Michael Otto beim Gipfeltreffen der Weltmarktführer „Die Digitalisierung ist der größte Umbruch der Menschheit“

Quelle: Stefanie Hergenröder für WirtschaftsWoche

Er hat den Versandhändler Otto in die Zukunft geführt und schafft es, selbst Amazon zu trotzen. Wie Michael Otto den Wandel gemeistert hat – und wo er die nächsten Herausforderungen sieht.

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Als Michael Otto zu Beginn der 80er-Jahre zum Vorstandsvorsitzenden des Hamburger Versandhändlers Otto aufgestiegen war, unternahm er, zusammen mit seinem Entwicklungschef, regelmäßige Inspirationsreisen in die USA. Mal ins Silicon Valley, mal an die Ostküste. So erzählte es Michael Otto auf der WirtschaftsWoche-Veranstaltung „Gipfeltreffen der Weltmarktführer“ in Schwäbisch Hall.

Solcherlei Reisen, zur Erweiterung des Horizonts und des Geschäftssinns, gönnten sich damals und später alle möglichen Unternehmer, und bei manchen kann man die berechtigte Frage stellen, was es eigentlich gebracht hat. Bei Michael Otto, heute Chef des Otto-Aufsichtsrats, lautet die Antwort: sehr viel. Sie retteten sozusagen sein Unternehmen.

Denn er habe damals auf einer dieser Reisen gelernt, was Digitalisierung ist. „Die Digitalisierung ist der größte Umbruch der Menschheit“, sagt Otto heute. Die Wettbewerber, die glaubten, man könne die Digitalisierung in zwei, drei Jahren durchführen und abschließen, so wie man einmal eine Hausrenovierung durchführt, diese Wettbewerber gibt es heute nicht mehr, so Otto. Der 78-Jährige begründet seine Glaubwürdigkeit auf der Tatsache, dass sein Unternehmen heute nicht nur einfach noch da ist, sondern – trotz des scheinbar allmächtigen und unbesiegbaren Gegners Amazon – mit 15,6 Milliarden Euro Umsatz im vergangenen Geschäftsjahr 2020/2021 einen Rekord vermelden konnte. Der große Konkurrent der 80er Jahre, der Versandhandel Quelle aus Fürth, ist schon längst insolvent (und das Nachfolgeunternehmen quelle.de gehört heute sogar zu Otto). Was hat Otto anders gemacht?

Die Erweckung begann Anfang der 90er-Jahre. Damals, erzählt Otto, habe sein Unternehmen in Orlando mit dem New Yorker Entertainment- und Medienkonzern Time Warner (heute: Warnermedia) einen aufwändigen Test gestartet, für interaktives Fernsehen. „Ich dachte: Das ist die Zukunft des Handels“, sagt Otto. Kurz gesagt, ging es um eine schnellere Variante des TV-Shoppings. Das interaktive Fernsehen wurde dann doch nicht die Zukunft des Handels, wie man heute weiß. Aber das, sagt Otto, sei nicht entscheidend. Als das Internet zum Massenphänomen wurde, beendete Otto den Test in Orlando wieder. Er konzentrierte sich auf das neue Medium und den neuen Vertriebsweg. „Da hatten wir schon erste Erfahrungen gesammelt durch das interaktive Fernsehen. Das war unser Vorteil.“ Erfahrungen, die andere wohl noch nicht hatten.

Bereits 1995 hatte der Otto-Konzern sein gesamtes Sortiment im Internet. Zu dem Zeitpunkt, sagt Otto, hatten nur rund 250.000 Menschen in Deutschland überhaupt Zugang zum Internet. Zu früh war das nicht von den Hamburgern. Zu früh gebe es in diesem Zusammenhang eigentlich gar nicht. Einen weitgehend analogen Konzern umzustellen auf einen digitalen, sagt Otto, brauche eben Zeit. Heute erwirtschaftet Otto etwa zehn Milliarden Euro, also rund zwei Drittel, seines Umsatzes online. Zur Gruppe gehören mittlerweile auch reine Onlinehändler wie etwa der Modehändler Aboutyou, Mytoys und Limango

