Matti Niebelschütz Aufstieg, Fall und Neustart des MyParfum-Gründers

Matti Niebelschütz, Gründer des Berliner Parfümversenders MyParfum, hat die Höhen und Tiefen eines Jungunternehmers persönlich durchlebt. Die Chronik eines gescheiterten und wiedergeborenen Start-Ups.

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Herr der Düfte: MyParfum-Gründer Matti Niebelschütz hat als 28-Jähriger bereits alle unternehmerischen Höhen und Tiefen durchlebt

Auf den ersten Blick wirkt Matti Niebelschütz wie ein typischer Vertreter der Berliner Start-up-Szene: Unter 30, coole Klamotten, Chef seines eigenen Internet-Unternehmens MyParfum.

Doch näher betrachtet, ist Niebelschütz das Gegenteil: ein nachdenklicher junger Mann, der trotz seiner 28 Jahre schon geprägt ist von einer berauschenden wie substanzzehrenden geschäftlichen Achterbahnfahrt. Niebelschütz hat vielen Altersgenossen eine wichtige Erfahrung voraus. Er musste am eigenen Leib erfahren, was unternehmerisches Scheitern bedeutet.

Anders als in den USA ist das Thema in Deutschland fast ausschließlich negativ besetzt. In den Vereinigten Staaten ist das anders. Dort nehmen Kapitalgeber einen Gründer oftmals erst nach der Pleite richtig ernst, weil er dadurch notwendige und wichtige Erfahrungen für weitere Projekte gesammelt hat. In Deutschland dagegen gilt die Insolvenz eher als Stigma.

Spannung bei der Gründung, Euphorie im Boom, Demütigung durch die Pleite, schließlich der Neuanfang – das Protokoll von sechs Jahren zwischen leidenschaftlichem Aufbruch und totaler Lähmung.

August 2008 Auf diesen Moment haben Niebelschütz und sein Bruder Yannis lange hingearbeitet: MyParfum, ihr Shop im Internet, geht online. In ihm wollen die beiden individuell zusammengestellte Duftwässerchen verkaufen. Dazu haben sie gut ein Dreivierteljahr ein Duftsystem entwickelt, mit Parfümeuren verhandelt, eigenes Geld sowie ein Darlehen der Großeltern in fünfstelliger Höhe in die Unternehmensgründung gesteckt.

„Die meisten Parfümeure haben abgewinkt. Aber fast alle Frauen, denen wir es erzählten, fanden die Idee gut“, erinnert sich Niebelschütz an die damalige Aufbruchstimmung. Entsprechend forsch gehen er und sein Bruder ran. Sie wollen ihre Kritiker vom Gegenteil überzeugen.

September 2008 Und tatsächlich, die Sache lässt sich gut an. Die erste Pressemitteilung schlägt in der Berliner Szene ein. Die Medien steigen auf die Idee ein. Der lokale Hörfunksender Radio 1 bringt ein Interview, der Fernsehsender RTL2 und diverse Zeitungen berichten.

Dezember 2008 Die gute Presse sorgt geschäftlich für Fahrt. MyParfum verkauft im ersten Weihnachtsgeschäft mehr als 100 Flakons am Tag. 30 Leute arbeiten inzwischen für das Unternehmen, die meisten sind Kommilitonen von Niebelschütz. Auch er ist noch Student und bleibt zunächst im Fach Jura eingeschrieben.

Januar 2011 Damit ist jetzt Schluss, weil die Arbeit immer mehr Zeit frisst. Sein Bruder steigt aus MyParfum aus. Niebelschütz selbst schmeißt sein Studium hin und konzentriert sich voll auf die Professionalisierung seines Unternehmens. Seriengründer Frederick Fleck, früher beim TV-Sender 9Live im Management, trifft bei Niebelschütz den Nerv. „Wenn ihr es schafft, euren Umsatz in einem Monat zu verdoppeln“, sagt er zu dem damals 25-Jährigen, „steige ich bei euch ein.“

Fünf Jahre MyParfum: Eine Geschichte von Höhen und Tiefen

Das MyParfum-Team: Yannis Niebelschütz, Carina Stammermann und Matti Niebelschütz wagen den Neuanfang.

September 2011 Der Kick hat funktioniert, Fleck steigt bei MyParfum ein, sorgt für professionelle Strukturen und will den Absatz weiter ankurbeln. Dazu empfiehlt Fleck Perfomance-Marketing im Fernsehen, das sind Werbespots im Stile von „Gehen Sie jetzt online und bestellen!“.

