So wie der Filiale in der Lorettostraße geht es auch fünfzig anderen Geschäften von Kaiser’s Tengelmann in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Von den gut 330 Filialen, die Edeka nicht an Rewe abtreten musste, hat das Unternehmen insgesamt 51 Läden an die Tochter Netto weitergereicht. Mit deutlichem Fokus auf NRW. Hier gingen 47 Filialen an den Discounter – behalten hat Edeka in dem Bundesland nur 46. Die vier anderen Filialen finden sich in Bayern. In Berlin geht Netto komplett leer aus.
Thomas Roeb, Handelsexperte und Professor für BWL an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, sieht zwei Gründe dafür, dass Edeka eine Teil der Tengelmann-Filialen in Netto-Discounter umwandelt: die Kaufkraft und die Filialgröße.
Vor allem die größere Produktauswahl bei Supermärkten sorgt dafür, dass sie mehr Verkaufsfläche benötigen. Während Netto rund 3.500 Artikel im Sortiment hat, sind es bei Edeka je nach Markt 15.000 bis 25.000. „Natürlich können Sie auch auf kleiner Fläche viele verschiedene Produkte platzieren, das ist aber nicht wirklich sinnvoll“, erklärt Roeb. Denn wenn viele Artikel auf kleiner Fläche präsentiert werden, bleibt für jeden einzelnen weniger Platz. „Da werden Waren dann schnell übersehen und der Kunde begibt sich ja nicht auf die Suche, weil er glaubt, dass das Produkt doch zu finden sein müsse. Stattdessen kauft er es woanders.“
Die schier unendliche Geschichte einer Übernahme
Die Tengelmann-Gruppe gibt bekannt, aus dem Supermarktgeschäft auszusteigen und seine 451 Kaiser's-Tengelmann-Filialen mit knapp 16.000 Angestellten an Edeka verkaufen zu wollen.
Das Bundeskartellamt äußert Bedenken wegen einer möglichen „Verdichtung der ohnehin schon stark konzentrierten Marktstrukturen“ und Nachteilen für Verbraucher und Lebensmittel- und Konsumgüterhersteller.
Das Kartellamt untersagt die Übernahme. Die Unternehmen gehen gegen das Verbot gerichtlich vor.
Tengelmann und Edeka beantragen bei Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) eine Sondererlaubnis, um das Nein des Kartellamts auszuhebeln. Sie betonen, dass nur die Gesamtübernahme durch Edeka die 16.000 Arbeitsplätze von Kaiser's Tengelmann sichere und bei einer Zerschlagung mindestens 8000 Stellen wegfallen würden.
Die Monopolkommission fordert Gabriel auf, das Geschäft nicht zu genehmigen – auch nicht unter Auflagen. Sie argumentiert, dass mögliche Gemeinwohlvorteile die zu erwartenden Wettbewerbsbeschränkungen nicht aufwiegen. Zudem zweifelt die Kommission die Jobsicherung an: Bei Doppelstandorten könnten Stellen bei Edeka wegfallen.
Gabriel stellt eine Ministererlaubnis unter Bedingungen in Aussicht. Er kündigt an, das Geschäft zu genehmigen, wenn Edeka 97 Prozent der Jobs bei Kaiser's Tengelmann für mindestens fünf Jahre sichert. Auch soll Edeka die drei Birkenhof-Fleischwerke mindestens drei Jahre halten.
Gabriel verschärft die Auflagen: Zusätzlich zu den „aufschiebenden Bedingungen“, die vor Vollzug der Übernahme erfüllt sein müssen, formuliert er „auflösende Bedingungen“. Das Geschäft könnte damit bei Verstößen gegen diese Auflagen rückgängig gemacht werden.
Der Minister gibt seine Erlaubnis unter Auflagen bekannt. Er begründet dies mit der Sicherung der Arbeitsplätze. Rewe, Markant und Norma reichen Beschwerde beim Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf ein. Parallel stellen Rewe und Markant einen Eilantrag, um zu verhindern, dass die Übernahme vor der Gerichtsentscheidung unter Dach und Fach gebracht wird.
