Alle paar Jahre im Mai wiederholt sich ein Schauspiel, dessen Drehbuch so vorhersehbar ist wie das der Passionsspiele in Oberammergau. Erster Akt, Auftritt des Bösewichts: „Discounter senken die Milchpreise auf Rekordniveau.“ Zweiter Akt, dramatische Folge: „Milchbauern in ihrer Existenz bedroht.“ Dritter Akt, Katastrophe: „Das große Höfesterben setzt sich fort.“ Was die mitfühlenden Zuschauer dann meist nur noch am Rande mitbekommen, nennt sich in diesem Jahr „Milchgipfel“, findet am Montag in Berlin statt und bedeutet: Es gibt für die Bauern Geld vom Staat.
Diesmal sollen die deutschen Milchbauern sollen Soforthilfen von mindestens 100 Millionen Euro bekommen. Über die genaue Höhe werde er noch Gespräche führen, sagte Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU).
Die Frage ist nur: Ist die Lage tatsächlich so ernst?
Der komplizierte Milchmarkt
Die Produktion in den führenden Milcherzeugerländern ist weltweit überproportional gewachsen. Der Hauptgrund dafür sind die hohen Preise der Vergangenheit.
Bei mehr als 40 Cent pro Liter, die die Bauern zwischenzeitlich einheimsten, war die Milchproduktion ein durchaus profitables Geschäft. Also haben sie Kühe gekauft, um mehr zu produzieren und mehr Geld zu verdienen. Aus Sicht jedes einzelnen Bauern ein logisches Verhalten. Wenn aber sehr viel Bauern so handeln, gibt es irgendwann insgesamt zu viel Milch auf dem Markt - und wenn sich die Nachfrage nicht im gleichen Maß erhöht, sinkt der Preis wieder. Für die sinkende Nachfrage gibt es ebenfalls benennbare Gründe.
Zum einen sorgen das Russland-Embargo für einen Rückgang im Milchexport. Zum anderen sorgt die dauerhaft geringe Milchpulver-Nachfrage Chinas, als größtem Abnehmer der deutschen Milch, für Überkapazitäten am Markt. Zusätzlich sinkt die Kaufkraft der Erdöl exportierenden Staaten, die ein Drittel der weltweit gehandelten Milchprodukte importieren, aufgrund des gefallenen Ölpreises.
Die Milchquote wurde 1984 von der damaligen Europäischen Gemeinschaft eingeführt, um die Milchproduktion in den Mitgliedsstaaten zu beschränken. Sie war eine Reaktion auf die steigende Agrarproduktion, die bereits Ende der 1970er-Jahre zu den sprichwörtlichen Milchseen und Butterbergen geführt hatte. Die Überschüsse wurden teuer vom Markt gekauft. Ursprünglich nur für fünf Jahre geplant, wurde die Quote immer und immer wieder verlängert. Wer mehr Milch als vereinbart produzierte, musste eine sogenannte Superabgabe zahlen. Bis zum April 2015. Ab jetzt durften die Erzeuger soviel Milch produzieren wie sie wollen und können. Die Quote wird vor allem wegen anhaltender Erfolgslosigkeit abgeschafft. Butterberge und Milchseen wurden zwar kleiner. Die Preise schwankten allerdings trotzdem.
In den 50er Jahren war schon ein großer Milchbauer, wer zehn Kühe besaß. Um zu existieren, müsste ein Betrieb in dieser Größe heute Milchpreise von mehreren Euro pro Liter verlangen. Das geht nicht. In Deutschland gab es 1996 noch 186.000 Milchbauern, heute liegt ihre Zahl etwa bei 101.000. Sie sinkt jährlich um etwa fünf Prozent. Im bundesweiten Durchschnitt hält ein deutscher Milchbauer bis zu 60 Tiere. Aber fast die Hälfte aller Betriebe besteht aus 100 und mehr Kühen.
Der Absturz des Milchpreises klingt besorgniserregend. 46 Cent kostet der Liter Frischmilch aktuell im Durchschnitt bei den Discountern. Bei den Bauern kommen davon zwischen 17 und 23 Cent an – selbst für abgefülltes Trinkwasser zahlen Kunden mehr.
„Die Fokussierung auf Konsummilch wird der Marktlage nicht gerecht“, sagt jedoch Andreas Gorn, Leiter des Bereichs Milchwirtschaft bei der Agrarmarkt-Informationsgesellschaft (AMI). Die drastische Zahl ist zwar öffentlichkeitswirksam, sagt aber über die tatsächliche Ertragslage der Bauern nur wenig aus. Grund: Nur gut zehn Prozent der deutschen Milch gelangen zum direkten Verzehr in den Handel.
Der überwiegende Teil wird als Milchpulver ins Ausland exportiert oder weiterverarbeitet, zum Beispiel zu Käse oder Butter. Hier wird der Preis getrennt verhandelt und kann höher liegen als für Trinkmilch.
Zudem lässt der Milchpreis nur bedingt Rückschlüsse auf den Gesamtmarkt für Milcherzeugnisse zu. „Da die Milchpreise zwischen Molkereien und Discountern nur zweimal im Jahr verhandelt werden, ist der Preis ein stark nachlaufender Indikator“, so Gorn. Das heißt: Wer erfolgreiche Lobbyarbeit betreiben will, für den mag der Milchpreis im Laden ein attraktiver Indikator sein. Wer aber wissen will, wie sich die Perspektiven für die Bauern entwickeln, muss anderswo hinschauen.