November 2011 Niebelschütz fährt einen ersten erfolgreichen Testlauf. Dann entscheidet er, für das bevorstehende Weihnachtsgeschäft das Werbebudget zu verdoppeln. „Meine eigene Entscheidung als Unternehmer“, freut er sich. Die Zahlen geben ihm recht: fast 400 Prozent Wachstum, am Ende des Jahres kommt MyParfum auf mehr als 70 000 Euro Gewinn. Niebelschütz ist elektrisiert. Für ihn sind die Zahlen „ein Zeichen, dass unser Geschäftsmodell skalierbar ist und TV funktioniert“. Dass der Erfolg gleichzeitig den Boden für die totale Niederlage bereiten würde, kommt ihm in dieser Situation nicht in den Sinn – im Gegenteil.

Mitte 2012 Der Erfolg im Weihnachtsgeschäft versetzt Niebelschütz in Überschwang. Jetzt will er’s wissen, das ganz große Rad drehen. Dazu braucht er Geld. Er besorgt sich bei einem Privatinvestor und später bei SevenVentures, einer Tochter des Fernsehsenders ProSiebenSat1, weiteres Kapital. Das Geld dient zum einen, die Ausgaben für TV-Werbung zu verzwanzigfachen. Zum andern fährt Niebelschütz die Belegschaft auf 40 Mitarbeiter hoch und weitet die Produktion sowie die Lagerbestände aus. Mit vier statt vorher einer einzigen Maschine kann Niebelschütz nun 4600 Parfüms am Tag produzieren. „Da waren die Augen größer als der Verstand“, sagt Niebelschütz später.

November 2012 Später ist bald. Wenige Wochen vor Weihnachten zeigt sich, dass Niebelschütz’ Erwartungen an die Kampagne völlig überzogen waren. In der Spitze liegen die Bestellungen maximal bei 20 Prozent des erhofften Wertes. Niebelschütz und seine Leute werden nervös. Die Bestellungen bleiben mau, zusätzliche Ausgaben für Werbung verpuffen. Mitte November fängt es bei MyParfum an, „zu kribbeln“, spürt Niebelschütz. Die hohen Fixkosten erdrücken das enttäuschende Geschäft. In seiner Not lässt Niebelschütz einen neuen TV-Spot drehen. Er weiß, die nächsten Wochen werden über die Zukunft von MyParfum entscheiden.

Dezember 2012 Der Todeskampf von MyParfum beginnt. So sehr sich Niebelschütz auch müht, Anfang Dezember müssen er und seine Kombattanten einsehen, dass sie „das Minus bis Weihnachten nicht mehr aufholen können“. In seiner Not mottet Niebelschütz die neuen Produktionsmaschinen ein und entlässt 20 Mitarbeiter. Bis Jahresende steigen die Schulden auf fast zwei Millionen Euro.

Januar 2013 MyParfum zeigt die letzten Zuckungen. Niebelschütz kann seinen Vermieter dazu bewegen, auf Miete für einen Teil der überflüssigen Räume zu verzichten. Im Februar soll eine Sammelaktion bei Kleininvestoren übers Web laufen, die MyParfum Geld bringen könnte.

Februar 2013 Zwei Tage vor dem Notartermin bricht Niebelschütz den letzten Rettungsversuch ab. „Die Schuldenlast hätte den Großteil des Investments aufgefressen“, erkennt er, „dadurch hätten wir die 1000 Privatinvestoren veräppelt.“ Niebelschütz ist paralysiert, würde sich am liebsten einbunkern, die fünf Jahre MyParfum aus seinem Gedächtnis streichen.