Das OLG Düsseldorf legt die Übernahme auf Eis. Es stuft die Ministererlaubnis im Eilverfahren als rechtswidrig ein – unter anderem wegen möglicher Befangenheit Gabriels. Außerdem sieht das Gericht im Erhalt der Arbeitnehmerrechte keinen Gemeinwohlgrund. Gabriel weist die Vorwürfe zurück.
Edeka legt gegen den OLG-Eilbeschluss beim Bundesgerichtshof (BGH) eine sogenannte Nichtzulassungsbeschwerde ein. Auch Tengelmann und das Bundeswirtschaftsministerium rufen den BGH kurz darauf an.
Edeka hat sämtliche Tarifverträge mit Verdi für die Übernahme von Kaiser's Tengelmann in der Tasche. Wenige Tage später folgt die Einigung mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten für die rund 400 Beschäftigten der drei Birkenhof-Fleischwerke. Damit erfüllt Edeka Auflagen der Ministererlaubnis.
Das OLG Düsseldorf setzt für den 16. November eine Verhandlung für das Hauptverfahren gegen die Ministererlaubnis an. Am 15. November will der BGH über die Beschwerden gegen das Vorgehen des OLG aus dem Eilverfahren entscheiden.
Verdi ruft zu einem Spitzengespräch. Tengelmann, Edeka, Rewe, Markant und die Gewerkschaft einigen sich darauf, an einer „tragfähigen, gemeinsamen Lösung“ arbeiten zu wollen.
Nach einer Aufsichtsratssitzung erklärt Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub, er gebe der Suche nach einer gemeinsamen Lösung noch eine letzte Chance. Die Frist dafür beträgt zwei Wochen. Dann entscheidet er, ob er die Kette zerschlägt.
Bei einem zweiten Spitzentreffen vereinbaren die Supermarktchefs überraschend, dass die Edeka-Konkurrenten ihre Klage zurückziehen und damit den Weg frei machen für die Übernahme. Sie geben sich Zeit bis zum 17. Oktober.
Die Gespräche werden am 13. Oktober vor Ablauf der Einigungsfrist abgebrochen. Tengelmann-Eigentümer Karl-Erivan Haub fühlt sich von Rewe-Chef Alan Caparros übervorteilt und will die Mitarbeiter am 14. Oktober über die Zerschlagung der Supermarktkette informieren.
Hinzu kommen höhere Personalkosten. Durch den Platzmangel können immer nur wenige Produkte im Regal stehen, sodass diese öfter nachgefüllt werden müssen. Das bindet Mitarbeiter. Außerdem müssen Regale enger gestellt werden, um den Platz für die Waren bereitzustellen. Von den weitläufigen Wohlfühl-Einkaufswelten, die die Supermärkte gerade gerne errichten, ist das meilenweit entfernt.
Wie Rewe das Platzproblem löst
Für Kunden, deren Kaiser’s Tengelmann nun zu einem Netto wird, gehen deshalb niedrigere Preise auch mit einer geringeren Produktauswahl einher. Denn Kaiser’s Tengelmann hat zuvor in seinen Läden ein Vollsortiment geführt – mit den beschriebenen Problemen. Andere Supermarktbetreiber lösen das Platzproblem mit Konzepten für verschiedene Ladengrößen. Vor allem Rewe hat mit seinen kleinen Supermärkten „Rewe City“ und „Rewe to go“ Konzepte, bei denen die Produktauswahl geringer und eher auf Laufkundschaft ausgerichtet ist. So lassen sich auch kleinere Standorte sinnvoll betreiben.
Das dürfte sich besonders in Berlin als nützlich erweisen. Da hier nicht in wenigen hundert Metern Entfernung ein neuer Supermarkt mit großer Verkaufsfläche eröffnet werden kann, lohnt sich hier auch der Betrieb kleiner Filialen.
Im Gegensatz zu Edeka hat Rewe auch keinen Laden an seine Discount-Tochter weitergegeben. Penny geht nach der Übernahme leer aus. Roeb sieht dafür einen einfachen Grund: „Rewe bekam zwar weniger Filialen, hatte dafür aber mehr Einfluss bei der Auswahl. Bei der Edeka war es umgekehrt.“