Landwirtschaft Die Schuldfrage im Kampf um die Milch

Weniger als 20 Cent zahlen einige Molkereien ihren Bauern inzwischen für den Liter Milch, ein Negativrekord. Die Landwirtschaft steckt in einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte. Sind die Bauern selbst schuld?

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Der Milchpreis, den Landwirte von den Molkereien erhalten, ist innerhalb weniger Wochen um weitere 30 Prozent gefallen. Quelle: dpa

„Die Bauern haben doch immer was zu jammern“, heißt es oft. Aber diesmal sind die Proteste begründet. Der Milchpreis, den Landwirte von den Molkereien erhalten, fällt seit zwei Jahren dramatisch. Nun ist er innerhalb weniger Wochen um weitere 30 Prozent gefallen. Erstmals erhalten einige Milchbauern aus Niedersachsen weniger als 20 Cent für einen Liter Rohmilch.

Laut dem Verband der Milchviehhalter bräuchte ein Landwirt mindestens 40 Cent pro Liter, um einen Gewinn zu verzeichnen. Der Preis fällt seit Jahren. Die Folgen sind bereits sichtbar: Die Zahl der Milchbauern hat sich in den vergangenen zehn Jahren um ein ganzes Drittel verringert.

Der Milchmarkt ist hart umkämpft, viele Faktoren spielen eine Rolle – von EU-Sanktionen gegen Russland über eine geringere Nachfrage in China, das Problem der Überproduktion bis zu den Erdöl exportierenden Staaten, die ein Drittel der weltweit gehandelten Milchprodukte importieren.

Der komplizierte Milchmarkt

Ende des Monats sollen mögliche Hilfszahlungen auf einem Milchgipfel besprochen werden, an dem Politiker, Molkereien und Bauernvertreter auf Einladung von Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU) teilnehmen werden. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete unter Berufung auf Schmidts Umfeld, im Gespräch seien Direkthilfen für Milchbauern im Wert von 60 bis 100 Millionen Euro.

Seit Mitte November 2015 erhalten europäische Bauern bereits 500 Millionen Euro von der EU; davon gehen 70 Millionen Euro an deutsche Landwirte. Aus Sicht des Agrarökonomen Alfons Balmann, Direktor des Leibniz-Institut für Agrarentwicklung (IAMO), eine Summe, die nicht der Rede wert ist. „Wir reden hier von Milliarden, die der Landwirtschaft gerade verloren gehen. Da sind hundert Millionen nur Peanuts“. Grund dafür sei unter anderem die Überproduktion in der Branche.

In Deutschland und in ganz Europa wird mehr Milch produziert als nachgefragt. Aber auch die globale Produktion bietet zur Zeit mehr Angebot, als Nachfrage herrscht, sagt Balmann. „Indien und die europäische Union stellen mittlerweile die Hälfte der weltweiten Milchproduktion.“ Das Überangebot drückt die Preise auf ein Niveau, das viele Produzenten als ruinös bezeichnen.

Die Landwirte seien Schuld weil sie zu viel produzieren, schreiben die einige Facebook-User, der Handel sei schuld, die anderen, weil er die Preise immer weiter absenkt. Immerhin: Discount-Marktführer Aldi und sein kleinerer Konkurrent Norma senkten die Preise für einen Liter frische Vollmilch erst kürzlich um 13 Cent von 59 auf 46 Cent – ein Preisabschlag von fast 25 Prozent, und die Molkereien seien schuld, weil sie zu wenig vom Ertrag an den Landwirt abgeben. Oder aber der Konsument appelliert selbst an die anderen Konsumenten, freiwillig mehr Geld für das Produkt zu bezahlen. Schließlich findet die Billig-Milch rasanten Absatz. Aber wer hat denn nun Schuld? Wir haben uns quer durch die Lieferkette gefragt, auf der Suche nach Verantwortlichen. Die Ergebnisse waren überraschend.

Geteilte Meinung unter Milchbauern


Die Erzeuger

Im bundesweiten Durchschnitt hält ein deutscher Milchbauer bis zu 60 Tiere. Aber fast die Hälfte aller Betriebe besteht aus 100 und mehr Kühen. Wir haben mit einem Milchbauern aus Niedersachsen gesprochen, der mit einer Fläche von 500 Hektar und fast 900 Tieren zu den größeren Betrieben im Land gehört. Für einen Liter Rohmilch bekommt er aktuell 23,5 Cent. „Meine Kosten werden dadurch noch nicht einmal annähernd gedeckt“. Die Erzeugungskosten von 28 Cent pro Liter übersteigen den Milchpreis. „Hätten wir nicht noch zusätzliche Einnahmen durch unsere Biogasanlage, würden wir ein Minus von fast fünf Cent pro verkauftem Liter machen“. Um ohne Quersubventionierung über die Runden zu kommen, wären aus seiner Sicht etwas über 30 Cent nötig. Trotzdem glaubt er, dass der Markt sich selbst regulieren wird.