Die digitale Transformation bei Otto habe sich auf drei Ebenen vollzogen, berichtet Michael Otto: zunächst die Transformation bestehender Teile sowie die Gründung neuer Gesellschaften. „Wir entwickeln Otto zu einer Plattform“, sagt er. Man zähle bereits mehr als 4.000 Einzelhändler auf otto.de – in den kommenden Jahren werde man sich weiterentwickeln auf 25.000. Zweitens: die Öffnung des Ökosystems durch Beteiligungen an Start-ups. Hier setze Otto verstärkt auf technologische Partnerschaften. Durch KI-gestützte und Big-Data-gespeiste Hochrechnungen etwa sei der Konzern heute in der Lage, mit mehr als 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, wie sich ein neues Kleid in den ersten zwei Wochen nach Markteinführung in bestimmten Märkten verkaufe, dozierte Otto. Bei der Stimmenerkennung arbeite Otto mit Google Assistant zusammen. Und im Bereich Möbelhandel verwende Otto eine Anwendung mit Augmented-Reality-Technik, wie sie auch Ikea und Amazon nutzen: Mit Hilfe dieser App können Nutzer Möbelstücke vor dem Kauf virtuell in ihrem Wohn- oder Schlafzimmer drapieren und bekommen eine gute Vorstellung, ob und in welcher Farbe der gewünschte Sessel dorthin am besten passt. „Ich sehe eher Chancen als Grenzen der Technologien“, sagte Otto. Es gehe darum, es dem Kunden so bequem wie möglich zu machen.

Der Otto-Konzern ist heute an mehr als 300 Start-ups beteiligt. Vor zehn Jahren gründete man einen sogenannten early-stage-Finanzierungsfonds, der potenzialträchtige Jungunternehmen in Deutschland, USA, Brasilien, China und Japan ausfindig machen soll. Ein zweiter Otto-Fonds kümmert sich um die sogenannte Seed-Finanzierung, also die ganz frühe Investitionsphase. „Wir machen auch gute Gewinne mit den Beteiligungen“, sagt Otto, „aber mindestens genauso wichtig ist, dass wir den Überblick haben: Was passiert eigentlich in der Welt an neuen Entwicklungen?“ Die so gewonnen Erkenntnisse trage man in den Konzern rein. Manche nutze man teilweise, manche übernehme man auch.

Womit Otto bei der dritten Ebene der Transformation angekommen wäre: dem sogenannten Kulturwandel. Denn: „Digitale Transformation ist sehr viel mehr als die Einführung neuer Technologien.“ Vielmehr müsse sich auch das Bewusstsein ändern, die Haltung. „Die Organisation muss sich grundlegend ändern.“ Der Otto-Konzern nannte seine 2017 gestartete Transformation „Kulturwandel 4.0“. Hierarchien wurden flach wie Hamburger Berge, Fachbereiche arbeiteten zusammen statt separat nebeneinander her. Für Aufsehen (und auch gelegentlichen Branchenspott) sorgte zudem die Ankündigung, künftig auf Krawatten verzichten zu wollen und das Duzen zu etablieren. Michael Otto verteidigte die angestoßenen Veränderungen: Man habe heute „ein komplett anderes Führungsverhalten“.

Die typische Otto-Führungskraft sei heute „mehr Coach, mehr Enabler, und muss Kontrolle abgeben“. Umgesetzt werden die Vorgaben von den Teams, die in agilen Arbeitsmethoden arbeiten. Zudem habe man eine andere Fehlertoleranz etabliert und die Veranstaltungsreihe Fuck-up-Nights organisiert, wo Mitarbeiter, vom Azubi bis zum Shareholder, von ihren Fehlern erzählen. „Für eine Führungskraft, die immer darauf geachtet hat, möglichst keine Fehler zu machen, ist es eine gewaltige Anstrengung, jetzt Fehler zuzulassen. Das ist ein Prozess.“

Für solche Prozesse, schloss Otto, brauche es Mut zur Veränderung. Das sei einfacher gesagt, als getan. Aber mitunter überlebenswichtig. Wer noch nicht begonnen habe mit der Digitalisierung, „der sollte sofort anfangen.“ Sonst droht womöglich das Quelle-Schicksal.

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