Es gibt nur wenige Menschen, die Amazon-Gründer Jeff Bezos beeindrucken. Marty Hartman gehört dazu. Die Therapeutin hat ein Novum inspiriert, das zynisch wirkt, aber gerade deshalb Aufmerksamkeit erregt: Das erste Obdachlosen-Asyl direkt im Hauptquartier eines der wertvollsten Konzerne der Welt.
Anfang 2020 wird das Heim für obdachlose Familien in ein funkelnagelneues Gebäude auf dem neuen Amazon-Campus in Seattles Innenstadt ziehen. Der Konzern spendet die 65 Zimmer auf sechs Etagen, sorgt für deren Instandhaltung und bezahlt die Betriebskosten für die fast 4500 Quadratmeter. Die von Hartman geführte Hilfsorganisation „Mary’s Place“ wird das Heim für rund 200 Mütter und ihre Kinder betreiben.
„Wir waren von dem Geschenk schon überrascht, erstmals haben wir nun etwas Permanentes“, sagt Hartman. Es ist acht Uhr morgens in dem ehemaligen Hotel am nördlichen Rand der Innenstadt von Seattle, einem von derzeit sieben Unterkünften mit insgesamt 600 Betten, für die sie verantwortlich ist. 160 Mitarbeiter unterstützen sie. Im einstigen Frühstücksraum des Hotels tollen Kinder umher, wird Kaffee, Milch und Saft ausgeschenkt, Cornflakes, Bananen und Muffins gereicht. Auf dem Parkplatz wartet ein Schulbus.
Hartman holt sich einen Kaffee. Sie streicht durch ihre schulterlangen blonden Haare, dann erzählt die Verhaltenstherapeutin von der örtlichen Obdachlosenkrise. Fast 4000 Menschen, darunter 500 Kinder, leben derzeit ohne Dach über dem Kopf allein in der Innenstadt von Seattle, schlafen in Zelten oder Autos unter den Hochstraßen der Metropole, campieren in Hauseingängen. Im weiteren Umkreis gibt es insgesamt 11.000 Betroffene. Seit 17 Jahren engagiert sich die vierfache Mutter hauptberuflich für Obdachlose. „Aber so schlimm war es noch nie“, sagt sie.
Seattle ist wegen des vor allem von Amazon und Microsoft vorangetriebenen Tech-Booms die derzeit am schnellsten wachsende Großstadt der USA, zieht auch Silicon-Valley-Konzerne wie Google und Facebook an. Das hat die Hauspreise nach oben getrieben, die Leerstandsrate von Appartements auf 1,9 Prozent gedrückt und wie auch im Silicon Valley und San Francisco Menschen auf die Straße gesetzt.
Die Stadt kommt beim Schaffen von bezahlbaren Wohnraum seit Jahrzehnten nicht hinterher, auch an Not-Unterkünften mangelt es.
Dabei stehen in der Innenstadt regelmäßig Gewerbeimmobilien vorübergehend leer, weil ihre Besitzer sie umbauen wollen. Im Schnitt dauert es anderthalb Jahre zwischen Planung und Erteilung der nötigen Baugenehmigungen. Hartman kam auf die Idee, diese Zeitspanne zu nutzen, um in den leerstehenden Objekten vorübergehend obdachlose Familien unterzubringen. Sie und ihr Team, darunter Veteranen von Microsoft und der Mobiltelefongesellschaft Verizon Wireless, identifizierten ehemalige Hotels, Bankfilialen, Restaurants und Polizeistationen als Bleiben. Sie sprachen Behörden und Unternehmen an, fanden offene Ohren bei Starbucks, Microsoft, Alaska Airlines, dem Versicherer Pemco, bei Vulcan Real Estate, dem Immobilienverwalter von Microsoft-Mitgründer Paul Allen sowie örtlichen Architekturbüros.
„Die Unternehmen tun etwas Gutes, sichern ihre Immobilien und schützen sie zugleich vor Vandalismus“, wirbt Hartman. Diese Argumente überzeugten auch John Schoettler, weltweit verantwortlich für die Entwicklung von Amazons Immobilien. Er stellte ein ehemaliges Hotel bereit, das direkt neben dem neuen „Day One“ Hochhaus steht, in dem Bezos sein neues Büro eingerichtet hat. Bis zum Umzug in die permanente Bleibe auf der gegenüberliegenden Straßenseite kann „Mary’s Place“ es nutzen.