Milchbauern fahren am 24.08.2015 zu einer Protestkundgebung gegen die fallenden Milchpreise ins Stadtzentrum von Schwerin. Quelle: dpa

Seinen Namen möchte der Milchbauer nicht öffentlich preisgeben. Denn die Meinung des jungen Familienvaters ist bei seinen Berufskollegen nicht sehr beliebt. „Ich glaube nicht, dass das Eingreifen der Politik der richtige Weg ist“. Die Nachfrage sei eben einfach nicht da.

Nach dem Ende der Milchquote zum ersten April 2015 konnte jeder Betrieb so viel Milch ausliefern wie er wollte. Viele nutzten die Chance und tätigten Investitionen in neue Techniken, Maschinen oder eine Erweiterung ihres Stalls. „Das war ein guter Zeitpunkt für Investitionen. Für 2016 haben alle mit einem guten Milchwirtschaftsjahr gerechnet“. Also hätten viele Betriebe auf steigende Nachfrage gesetzt. Und sich verschätzt.

Top 5 der weltweit umsatzstärksten Molkereien

Das sieht Hans Foldenauer vom Bundesverband deutscher Milchviehhalter entschieden anders. Er selbst leitet einen Hof mit 95 Milchkühen, gehört also zu den kleineren Betrieben. Dadurch ist er stärker von den extremen Preisschwankungen betroffen. Man bräuchte mindestens 40 Cent pro Liter, um über die Runden zu kommen, sagt er. Mit den aktuellen Preisen würde kein Betrieb lange überleben. „Die Molkereien haben ihre Landwirte aufgefordert, mehr Milch zu liefern, und beteuert, dass die Abnahme kein Problem ist“. Sein Vorwurf: Die Molkereien hätten die Lage falsch dargestellt. Nun frage sich jeder, warum die Bauern so viel Überproduktion hätten.

Foldenauer moniert: „Die Molkereien wollten ihre Marktanteile ausbauen, und haben von steigendem Absatz in Russland, China und dem Rest Asiens geträumt“. Beim Handel hätten sie sich dann gegenseitig unterboten. „Die unternehmerischen Interessen kommen auch bei einer genossenschaftlichen Molkerei vor denen des einzelnen Milchbauern.“ Die schiere Größe mancher Genossenschaften mache die „hochgelobte Mitbestimmung einzelner Landwirte“ zu einer Farce.

Der Strukturwandel in der Milchviehhalterbranche ist in vollem Gange. Die aktuell fast viereinhalb Millionen Kühe verteilen sich laut dem aktuellen Situationsbericht des Deutschen Bauernverbandes auf nur noch auf knapp 75.000 Betriebe in ganz Deutschland. „Das ist hart für die Einzelschicksale, aber viele Betriebe, kleine und größere, werden diesen Strukturwandel nicht überleben“, sagt unser anonymer Milchbauer. So würde der Markt sich auf lange Sicht eben selbst regulieren.

Autonome Erntehelfer
Eine landwirtschaftliche Maschine auf einem Feld Quelle: Claas
Traktoren mit Lenksystem Quelle: Claas
Agrobot, mechanischer Erntehelfer Quelle: Agrobot
Feldroboter Quelle: David Dorhout
Ein Flugroboter wird über einem Feld fliegen gelassen Quelle: dpa
Satellitenbild Quelle: NASA astronauts
Ein Landwirt ruft Daten in einem Traktor ab Quelle: Claas

Dieses Argument hat Foldenauer hingegen schon längst aufgegeben: „Seit 30 Jahren haben wir diesen Strukturwandel. Selbst geholfen hat der Markt sich noch nie“. Was passiert, wenn man so ein großes Marktsegment sich selbst überlässt, habe man schließlich bei der Finanzkrise 2008 gesehen: „Da hat die Selbstregulierung ja auch hervorragend geklappt“, fügt er sarkastisch an.

