
„Die Bauern haben doch immer was zu jammern“, heißt es oft. Aber diesmal sind die Proteste begründet. Der Milchpreis, den Landwirte von den Molkereien erhalten, fällt seit zwei Jahren dramatisch. Nun ist er innerhalb weniger Wochen um weitere 30 Prozent gefallen. Erstmals erhalten einige Milchbauern aus Niedersachsen weniger als 20 Cent für einen Liter Rohmilch.
Laut dem Verband der Milchviehhalter bräuchte ein Landwirt mindestens 40 Cent pro Liter, um einen Gewinn zu verzeichnen. Der Preis fällt seit Jahren. Die Folgen sind bereits sichtbar: Die Zahl der Milchbauern hat sich in den vergangenen zehn Jahren um ein ganzes Drittel verringert.
Der Milchmarkt ist hart umkämpft, viele Faktoren spielen eine Rolle – von EU-Sanktionen gegen Russland über eine geringere Nachfrage in China, das Problem der Überproduktion bis zu den Erdöl exportierenden Staaten, die ein Drittel der weltweit gehandelten Milchprodukte importieren.
Der komplizierte Milchmarkt
Die Produktion in den führenden Milcherzeugerländern ist weltweit überproportional gewachsen. Der Hauptgrund dafür sind die hohen Preise der Vergangenheit.
Bei mehr als 40 Cent pro Liter, die die Bauern zwischenzeitlich einheimsten, war die Milchproduktion ein durchaus profitables Geschäft. Also haben sie Kühe gekauft, um mehr zu produzieren und mehr Geld zu verdienen. Aus Sicht jedes einzelnen Bauern ein logisches Verhalten. Wenn aber sehr viel Bauern so handeln, gibt es irgendwann insgesamt zu viel Milch auf dem Markt - und wenn sich die Nachfrage nicht im gleichen Maß erhöht, sinkt der Preis wieder. Für die sinkende Nachfrage gibt es ebenfalls benennbare Gründe.
Zum einen sorgen das Russland-Embargo für einen Rückgang im Milchexport. Zum anderen sorgt die dauerhaft geringe Milchpulver-Nachfrage Chinas, als größtem Abnehmer der deutschen Milch, für Überkapazitäten am Markt. Zusätzlich sinkt die Kaufkraft der Erdöl exportierenden Staaten, die ein Drittel der weltweit gehandelten Milchprodukte importieren, aufgrund des gefallenen Ölpreises.
Die Milchquote wurde 1984 von der damaligen Europäischen Gemeinschaft eingeführt, um die Milchproduktion in den Mitgliedsstaaten zu beschränken. Sie war eine Reaktion auf die steigende Agrarproduktion, die bereits Ende der 1970er-Jahre zu den sprichwörtlichen Milchseen und Butterbergen geführt hatte. Die Überschüsse wurden teuer vom Markt gekauft. Ursprünglich nur für fünf Jahre geplant, wurde die Quote immer und immer wieder verlängert. Wer mehr Milch als vereinbart produzierte, musste eine sogenannte Superabgabe zahlen. Bis zum April 2015. Ab jetzt durften die Erzeuger soviel Milch produzieren wie sie wollen und können. Die Quote wird vor allem wegen anhaltender Erfolgslosigkeit abgeschafft. Butterberge und Milchseen wurden zwar kleiner. Die Preise schwankten allerdings trotzdem.
In den 50er Jahren war schon ein großer Milchbauer, wer zehn Kühe besaß. Um zu existieren, müsste ein Betrieb in dieser Größe heute Milchpreise von mehreren Euro pro Liter verlangen. Das geht nicht. In Deutschland gab es 1996 noch 186.000 Milchbauern, heute liegt ihre Zahl etwa bei 101.000. Sie sinkt jährlich um etwa fünf Prozent. Im bundesweiten Durchschnitt hält ein deutscher Milchbauer bis zu 60 Tiere. Aber fast die Hälfte aller Betriebe besteht aus 100 und mehr Kühen.
Ende des Monats sollen mögliche Hilfszahlungen auf einem Milchgipfel besprochen werden, an dem Politiker, Molkereien und Bauernvertreter auf Einladung von Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU) teilnehmen werden. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete unter Berufung auf Schmidts Umfeld, im Gespräch seien Direkthilfen für Milchbauern im Wert von 60 bis 100 Millionen Euro.
Seit Mitte November 2015 erhalten europäische Bauern bereits 500 Millionen Euro von der EU; davon gehen 70 Millionen Euro an deutsche Landwirte. Aus Sicht des Agrarökonomen Alfons Balmann, Direktor des Leibniz-Institut für Agrarentwicklung (IAMO), eine Summe, die nicht der Rede wert ist. „Wir reden hier von Milliarden, die der Landwirtschaft gerade verloren gehen. Da sind hundert Millionen nur Peanuts“. Grund dafür sei unter anderem die Überproduktion in der Branche.
In Deutschland und in ganz Europa wird mehr Milch produziert als nachgefragt. Aber auch die globale Produktion bietet zur Zeit mehr Angebot, als Nachfrage herrscht, sagt Balmann. „Indien und die europäische Union stellen mittlerweile die Hälfte der weltweiten Milchproduktion.“ Das Überangebot drückt die Preise auf ein Niveau, das viele Produzenten als ruinös bezeichnen.
Die Landwirte seien Schuld weil sie zu viel produzieren, schreiben die einige Facebook-User, der Handel sei schuld, die anderen, weil er die Preise immer weiter absenkt. Immerhin: Discount-Marktführer Aldi und sein kleinerer Konkurrent Norma senkten die Preise für einen Liter frische Vollmilch erst kürzlich um 13 Cent von 59 auf 46 Cent – ein Preisabschlag von fast 25 Prozent, und die Molkereien seien schuld, weil sie zu wenig vom Ertrag an den Landwirt abgeben. Oder aber der Konsument appelliert selbst an die anderen Konsumenten, freiwillig mehr Geld für das Produkt zu bezahlen. Schließlich findet die Billig-Milch rasanten Absatz. Aber wer hat denn nun Schuld? Wir haben uns quer durch die Lieferkette gefragt, auf der Suche nach Verantwortlichen. Die Ergebnisse waren überraschend.