Offline ist die neue Hoffnung

Deutschlands beste Onlinehändler
Platz 10: Shop-ApothekeMit 74,5 von 100 möglichen Punkten schafft es Shop-Apotheke knapp unter die zehn besten deutschen Online-Shopts. In die Platzierung fließt die Bewertung von Versand und Lieferung, Benutzerfreundlichkeit, Sortiment, Service, Preis-Leistungsverhältnis, Websitegestaltung und Bezahlweise mit ein. Quelle: Studie des Instituts für Handelsforschung "Erfolgsfaktoren im E-Commerce - Deutschlands Top Online-Shops". 11 Branchen und insgesamt die 100 umsatzstärkten Online-Händler wurden untersucht. In der Erhebung wurden mehr als 10.000 Konsumenten ab 16 Jahren in Deutschland befragt. Quelle: Screenshot
Platz 9: Gerry WeberDas Modelabel erreicht 74,6 Punkte. Innerhalb der Top Ten entscheiden zum Teil Zehntel über den Rang. Nur drei der zehn besten Online-Shops des letzten Jahres können sich behaupten und schaffen es auch 2013 wieder auf die vorderen Plätze. Quelle: Screenshot
Platz 8: Medpex74,8 Punkte erreicht die zweite Versandapotheke unter den Top Ten. Kai Hudetz, Geschäftsführer des IFH Köln bemerkt: "Was früher echte Begeisterungsfaktoren waren, sind heute schon Basisfaktoren, mit denen sich kaum ein Shop mehr von der Konkurrenz abheben kann." Die Konkurrenz ist hart der Markt extrem dynamisch. Quelle: Screenshot
Platz 7: Hugo BossDie Deutschen lieben es Mode über das Internet zu bestellen. Hugo Boss scheint bei der Gestaltung seines Online-Shops vieles richtig gemacht zu haben. Endergebnis: 74,8 Punkte. Quelle: Screenshot
Platz 6: EspritDie Modemarke erreicht 74,9 Punkte und schafft damit den Sprung in die Top Ten problemlos. Im Vorjahr war sie noch nicht dabei. Shops aus der Modebranche schafften es in diesem Jahr besonders häufig unter die besten zehn. Quelle: Screenshot
Platz 5: BurberryUnd noch ein Anbieter von Markenkleidung. Der Burberry-Shop gefällt den Nutzern noch besser als Esprit oder Gerry Weber. 75,1 Punkte erreicht der deutsche Ableger der britischen Kultmarke. Quelle: Screenshot
Patz 4: JavariDas Modeportal bietet vor allem Schuhe und Handtaschen und ist in diesem Jahr ebenfalls zum ersten Mal unter den Top Ten zu finden. Javari ist eine Amazon-Tochter und soll hierzulande gegen Zalando antreten. Den Befragten scheint es zu überzeugen. Zalando schafft es in der Auswertung nach Einzelbranchen nur auf den zweiten Platz. Javari gelingt mit 75,2 Punkten der Sprung auf Platz vier des Gesamtrankings. Quelle: Screenshot

März 2013 Niebelschütz stellt beim Amtsgericht den Insolvenzantrag. Er ist 27 und pleite. Er nutzt die Zeit zum Nachdenken; versucht, einen klaren Kopf zu bekommt – und gelangt nach nur einer Woche zur „Erkenntnis, dass ich weiter ans Geschäftsmodell von MyParfum glaube“.

August 2013 Dem Gestrauchelten gelingt es, bei seinem Bruder und anderen genügend Geld aufzutreiben, um bei der Versteigerung durch den Insolvenzverwalter MyParfum zurückzukaufen. Er will so schnell wie möglich ein Atelier eröffnen, in dem Konsumenten und Händler seine Parfüms direkt riechen und anfassen können, „als Showroom für unser Duftsystem“.

September 2013 Doch für gescheiterte Gründer ist der Neustart in Deutschland schwer. Neun von zehn Dienstleistern, die hierzulande die Zahlung per Kreditkarte im Internet anbieten, lassen Niebelschütz mit der Begründung abblitzen, dass er als Pleitier wieder Geschäftsführer sei. Einzig die Postbank willigte ein, allerdings erst nach langen Telefonaten und viel persönlichem Einsatz. Ähnliche Probleme hat Niebelschütz, als er für MyParfum ein Bankkonto eröffnen will. Und für den Showroom muss er eine Kaution von sechs Monatsmieten hinblättern plus 15 000 Euro Risikoprämie aufgrund seiner Pleite.

Oktober 2013 Es ist so weit, zum zweiten Mal. MyParfum hat das neue Ladenlokal in der Reinhardtstraße in Berlin Mitte bezogen. Hinter dem Empfangstresen stapeln sich die weißen MyParfum-Versandschachteln. In der Mitte des Raums steht die „Duftbar“, wie Niebelschütz sagt: fünf große Flakons mit Grunddüften, sowohl für Männer als auch für Frauen, darum herum 48 kleinere Flakons mit sechs Duftnoten von Amber bis Zeder. Aus ihnen kann sich der Kunde seinen eigenen Wunschduft zusammenstellen. Niebelschütz ist zuversichtlich, mit der „Duftbar“ ein „wichtiges Element“ gefunden zu haben, „um unser Internet-Geschäftsmodell auch in die Offline-Welt zu übertragen“.

Januar 2014 Niebelschütz hat aus seiner Pleite gelernt und macht die einstige MyParfum-Mitarbeiterin Carina Stammermann, eine Betriebswirtin, zur Geschäftsführerin. Er selbst tritt ins zweite Glied und kümmert sich um die Produktentwicklung und neue Geschäftspartner.

Ostern 2014 Niebelschütz nutzt die Feiertage zur inneren Einkehr. „Wir wollten bestimmt zu schnell zu viel“, sagt er. „Aber das war ein unternehmerisches Risiko, das wir bewusst eingegangen sind – das gehört eben als Unternehmer dazu.“ Für solch große Worte hat er eine einfache Erklärung: „Gefühlt hat mich erst die Erfahrung rund um Aufstieg, Fall und Wiederaufstehen von MyParfum geistig erwachsen werden lassen.“

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