Foldenauer fordert eine zeitlich begrenzte EU-Milchquote, um den Produktionsüberschuss in den Griff zu bekommen. Der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM) fordert zudem 30 Cent staatlichen Zuschuss für jeden nicht produzierten Liter, um die Menge zu begrenzen. „Aber Molkereien und Bauernverband stellen sich quer“.

Handel und Verbraucher sehen beide Milchbauern nur zum Teil in der Verantwortung. „Der Verbraucher ist eine arme Sau. Er weiß ja gar nicht mehr, was er glauben kann“, sagt Foldenauer. Die Verantwortung für die Milchkrise gebe er den Verbrauchern daher auf keinen Fall. „Wir sind preislich mittlerweile allerdings schon an einem Punkt, an dem man sich fragen muss, wie viel Wertigkeit ein tierisches Produkt haben sollte. Hier werden Milliarden an Erzeugungskosten verschleudert“, sagt der anonyme Konkurrent. Und ob das noch mit der neu entdeckten Liebe der Supermarktketten für regionale Produkte zusammenpasse, sei eine weitere Frage.

Molkereien: „Ungleichgewicht bei Angebot und Nachfrage“


Die Molkereien
Die deutsche Milchindustrie setzt jährlich 26 Milliarden Euro um. Damit ist sie der mit Abstand umsatzstärkste Lebensmittelhersteller in Deutschland. Wolfgang Rommel leitet die deutsche Unternehmenskommunikation des internationalen Molkereikonzerns Arla Foods. Mit 13.000 Milchbauern ist das Unternehmen eine der weltweit größten Molkereigenossenschaften. Das Problem der Überproduktion im Milchbereich sei kein deutsches Problem, sondern ein globales. „Es herrscht ein weltweites Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Das wirkt sich erheblich auf die Preisentwicklung des heimischen Marktes aus“, sagt Rommel.

Ein Ende dieses Ungleichgewichts sieht er nicht, stattdessen rechnet Rommel mit einer weiteren Negativentwicklung des Marktes. „Das Russland-Embargo, die sinkende Kaufkraft Chinas und die Subventionierung von Milchbauern in anderen EU-Ländern wie Irland und den Niederlanden trägt zum Preisverfall bei“. Der sinkende Absatz in arabischen Ländern aufgrund des Ölpreisverfalls, sei ein weiterer Faktor. Das Angebot müsse der Nachfrage angepasst werden.

Anders als die beiden Landwirte nimmt Rommel allerdings auch den Verbraucher in die Verantwortung: „Die Deutschen haben aufgrund ihrer Discounter-Mentalität eine starke Tendenz, bei Lebensmitteln zu sparen“. Da sei der schöne Urlaub wichtiger als ein fairer Milchpreis.

Dass sich Molkereien tatsächlich auf einen steigenden Absatz im Milchmarkt eingestellt hatten, belegt eine Broschüre des Milchindustrie-Verbandes aus dem vergangenen Jahr wieder. Dort heißt es wörtlich: „Profitieren können davon (von der Abschaffung der Milchquote, Anm.d.Red.) besonders Lieferanten exportorientierter Molkereien, da gerade auf dem Weltmarkt die Nachfrage nach Milchprodukten erheblich gestiegen war und auch in Zukunft wieder weiter zunehmen wird“.

 

Der Handel
Der Handelsverband Deutschland (HDE) sieht die weggebrochenen Märkte in Russland und China als Hauptgrund für die Überproduktion. Dadurch seien die Erzeuger nicht zu auskömmlichen Preisen zu entlohnen. Hauptgeschäftsführer Stefan Genth beteuert allerdings, dass gerade aufgrund dieser Situation keine harten Verhandlungen mit den Molkereien geführt würden.

Die aktuell fallenden Einkaufspreise seien dementsprechend lediglich die Möglichkeit, die niedrigen Erzeugerpreise auch an den Verbraucher weiterzugeben. Außerdem „stellen wir fest, dass dem Handel im marktwirtschaftlichen System und nach den wettbewerbsrechtlichen Regeln keine anderen Verhaltensweisen möglich sind“. Dennoch verschließe sich der deutsche Lebensmitteleinzelhandel nicht temporären Lösungen und stünde auch der Politik gerne zu Gesprächen zur Verfügung. Wieviel Gewinn pro Liter gemacht werden, konnte der Verband nicht sagen.

