diese Absatzwege haben sich längst zu einem wichtigen Geschäftszweig entwickelt. „Das geht weit über die reine Vermarktung von Restposten hinaus“, sagt Jürgen Müller, ehemaliger Chefredakteur der Fachzeitschrift Textilwirtschaft und Autor des Modewirtschaftsblogs Profashionals. „Die Unternehmen beziehen die Outlets und Verkaufsclubs in ihre Planung mit ein und produzieren eigens für sie mit.“ Am Ende sind manche Kleidungsstücke nur scheinbar reduziert – zum angeblichen Originalpreis waren sie nie zu haben.
Manche Luxusmodehersteller, wie Louis Vuitton, schließen Image schädigende Restposten auf ihre Weise aus: Sie verbrennen sie. Das hat der ehemalige Louis-Vuitton-Chef Philippe Schaus vor sechs Jahren beim Forum der Textilwirtschaft in Heidelberg vor 500 Teilnehmern verkündet. Ein solch rigoroses Vorgehen erklärt Jürgen Müller damit, dass Luxushersteller bei Preisnachlässen besonders sensibel sind. „Preis-Stabilität ist wichtig“, sagt Müller. „Wenn eine Tasche reduziert ist, heißt das, dass sie bisher keiner haben wollte. Das geht auf Kosten von Begehrlichkeit und Glaubwürdigkeit.“ Bevor man also zum Rotstift greift und an der Exklusivität rüttelt, wandern die Handtaschen lieber ins Feuer.
Weniger Überschuss durch Exklusivität
Das sei jedoch sicher nicht die Regel in High-End-Unternehmen, betont Clemens Pflanz der Geschäftsführer beim Meisterkreis, der Vereinigung deutscher Qualitätshersteller, ist. Da Luxusunternehmen stets kleine Mengen produzieren, falle dort ohnehin wenig Überschuss an. „Wir sprechen hier über besonders anspruchsvolle Produkte mit einem Höchstmaß an Qualität“, sagt Pflanz. „Ausschuss verbietet sich da qua Definition.“ Vernichtungsmaßnahmen gebe es eher bei fehlerhafter Ware. „Ich kenne etliche Hersteller, die das Produkt vernichten, wenn da etwas dran ist. Es geht hier um den Qualitätsanspruch.“
Doch auch Massenmodehersteller gehen ihren Pullis an den Kragen. Die New York Times berichtete im Januar 2010 von einer Studentin, die in der Mülltonne einer New Yorker H&M-Filiale zerschnittene Winterjacken und Handschuhe entdeckt hat. Da solche Schlagzeilen dem Image ebenfalls schaden, hat die schwedische Modekette reagiert. Seit Februar 2013 können H&M-Kunden ihre alte Kleidung weltweit in den Filialen gegen einen 15-Prozent-Gutschein abgeben. H&M nimmt die Textilien unabhängig von ihrem Zustand oder der Marke an – und verkauft sie weiter an das Schweizer Recycling-Unternehmen I:Collect.
Die zehn wichtigsten Beschaffungsmärkte für Textilien
Wert der Exporte nach Deutschland: 1292 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +17,8 Prozent
Quelle: AVE, Stand 2011
Wert der Exporte nach Deutschland: 237 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: -25,4 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 210 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +78,6 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 205 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +19,1 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 139 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +1,5 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 91 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +42,4 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 91 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: -0,1 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 90 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +55,2 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 32 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +18,9 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 27 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +117,4 Prozent
Je nach Zustand können die Kleidungsstücke drei Wege gehen. Noch tragbare Ware verkaufen die Textilverwerter als Second-Hand-Artikel weiter. Stoffe in einem schlechten Zustand erhalten ein zweites Leben als minderwertige Produkte, wie Putzlappen. Sind die Kleidungsstücke so kaputt, dass es nicht mal dazu reicht, dann verarbeitet das Unternehmen sie etwa zu Dämmmaterial für die Automobilindustrie weiter. Meist dürfen die Kleider ihre Funktion jedoch weiter erfüllen. Laut einer Studie des Bundesverbands Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) von 2008 leben 43 Prozent aller Kleidungsstücke als Second-Hand-Ware weiter.
Restposten spielen jedoch für Recycling-Unternehmen kaum eine Rolle, sie verarbeiten hauptsächlich gebrauchte Ware aus Altkleider-Container,. „In den Sammelcontainern ist die Ware, die in Mode- oder Kaufhäusern nicht verkauft wird, in der Regel nicht zu finden“, sagt BVSE-Sprecherin Ilona Schäfer. „Es gibt auch Firmen, die als Entsorgungsdienstleister mit Textilhändlern zusammenarbeiten, dazu liegen uns jedoch keine genaueren Informationen vor.“
Auch H&M gibt seine unverkaufte Ware nicht ans Recycling-Unternehmen weiter. Was übrig bleibt, spendet der Modekonzern laut eigenen Angaben etwa an die Diakonie, den Arbeiter-Samariter-Bund und die Johanniter. 2012 kamen so weltweit 3,2 Millionen H&M-Kleidungsstücke einem guten Zweck zugute.
Das mag zwar gut fürs Image sein, ist jedoch nicht für alle Modeunternehmen eine Option. Dem elitären Ruf von Luxusunternehmen schadet es eher, wenn Bedürftigen in Chanel und Dior rumlaufen. Und manche Modeunternehmen können und wollen die Abschreibungen in ihrer Bilanz angesichts unverkaufter Ware nicht hinnehmen. Schnäppchenjäger wird’s freuen.