Sie könnten eineiige Zwillinge sein: Auf den ersten Blick sehen die beiden blaugrünen Stühle identisch aus. Die gleiche Konstruktion. Die gleiche Farbe. Doch beim Blick auf den Preis wird der Unterschied deutlich. Das schweizerische Unternehmen Vitra bietet seinen Designerstuhl nach Charles & Ray Eames für 246 Euro an, Konkurrent Voga verlangt für den DSR-Stuhl nur 79 Euro.
Voga feiert Jubiläum – und wirbt mit 87 Prozent Rabatt auf seine Produkte. Dazu gibt es fünf Jahre Garantie, Gratis-Materialproben und Gratis-Rückversand. „Voga wurde gegründet, um tolles Design für jeden zugänglich zu machen“, wirbt der Möbelvertreiber auf seiner Internetseite.
Herkunftsländer von Plagiaten in Europa
Anteil 2014: 46,9 Prozent
Anteil 2013: 59,2 Prozent
Anteil 2012: 44,6 Prozent
Anteil 2014: 28, 2 Prozent
Anteil 2013: 18, 8 Prozent
Anteil 2012: 22,1 Prozent
Anteil 2014: 8 Prozent
Anteil 2013: 4,3 Prozent
Anteil 2012: 5,4 Prozent
Anteil 2014: 3,8 Prozent
Anteil 2013: 3,0 Prozent
Anteil 2012: 3,0 Prozent
Anteil 2014: 1,8 Prozent
Anteil 2013: 2,7 Prozent
Anteil 2012: 6,9 Prozent
Die Crux: „Die Möbel sind eine dreiste Fälschung“, warnt Rechtsanwalt Michael Ritscher. Seit zwei Jahren vertritt er Vitra juristisch gegen Voga und fährt schwere Geschütze auf. „Das ist organisierte Kriminalität und genauso schlimm wie Drogenhandel und Geldwäscherei.“
Design-Raub ist keine Seltenheit: Im Jahr 2014 haben die europäischen Zolldienststellen Waren im Wert von fast 140 Millionen Euro beschlagnahmt, weil sie ein Erzeugnis der Marken- und Produktpiraterie waren. Wie hoch der Schaden allein in der Möbelbranche ist, bleibt unklar. Der Zoll erfasst sie in seiner Statistik nicht explizit. Volker Bartels, Vorsitzender des Aktionskreises gegen Produkt- und Markenpiraterie, beobachtet, dass die Aufgriffe von gefälschten Produkten mit jedem weiteren Jahr zunehmen. Während 2013 noch fast vier Millionen Produkte beschlagnahmt wurden, waren es ein Jahr später zwei Millionen mehr.
Urheberrecht
Nach deutschem Recht haben Designer die Möglichkeit, einen Designschutz für ihr Produkt anzumelden. Innerhalb der darauf folgenden 25 Jahre darf niemand in Deutschland das Design kopieren – es sei denn, er hat eine Lizenz dafür. Wenn sich in dieser Zeit aber herausstellt, dass das Produkt mehr als nur ein Möbelstück ist – nämlich ein Design, das die Kultur prägt und in Publikationen und auf Messen zu sehen ist –, dann kann der Designer sein Werk urheberrechtlich schützen lassen. Das Urheberrecht endet 70 Jahre nach dessen Tod.
Auch Vitra bemerkt, dass die Fälschungen zunehmen. Der Möbelhersteller hat die Lizenz, um die Möbel des Designerpaares Charles & Ray Eames herzustellen – Voga nach Aussage von Vitra nicht. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den Möbelhersteller mit Sitz in England, weil der die Möbel weltweit vertreibt. Laut Vitra wurden gegen Voga allein in Deutschland vier Strafverfahren eingeleitet. Auf Anfrage von WirtschaftsWoche Online bestätigte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, dass es derzeit ein Ermittlungsverfahren gegen Voga gibt.