Die größten Lebensmittelhändler Deutschlands

Preissenkungen wie die von Aldi haben allerdings in der Regel Signalwirkung und Auswirkungen auf den gesamten Handel. Viele Wettbewerber orientieren sich im Preiseinstiegsbereich an der Nummer eins unter den günstigen Anbietern.

Aldi Nord begründete die Rotstiftaktion mit dem Überangebot auf dem globalen Milchmarkt. Die Molkereien hätten deshalb die Milch billiger angeboten, und es gehöre zu den Grundsätzen der Preispolitik des Unternehmens, günstigere Einkaufspreise an die Verbraucher weiterzugeben. Der Lebensmitteleinzelhandel sei nicht für das aktuelle Überangebot an Rohmilch verantwortlich.

Ist das Konsumverhalten der Verbraucher schuld?

Die Verbraucher
Konsumenten diskutieren schon seit einigen Tagen lebhaft in den sozialen Netzwerken. Viele sehen die Schuld bei den Landwirten. Andere fordern dazu auf, freiwillig zur teureren Milch zu greifen.

Zu Beginn des Jahres hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen e.V. die Wahrnehmung und das Ansehen der deutschen Milchwirtschaft in den Augen der deutschen Verbraucher untersuchen lassen. Für nahezu jeden Deutschen (98 Prozent) gehören Milchprodukte zur täglichen Ernährung. Lediglich 44 Prozent wussten zum Zeitpunkt der Befragung allerdings, wie viel ein Liter dieses für sie so wichtigen Grundnahrungsmittels kostet. Obwohl mehr als die Hälfte aller Befragten in letzter Zeit Presseberichte über die Milchwirtschaft in Europa und in Deutschland wahrgenommen hat, sogar 81 Prozent von den Protesten der Milchbauern gehört oder gelesen haben und zwei Drittel wissen, dass diese Proteste mit sinkenden Milchpreisen zu tun haben, weiß nur ein Viertel aller Deutschen korrekt, in welcher Cent-Spanne derzeit der Milchauszahlungspreis in Deutschland liegt.

Groß ist auch die Skepsis gegenüber den Molkereien. Fast drei Viertel der Befragten haben Zweifel daran, dass die Milchindustrie aufrichtig kommuniziert, wenn es um die Begründung der aktuell niedrigen Milchauszahlungspreise für die Bauern geht. Die Begründung der Molkereien, dass der aktuelle Preisverfall durch „massive, nicht vorhersehbare Einbrüche des Weltmarkts“ verursacht sei, halten nur 23 Prozent für glaubwürdig; 73 Prozent dagegen für unglaubwürdig.

Die Situation sei allerdings weitaus komplizierter, als die meisten Verbraucher wüssten, betont Agrarökonom Alfons Balmann. Viele Bauern, die mit Aussicht auf einen steigenden Milchpreis Investitionen getätigt, und Kredite aufgenommen haben, hätten nun ein Liquiditätsproblem. Mit dem Gesetz der Marktbereinigung, nach dem nur der effizient wirtschaftende Betrieb überlebt, habe das nichts mehr zu tun: „Wir haben momentan eine Extremsituation. Hier sollten Lösungen gefunden werden, damit Betriebe, die dem strukturellen Wandel eigentlich standhalten würden, jetzt nicht scheitern. Nur weil sie kurzfristig ihre Kredite nicht zahlen können“.

Die Schuldfrage sollte nach Meinung des Ökonomen keine Rolle spielen. Es sei schlicht nicht der eine Schuldige auszumachen. Nur der Lösungsansatz ist für Balmann klar: „Das, was die Politik jetzt diskutiert, hat lediglich eine Alibi-Funktion.“ Dabei werde die enorme Macht des Einzelhandels unterschätzt.

„Man muss sich die Frage stellen, inwieweit der Handel nicht auch im eigenen Interesse ein Stück weit gesellschaftliche Verantwortung übernehmen muss.“ Zum einen um sich auch zukünftig die Belieferung mit hochwertigen und sicheren Milchprodukten zu sichern. Zum anderen, weil der Einzelhandel auch sonst enorm auf seinen guten Ruf achte, argumentiert Balmann. „Aldi etwa hat trotz aller Härte in Preisverhandlungen bei den Lieferanten einen extrem guten Ruf als verlässlicher Marktpartner, ebenso wie bei den Verbrauchern“.

Eine Lösung gäbe es nur, wenn Handel, Molkereien und Landwirtschaft zusammenarbeiten. Sonst, fürchtet der Agrarökonom, könnte ein irreparabler Schaden für die Milchwirtschaft entstehen.

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