Jeff Bezos unter Druck
Schoettlers Chef Bezos war nicht nur von Hartmans Einfallsreichtum beeindruckt, sondern auch bei der Sorgfalt beim Umsetzen der Idee. So penibel wie Amazon den Bau neuer Logistikzentren plant, hat „Mary’s Place“ einen ganzen Prozess zum Einrichten und Bezug der vorübergehenden Unterkünfte entwickelt: Werbung von Unterstützung in der Nachbarschaft, das Einbinden von anderen Wohltätigkeitsorganisationen etwa für Weiterbildung oder Gesundheitsdienste bis hin zum Transport der Bewohner an den Arbeitsplatz und Schulen. Ihr Ziel ist es, „unseren Gästen“ – wie sie die Bewohner nennt – so schnell wie möglich neue Wohnungen zu vermitteln. Im Schnitt bleiben sie 86 Tage.
„Mary’s Place“ braucht etwa eine halbe Million Dollar, um eine Unterkunft einzurichten und anderthalb Millionen um sie für 18 Monate zu betreiben. Inbegriffen ist neben Küche und Kleiderkammer auch ein Computerzimmer für Jugendliche sowie eine Krankenstation. Das Budget dafür kommt aus Spenden sowie kostenlosen Dienstleistungen.
Es sind solche Ideen, die es Bezos angetan haben. Er steht derzeit unter Druck, sich freigiebiger zu zeigen. Dank des Höhenflugs der Amazon-Aktie hat er vor kurzem Microsoft-Gründer Bill Gates als reichsten Menschen der Welt überflügelt.
Trotzdem sind zwischen dem Schöpfer von Amazon und dem von Microsoft Welten: Gates, wie Bezos ebenfalls in Seattle wohnhaft, hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren als globaler Wohltäter neu erfunden und über „Giving Pledge“ Initiative 170 Superreiche aus 21 Ländern dazu gebracht, das Gros ihres Vermögens für gemeinnützige Zwecke zu spenden. Bezos gehört bislang nicht zum illustren Klub, hat sich mit Spenden zurückgehalten und dafür auch schon Kritik eingesteckt.
Die Lebensgeschichte von Amazon-Gründer Jeff Bezos
Jeff Bezos ist eine der spektakulärsten Manager-Persönlichkeiten der Welt. Die Lebensgeschichte des Amazon-Gründers bietet eine unglaubliche Vielfalt und zahlreiche interessante Erzählungen. Der Top-Journalist und Bestsellerautor Richard L. Brand hat die Biografie in seinem Buch „Mr. Amazon“ (Ambition Verlag) aufgeschrieben. Darin finden sich auch bemerkenswerte Geschichten über die Person Jeff Bezos.
Ironischerweise ist eine der wichtigsten Internet-Ikonen auf einem Bauernhof aufgewachsen – um genau zu sein auf einer Rinderfarm in Cotulla, Texas. Dort half der kleine Jeff schon als Vierjähriger tatkräftig mit, auch beim Ställe ausmisten.
Jahre später urteilte Jeff Bezos, dass seine Erfahrungen auf der Ranch zu seiner erfolgreichen Unternehmerkarriere maßgeblich beigetragen hätten. Das Reparieren von Traktoren und das Kastrieren von Rindern entsprach seiner Vorstellung von einer „idyllischen Kindheit“. Seine Mutter stand ihm stets bei. Jeff habe dort gelernt, dass es keine Probleme ohne Lösungen gebe.
Bezos hat seinen Vater nie kennengelernt. Der Teenager verließ die junge Mutter, als Jeff anderthalb war. Er existierte im Leben des Jungen gar nicht.
Der Nachname Bezos stammt laut Jeffs eigener Aussage vom „richtigem“ Vater. Und den hätte es ohne Fidel Castro wohl nie gegeben. Denn als er 1959 an die Macht kam, schickten viele kubanische Eltern ihre Kinder in die Staaten. So auch Miguel Bezos (vom spanischen besos: „Küsse“). Miguel setzte sich mit großer Ausdauer durch, machte einen Uni-Abschluss und wurde Erdölingenieur.