Voga hat sich zu den Vorwürfen auf unsere Anfrage nicht geäußert. Das Unternehmen war selbst zu den angegebenen Geschäftszeiten nicht per Telefon zu erreichen. Auf eine E-Mail, in der unsere Onlineredaktion das Unternehmen aufgefordert hat, sich zu dem Rechtsstreit und Produktionsprozessen zu äußern, kam lediglich eine automatisierte Antwort mit dem Hinweis, dass es bei der Bearbeitung der E-Mails derzeit zu längeren Wartezeiten kommt. „Die Hintermänner des Unternehmens sind schwer zu fassen. Mehrere Staatsanwaltschaften in Europa ermitteln gegen sie. Nach Informationen von Vitra sitzen sie in Nordeuropa, lassen in China produzieren und ihr Briefkasten hängt in England“, sagt Ritscher.
Das ist clever. Denn zumindest in England kann sich Voga eines juristischen Tricks bedienen: Dort gilt – anders als in den meisten anderen europäischen Staaten wie Deutschland – das Urheberrecht nur 25 Jahre nach dem Tod des Schöpfers. Ab Mitte 2016 soll auch in England das Urheberrecht 70 Jahre nach dem Tod andauern. Weil Voga seine Möbel aber über die Grenzen von England hinaus vertreibt, könnte das Unternehmen das Urheberrecht in der Mehrheit der Länder verletzen.
Fälscher mögen Designs aus den Dreißigern bis Siebzigern
Das britische Unternehmen Voga soll nur eines von vielen sein, das sich gerne an den Designs der Möbelmarke Vitra bedient. Beträge im sechs- bis siebenstelligen Bereich gibt Vitra jährlich aus, um rechtlich gegen Fälscher vorzugehen. „Viel gravierender als die Summe ist aber der Schaden, der dem Unternehmen und letztlich auch der europäischen Wirtschaft und Kultur durch die Fälschungen entsteht“, sagt Eckart Maise, Chefdesigner bei Vitra.
Fälscher haben immer ganz bestimmte Möbel im Visier: „Vor allem auf die urheberrechtlich geschützten Designs sehen es die meisten Fälscher ab“, sagt Ursula Geismann, Sprecherin des Verbandes der Deutschen Möbelindustrie. Das seien vor allem die Designs der Möbelklassiker aus den Dreißigern bis Siebzigern. Sie liegen besonders im Trend. Dementsprechend hoch sei die Nachfrage nach diesen Möbelstücken – und das Geschäft lukrativ für die Fälscher.
Die Produktpiraterie aus Verbrauchersicht
Insgesamt 65 Prozent haben bereits einmal oder mehrmals zu gefälschten Produkten gegriffen. Die Fake-Renner sind laut Zoll Schuhe, Accessoires wie Brillen oder Handtaschen, Kleidung, Spielzeug oder Elektroartikel.
Immerhin 37 Prozent dieser Menschen gaben an, dass ihnen durch das gefälschte Produkt Nachteile entstanden seien, weil es beispielsweise mangelhaft verarbeitet war, nicht funktioniert hat oder vielleicht sogar gesundheitsschädlich war.
35 Prozent der Befragten 3100 Passanten gaben an, unbewusst schon einmal gefälschte Produkte gekauft zu haben.
Weitere 30 Prozent sagten, dass sie ganz bewusst zur Fälschung gegriffen haben. Gerade in der Altersgruppe der 18- bis 25-jährigen sind Fakes offenbar beliebt. 43 Prozent der jungen Konsumenten kaufen bewusst Nachahmungen.
Ein Erfolg für die Unternehmen: 78 Prozent der Befragten sagten nach einer umfangreichen Aufklärung über die möglichen Konsequenzen durch den Kauf von gefälschten Produkten, dass sie ihre Kaufentscheidung künftig überdenken werden. Geringe Qualität (36 Prozent), Gesundheitsrisiken (26 Prozent) und Kinderarbeit (24 Prozent) waren die meistgenannten Gründe für das Umdenken.
