Kriselnde Modeketten „Die Casualisierung der Mode ist kaum auszuhalten“

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Boohoo: Kraftstrotzend und noch nicht allen bekannt

Vorbildlich agiert in diesem Zusammenhang ein hierzulande vor allem in jungen Altersklassen bekanntes Mode-Unternehmen: die 2006 in Manchester gegründete Boohoo-Gruppe. Heute gehören der Firma auch die Marken „pretty little thing“ sowie „Miss Pap“ und „Nasty Gal“. Die Zielgruppe bilden Teenager und junge Heranwachsende; anfangs vor allem Mädchen und junge Frauen, mittlerweile aber auch junge Männer. Die Kollektionen wechseln rasant, die Preise sind überschaubar. Der Boohoo-Umsatz stieg im vergangenen Jahr auf umgerechnet rund 974 Millionen Euro – ein sagenhaftes Plus von fast 48 Prozent.

Zwar entfällt derzeit noch fast die Hälfte des Boohoo-Geschäfts auf das Vereinigte Königreich, aber es würde überraschen, wenn die günstigen Kleider, Hosen, Oberteile und Röcke nicht auch zunehmend in Deutschland nachgefragt würden. Der zum Otto-Konzern gehörende Mode-Versandhändler About you etwa führt Boohoo-Kleidung. „Deutsche sind und bleiben preissensibel“, sagt auch Achim Berg, „deshalb werden sich Vertreter des Mode-Value und -Discounts hierzulande auch weiterhin behaupten.“

Zusammenarbeit mit Influencern wird immer wichtiger

„Viele der Marken, die jetzt in Schwierigkeiten stecken, haben austauschbare Kollektionen“, kritisiert Annette Weber. Heutzutage gebe es kaum noch Bedarfskäufe, erläutert sie. „Somit gilt die Regel: Ich brauche es nicht – ich will es. Und gerade diese Begehrlichkeit haben ganz viele Firmen versäumt, anzufachen.“ Dabei helfen kann laut Weber die Zusammenarbeit mit Influencern – in der Modebranche freilich keine neue Erkenntnis. „Das wollen viele aber immer noch nicht wahrhaben: Ohne Influencer kann man als Marke kaum noch kommunizieren.“ Prominentes Beispiel: Der französische Luxuskonzern LVMH kooperiert mit Sängerin Rihanna, um deren Marke Fenty zu verkaufen.

Die Kunden, vor allem die jüngeren, wollten persönlich angesprochen werden, weiß Weber. Früher hätten Supermodels oder Freunde diesen Job innegehabt. „Die Rolle der besten Freundin haben mittlerweile Influencer übernommen.“ Boohoo etwa zählt auf Instagram 6,1 Millionen Abonnenten. Zum Vergleich: Tom Tailor folgen auf der Plattform gerade einmal 85.000 Interessierte, S.Oliver kommt auf 135.000 Instagram-Abonnenten. Zu den Berühmtheiten, die mit Boohoo zusammenarbeiten, zählen die US-amerikanische Schauspielerin und Schönheitswettbewerb-Teilnehmerin Caelynn Miller-Keyes, die australische Athletin Georgie Clarke, die Beeinflusserin Emily Shak. Alle bringen enorme Mengen an Fans mit – und so natürlich potenzielle Kunden. Doch Weber weiß auch: „Du kannst den geilsten Influencer haben – wenn die Marke mies ist, nützt es nichts.“

von Peter Steinkirchner, Rüdiger Kiani-Kreß

Zweiter großer Gewinner: die Freizeit-Sport-Mode

Insofern haben noch Vertreter eines anderen Mode-Segments einen Vorteil: jene höherpreisigen Marken, die vom anhaltenden Streetwear-Trend profitieren. McKinsey-Berater Achim Berg sagt: „Große Gewinner sind derzeit die Sportspieler.“ Oder wie Bloggerin Annette Weber es ausdrückt: „Die Casualisierung der Mode ist kaum noch auszuhalten.“ Mittlerweile, sagt Berg, hätten „alle mitbekommen, dass Streetwear ein Thema ist. Fast jeder läuft heute in weißen Turnschuhen zum Geschäftstermin. Und weil die meisten Sportartikler im Premiumsegment zu finden sind und durchschnittlich zwei Drittel ihres Umsatzes mit Schuhen machen, sind die Margen entsprechend erfreulich.“

Laut der „Textilwirtschaft“-Auflistung sind viele der größten Gewinner des vergangenen Jahres auch in dieser Kategorie zu finden: Allen voran die britische Pentland-Gruppe (plus 39 Prozent Umsatzsteigerung) mit der italienischen Sportmarke Ellesse, die sich seit ein paar Jahren dank des Retro-Trends extremer Beliebtheit erfreut. Tennis-Legende Boris Becker gewann 1985 in einem Ellesse-Shirt Wimbledon, der französische Formel-1-Fahrer Alain Prost trug in seiner erfolgreichen Zeit Mitte der Achtzigerjahre ebenfalls die Marke. Heute zeigt sich unter anderem der US-Rapper Fabolous in Ellesse-Joggingbekleidung – natürlich Instagram-tauglich inszeniert.

Aber auch die britische Unternehmung Supergroup mit der Marke Superdry verzeichnete im vergangenen Jahr ein Plus von 15 Prozent (auf 1,1 Milliarden Euro Umsatz), die beiden Herzogenauracher Wettbewerber Puma (plus 12,4 Prozent) und Adidas (plus 3,3 Prozent) wuchsen ebenso wie Tommy Hilfiger (plus 11,8 Prozent) und der norwegische Jackenhersteller Helly Hansen (plus 24 Prozent). Der größte dieser Gruppierung, die im Dax gelistete Adidas-Gruppe, wächst auch neuesten Veröffentlichungen zufolge vor allem mit jenen Sportschuhen, die die Menschen in erster Linie nicht anziehen, um damit Sport zu treiben. Adidas-Chef Kasper Rorsted betonte auf der vergangenen Präsentation der Halbjahreszahlen im September die Bedeutung der Freizeit-Sportkollektion „Adidas Originals“ mit den Worten: „Das ist die wichtigste Grundlage, die wir haben.“

Diesem Trend können sich auch die Luxusschneider kaum verschließen. Insofern hatte der im Februar verstorbene Chanel-Chefdesigner Karl Lagerfeld auf lange Sicht Unrecht mit seinem Bonmot: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Längst gibt es auch Jogginghosen von Gucci (1400 Euro) oder Burberry (650 Euro).

Selbstverständlich haben auch die erwähnten kriselnden Mittelpreis-Modeanbieter den Streetwear-Trend erkannt und bieten mittlerweile entsprechende Kollektionen an. Die Frage ist nur, ob es dafür nicht schon zu spät ist. McKinsey-Experte Berg vermutet, dass sie es auch in Zukunft schwer haben werden. Bei deutschen Mittelpreis-Modemarken, sagt Berg, „fehlt es vor allem an Geld fürs Digitale, für Nachhaltigkeit, fürs Marketing – die Mittel dafür haben viele derzeit nicht. Es könnte also durchaus noch mehr Insolvenzen deutscher Modefirmen geben. Denn sie sind immer nur so gut wie ihre letzte Kollektion.“

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