Jeff Bezos war ein unglaublich stures Kind. Mit drei Jahren quängelte er so lange herum, bis er das Gitterbett endlich verlassen durfte - ungeachtet der Sicherheitsbedenken seiner Mutter. Trotz seiner außergewöhnlichen Konzentrationsfähigkeit wurde Jeff so auch zum Schrecken seiner Lehrer. Sie mussten ihm mal mitsamt Stuhl und Tisch im Klassenraum umsetzen.
Seine Mutter und vor allem der Großvater erweckten und förderten Jeffs großes Interesse an Technik und Basteln. Sie schenkten ihm entsprechendes Spielzeug und Baukästen. Dennoch war sein erster Karrierewunsch (mit sechs Jahren), Archäologe zu werden.
Als die Familie nach Houston umzog, war Jeff im späten Kindergartenalter. Die Eltern schrieben ihn für Fördermaßnahmen für hochbegabte Kinder ein. Dafür musste er zwar 20 Meilen hin und zurück fahren, aber es lohnte sich.
Dass Amazon mit dem Verkauf von Büchern groß wurde, ist weit mehr als ein Zufall. Jeff Bezos ist seit der Kindheit ein Büchernarr. Er nahm mit Feuereifer an Literatur-Schülerwettbewerben teil und las mit seinen ebenfalls lesebegeisterten Mitschülern um die Wette.
Bezos war wie viele Nerds des 20. Jahrhunderts eher ein Einzelgänger, der viel las und viel Zeit vor dem Computer verbrachte. Seine Lehrer notierten damals, dass er „nicht besonders führungsbegabt“ sei. Auch rein körperlich wirkte er wie ein Nerd: Jeff brachte nicht einmal das Mindestgewicht für die Football-Mannschaft auf die Waage.
Als seine Eltern erneut umzogen – diesmal nach Florida – war Jeff 13 Jahre alt. Hier übernahm er seinen ersten Sommerjob. Und das ausgerechnet bei McDonalds. Doch der Teenager gab sich mit dem Burgerwenden nicht zufrieden und entwickelte Verbesserungsvorschläge, mit denen die Abläufe in dem Laden tatsächlich verbessert wurden.
In seinem ersten Jahr auf der Junior-Highschool lernte Jeff seine langjährige Freundin Ursula „Uschi“ Werner kennen. Sie träumten von einer gemeinsamen Firma und schufen diese tatsächlich auch in frühen Teenagerjahren. Werbeflyer begeisterten junge Schüler für einen sehr besonderen Nachhilfeunterricht. Die Beziehung endete wie so viele andere Highschool-Liebschaften in der Collegezeit.
Auf dem College setzte Bezos nebenbei seinen Kindheitstraum – übrigens inspiriert vom Großvater – in die Tat um. Seinen Abschluss machte er in Elektrotechnik und Informatik und auch die ersten Berufsschritte unternahm Bezos in anderen Bereichen – allen voran bei IBM. Aber seinen Traum, der heute in Blue Origin mündet, den hatte er, seitdem er fünf Jahre alt war.
Im Frühjahr 2017 wandte sich der Amazon-Chef über die Twitter an die Öffentlichkeit. Er sei, twitterte Bezos, für sein langfristiges Denken bekannt. Aber bei der Philanthropie wolle er nun das Gegenteil versuchen – „Menschen sofort und unmittelbar helfen, kurzfristig also“. Im Vorbild von „Mary’s Place“, das ihn „sehr inspiriert und berührt“ habe.
Rex Hohlbein etwa, ein Architekt aus Seattle, hat zehn Quadratmeter große Blockhäuser entworfen, die in die Gärten von Einfamilienhäusern gestellt werden können. Doch an langfristigen Lösungen wie bezahlbaren Wohnraum mangelt es. Die Idee, die Grundsteuern zu erhöhen, um mehr Gelder für sozialen Wohnungsbau einzutreiben, wurde wegen zu geringer Unterstützung vorerst zurückgezogen.
Hartman lässt sich nicht entmutigen. Sie denkt in Etappen. Ihr Zwischenziel ist, dass keine Familie mehr im Freien schlafen muss, gefolgt von Unterkünften für alle. „Wenn noch mehr Unternehmen mitmachen, schaffen wir das“, sagt sie.