
Ausgerechnet Kolumbien. Mitte Oktober reist Nestlé-Verwaltungsratspräsident Peter Brabeck mit Konzernchef Paul Bulcke zu einer ihrer wichtigsten Konferenzen. Sie wollen erklären, wie der Schweizer Konsumgüterkonzern sich selbst und die Gesellschaft stärkt, in der er agiert. „Creating Shared Value“ haben sie ihren Auftritt getauft, frei übersetzt „Werte schaffen und teilen“, und ihn genau in das Land gelegt, das derzeit das heißeste für sie ist: Arbeiter im Hungerstreik, von Guerillas erschossene Gewerkschafter und Nestlé am Pranger, weil der Konzern Mitschuld an dem tödlichen Arbeitskampf in seinen kolumbianischen Fabriken trage.
Ohne Jackett, ohne Krawatte, den Kragen seines blauen Hemdes offen, so stellt sich Brabeck vor Manager und Politiker und sagt, auf dem Lande hungerten die Menschen. „Deshalb kümmern wir uns darum.“ Nestlé werde von den Attacken selbst getroffen. „Aber wir bleiben.“ Finanziell ergebe es zum Teil keinen Sinn, aber Nestlé könne dort Werte kreieren. „Die Menschen sollen sagen können: Das Unternehmen blieb.“





Auch Bulcke vermeidet Distanz, trägt sein blaues Hemd offen und ohne Jackett. Während Brabeck die Leitlinie zieht, wirbt er offensiv für den Pizza-, Schokoladen- und Fertiggerichtekonzern. Nestlé arbeite gegen schlechte Ernährung, behauptet Bulcke, die Verantwortung liege jedoch bei jedem Einzelnen. „Manche sehen uns als Teil des Problems, aber wir sehen uns als Teil der Lösung.“ Genuss mit weniger Kalorien, weniger Zucker, weniger Fett sei möglich: „Wir wollen das sehr ernsthaft.“
Eine neue Epoche
Der Auftritt der beiden wirkt wie ein Aufruf. Brabeck und Bulcke sorgen sich um die Reputation von Nestlé. In einer online vernetzten Welt springen Imageprobleme eines Produkts schnell auf andere über. Social Media nennt Bulcke „die neue Realität“, in der Nestlé nicht abwarten könne wie in vergangenen Jahrzehnten: „Diesen Luxus haben wir nicht mehr.“
Nestlé steht vor einer neuen Epoche. Im kommenden Jahr könnte der Gigant die Grenze von 100 Milliarden Schweizer Franken Umsatz durchbrechen – etwa 80 Milliarden Euro –, nach zuletzt rund 90 Milliarden Franken. 2013 allerdings schwächelte der Konzern, verfehlte sein Ziel von fünf bis sechs Prozent organischem Wachstum. Nur 4,4 Prozent plus brachten die ersten neun Monate.
Nun soll ein neues Geschäft die Delle vergessen machen: Gesundheit. Doch leicht wird das für Bulcke nicht. So undankbar wie jetzt war der Chefjob noch nie in der Historie des Konzerns. Denn die Zeit der großen Patriarchen ist vorbei.
Es bleibt das Aufräumen
Nestlé-Grandseigneur Helmut Maucher hatte den Konzern bis 2000 beinahe zwei Jahrzehnte als Chef und zuletzt Verwaltungsratspräsident zur Größe geführt. Er gründete Nespresso, kaufte mit Rowntree die Marken KitKat, Perrier, Buitoni, startete mit Friskies das Tierfuttergeschäft.
Von Maucher installiert, profilierte sich Brabeck als Chef durch Zukäufe wie Mövenpick, Wagner, San Pellegrino, zudem gründete er die Wassermarke Pure Life.
Bulcke, der Brabeck 2008 ablöste, bleibt nun das Aufräumen. Sein Effizienzprogramm ist die Chance des 59-Jährigen auf den Präsidentensessel bei Nestlé. Denn der zehn Jahre ältere Brabeck plant 2016 den Abgang, wenn Nestlé 150 Jahre alt wird.
„Ich kann mir Herrn Bulcke als Chairman ebenfalls gut vorstellen“, sagte Vorvorgänger Maucher dem Schweizer Wirtschaftsmagazin „Bilanz“. Seine Hauptprofilierung bestehe jetzt darin, „den Konzern weiter aufzubauen“.
Aufholgeschäft auf dem ganzen Globus





Bulckes Aufholjagd geht über den ganzen Globus. Das Eiscremegeschäft in Europa dominiert Unilever mit der Marke Magnum. In den USA ringt Nestlé mit Marktanteilsschwund im Kaffeegeschäft. Die Wassersparte bringt nur sechs Prozent Gewinnmarge, Danone schafft doppelt so viel. Bei der Schokolade versäumten schon Mauchers Vorgänger den Angriff und überließen Lindt & Sprüngli das Feld. Lediglich KitKat lockt junge Käufer an – und sogar den Internet-Konzern Google. Der taufte jüngst sein neues mobiles Betriebssystem Android auf den Namen Kitkat.