Der Kunde freut sich häufig nur im ersten Moment über sein vermeintliches Schnäppchen. „Ein Duplikat ist reine Augenwischerei“, warnt zumindest Vitra-Chefdesigner Eckart Maise. Das Internet sei das ideale Medium, um Plagiate zu vertreiben – schließlich kommt es bei der Fälschung nur auf die Optik an. Wenn das Möbel zu Hause angekommen ist, kommt beim genaueren Hinsehen das böse Erwachen. „Wir arbeiten drei bis vier Jahre an dem Design eines Möbels. Das ist nicht so einfach zu kopieren“, sagt Maise. Beim Möbelstück komme es nicht nur auf die Optik an, sondern ebenso auf Sicherheit, Material und Produktdetails an.
So wehren sich Unternehmen gegen Produktpiraten
Wenn eine Fälschung entdeckt wird, setzen die Unternehmen hauptsächlich auf Rechtsmittel: 92 Prozent reichen in einem solchen Fall eine Unterlassungsklage gegen die Nachahmer an.
71 Prozent der Befragten verlangen Schadensersatz von den Copycats.
Genauso viele Unternehmen, nämlich 71 Prozent der Befragten, lassen die gefälschten Produkte vernichten. Wer einen entsprechenden Antrag gestellt hat (Antrag auf Tätigwerden bei der Zollverwaltung), kann sich darauf verlassen, dass jede Nachahmung, die der Zoll bei Kontrollen findet, vernichtet wird.
Nur jedes dritte Unternehmen (33 Prozent) führt öffentliche Aufklärungskampagnen durch, die Kunden und Geschäftspartner auf die Fälscher aufmerksam machen sollen.
So gering wie der Preis ist oft auch die Qualität. „Die meisten nachgemachten Möbel, vor allem aus China, durchlaufen keine Sicherheitsprüfungen“, sagt Jochen Winning, Geschäftsführer der Deutschen Gütegemeinschaft Möbel, die jährlich die Einrichtungsgegenstände von 80 deutschen Herstellern zertifiziert. Deshalb sollten Verbraucher aufmerksam werden, wenn das Möbelstück nicht zertifiziert ist. „Die bekanntesten Siegel sind Geprüfte Sicherheit, Blauer Engel und das Goldene M“, sagt Winning. Sie garantieren, dass die Möbel sicher sind und keine schädlichen Stoffe enthalten.
Auch wenn Verbraucher sich bewusst gegen die Sicherheit und für ein gefälschtes Stück entscheiden, machen sie sich nicht strafbar – allerdings könnten dies die Lieferanten, welche die Möbel importieren. „Indem sie die Möbel in Deutschland einführen, verletzen die Spediteure das deutsche Urheberrecht“, sagt Rechtsanwalt Georg Jacobs, der auf Marken- und Kennzeichenrecht spezialisiert ist. Wenn es deutliche Anhaltspunkte dafür gebe, dass urheberrechtlich geschützte Möbel transportiert werden, sei es die Pflicht des Lieferanten, sich selbst darüber zu informieren – und nicht blind auf pauschale Aussagen des Auftraggebers zu vertrauen. Andernfalls drohen ihm bis zu drei Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe.
Vor allem zukünftig wird es für die Lieferanten wichtiger werden, zu wissen, welche Produkte sie importieren. Der Aktionskreis gegen Produkt- und Markenpiraterie schult die Zollbeamten in Zusammenarbeit mit verschiedenen Unternehmen. Sie erklären den Beamten die genauen Produktdetails und mit welchen Spediteuren sie kooperieren. So sollen die Zollbeamten sensibilisiert werden für gefälschte Waren – und im Zweifelsfall Lieferanten an der Einfuhr illegaler Produkte hindern.
Die Spediteure von Voga hat Vitra bereits ausfindig gemacht – über den Internetauftritt des Möbelanbieters und Testbestellungen. Das Unternehmen will auch gegen die Spediteure juristisch vorgehen. Wann das Verfahren gegen Voga zu einem Ende kommen wird, ist noch ungewiss. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart führt Mitte Dezember ihre Ermittlungen fort.