Der Erfolg der Gegensätze
Trotz der Herausforderungen ist Bulcke kein Mann, der Mitarbeiter auf den ersten Blick großartig mitreißt. „Er imponiert durch ruhige Präsenz“, sagt ein Manager, der mit Bulcke wie Brabeck zusammengearbeitet hat. Während Brabeck das Rampenlicht sucht, erlaubt Bulcke Nähe. Selbst einfache Mitarbeiter können ihn leicht ansprechen, wenn er wie so oft langsam über die Flure der Nestlé-Zentrale geht und Entgegenkommende lächelnd grüßt. Dagegen umgibt Hobbybergsteiger Brabeck sich mit der Aura des Unnahbaren. „Er ist die Nummer eins. Das lässt er jeden spüren“, sagt selbst ein Freund. „Brabeck imponiert durch sein Erreichtes, Bulcke hat ein klares Ziel, was er mit Nestlé erreichen will“, sagt ein Manager. Die Truppe folge ihm.





Vom Erfolg dieses Zweiklangs wird die Zukunft Nestlés abhängen. Der Präsident als Stratege, der Chef als operative Kraft – für Bulcke ist das gleichwohl zu wenig. „Ich bin ziemlich strategisch orientiert“, sagt er über sich. Brabeck und er hätten „sicherlich verschiedene Charaktere“. Die Strategie aber entstamme Entscheidungen, „die wir gemeinsam treffen“.
Gesundheit ist bald nicht mehr finanzierbar
Der Lackmustest für Bulcke wird der Erfolg im Gesundheitsgeschäft. Vorbild sind die Pharmakonzerne, die Gewinnmargen von 30 Prozent erzielen – doppelt so hohe wie Nestlé. Solche Vorhaben folgen früheren Ideen. Schon Maucher wollte Nestlé auf den Gesundheitstrip führen. Brabeck kaufte von Novartis Medical Nutrition, doch die Sparte mit gesund machender Nahrung versank. Zuvor hatte er die Marke Nutrel für Lebensmittel mit gesundheitlichem Zusatznutzen eingestampft, nachdem Nestlé mit LC1 gegenüber dem bakterienangereicherten Joghurt Activia von Danone den Kürzeren zog.
Die neue Tochter Health Science, die Nestlé-Urgestein Luis Cantarell führt, soll nun der große Wachstumsmotor werden. Bulckes Kalkül: Weltweit kostet Gesundheit zehn Billionen Dollar, innerhalb von 15 Jahren dürfte sich die Summe verdoppeln. „Das ist bald nicht mehr finanzierbar“, sagt der Nestlé-Chef. Die Schwellenländer bauten ihre Wirtschaft aus, ihre Gesellschaftsstrukturen und damit die Gesundheitssysteme. „Dort fehlen die Finanzmittel, um so schnell das Niveau wie hier in Europa zu erreichen. Wir können dort einen Unterschied machen mit Nestlé Health Science. In diesem enorm großen Gesundheitsmarkt reicht schon ein minimaler Anteil für uns, um einen guten Gewinn zu generieren“, so Bulcke.
Essen gegen die Krankheit





Noch muss der Markt für Nestlé erst entstehen. Zwei Milliarden Franken erlöst die Health-Tochter in einem Markt von zehn Milliarden. Immerhin: Ein Potenzial von 100 bis 150 Milliarden Franken sehen Marktbeobachter. Bisher gibt es nur erste Produkte, etwa zähe Flüssigkeiten für Menschen mit Schluckbeschwerden. Nach Abbott ist Nestlé die Nummer zwei im Markt. Nun will Bulcke mit speziell entwickelter Ernährung die großen Volkskrankheiten lindern: Alzheimer, Depression, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme, Übergewicht. „Unsere Zukunft erfinden wir neu“, schwärmt Spartenchef Cantarell. „Wenn dieses Geschäft ein Erfolg wird, wird es eine neue strategische Säule für Nestlé.“
Mithilfe von Genanalysen, die Pharmakonzerne derzeit zur Medikamentenentwicklung nutzen, will Nestlé weiterkommen. So ließe sich vielleicht herausfinden, ob bestimmte Nahrungszusätze bei nach genetischen Aspekten auswählbaren Kranken gezielt helfen. Praktisch, dass Bulcke im Verwaltungsrat von Roche sitzt. Dort kann er wichtige Kontakte für sein Vorhaben nutzen. Allerdings fokussiert sich Roche auf Krebsleiden – zu spezialisiert für Nestlé. Gespräche über eine Zusammenarbeit führe der Konzern daher etwa mit Novartis, heißt es. Der Pharmariese hat durch seine rezeptfreien Medikamente einen guten Draht zu Apotheken und mit seinem breiten Sortiment zugleich zu vielen Ärzten. Das könnte Nestlé nützen.
Von Gustometer und blaue Schläuche
Nestlés Chancen stehen gut. „Das hat Zukunft. Es gibt eine Schnittstelle zwischen medizinischen Nahrungsmitteln und Medikamenten“, urteilt der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher. „Bei weiterer Forschung könnte es gelingen, dass medizinische Ernährung zusammen mit Medikamenten eine schnellere Genesung ermöglicht.“ Locher macht aber auch „eine Klippe“ aus: Belastbare Studien müssten die Wirksamkeit solcher speziellen Nahrungsmittel erst aufzeigen.
Ein schwarz glänzender Block verbirgt Nestlés Zukunftslabor. Räume voller Apparate, Rohre, Betten füllen dessen zwei Stockwerke. An das Nestlé Research Center bei Lausanne angedockt, erproben Forscher die Wirkmechanismen von Nahrungsstoffen in klinischen Tests. Nichts für Klaustrophobiker: Plexiglas umzieht einen Sitz, durchsichtige, blaue Schläuche ragen heraus, einzig handgroße Eingrifflöcher ermöglichen Kontakt zur Außenwelt. Durch sie erhalten die Testpersonen Nahrung, während das Gerät studiert, wie der Stoffwechsel reagiert. Wenige Türen den Flur entlang weiter steht der ganze Stolz der Forscher: das Gustometer. Ein unscheinbarer grauer Kasten, doch er sprüht winzige Tropfen verschiedener Flüssigkeiten auf die Zunge eines Probanden und misst an Gehirnsignalen, wie sie exakt schmecken. Wie süß, wie salzig?
Solche Forschung entscheidet über den Erfolg von Bulckes Vorhaben, schonende Nahrung für Kranke zu entwickeln. So will Nestlé auch Pizza, Eis oder Süßgetränke mit weniger Fett, Zucker, Salz produzieren – etwa indem gesündere Stoffe den gleichen Geschmack erzeugen. Rund 1,5 Milliarden Franken steckt Nestlé pro Jahr in eine solche Forschung, mehr als 5000 Mitarbeiter an weltweit 34 Standorten tüfteln neue Produktideen aus.
Das Geschäft mit der Gesundheit zeigt eine Stärke Nestlés: dranleiben zu können an langfristigen Trends, wenn nötig jahrzehntelang. Der Glücksfall Nespresso macht den Managern Mut. Kaffee in Kapseln? Lachhaft fanden viele Branchenkenner diesen Einfall, der unter Maucher 1986 zur neuen Marke wurde. Mehr als 20 Jahre lang verfolgte Nestlé unbeirrt die Idee. Dann wurde Nespresso zum mehrfach kopierten Welthit.
Nestlé selbst muss abspecken
Handel
Der lange Atem kostet Kraft und Ressourcen. Das mit zunehmender Größe schwierigere Wachstum zwingt Nestlé, selbst abzuspecken. Bulcke drillt die Beteiligungen, den Ressourceneinsatz und die Konzernstruktur auf Effizienz. Jahrelang leistete sich der Konzern auch schlecht laufende Geschäfte. Solche Geld- und Energiefresser schaltet Bulcke aus. Die von Brabeck gekaufte, aber schleppend laufende US-Diätfirma Jenny Craig etwa, obwohl zur Strategie passend, stößt er ab. Ebenso stehen die PowerBar-Sportriegel auf dem Prüfstand, wie auch Teile des von Bulcke erworbenen Pizzageschäfts.
Zugleich zieht Bulcke intern das Tempo an und fordert weniger Mails, stärker fokussierte Meetings, schnellere Entscheidungen. Diese dauerten vielen Führungskräften zu lange. Seit Anfang 2013 wird zudem erstmals an konkreten Synergien zwischen den Sparten gearbeitet. Dazu trommelte vor einem Jahr Schweiz-Chef Eugenio Simioni die 500 Köpfe starke Vertriebstruppe im Fünf-Sterne-Hotel Montreux Palace zum „NIM (Nestlé in the Market) Powerday“ zusammen. Mehr Koppelangebote verschiedener Marken, gemeinsamer Außendienst, wo es passt, Extraboni für Kunden mehrerer Sparten gab Simioni vor. Auch in der Marktforschung sollen die Marken kooperieren.
Ein Wandel an der Führungsspitze
Trotzdem lässt Bulcke die Marken weiterhin eigenständig. Das Grundkonzept, einst von Vorgänger Brabeck aufgesetzt, brachte Nestlé Erfolg. Der Koloss, so die Überzeugung, bleibt nur agil, wenn er dezentral arbeitet. „Mir werden viele Freiheiten gelassen“, sagt Getränkemanager Scharf. Bulcke setzt zwar die Eckpfeiler: fünf bis sechs Prozent organisches Wachstum pro Produkt, jedes Produkt muss 60 Prozent der möglichen Kunden gewinnen, der Fokus soll auf Gesundheit, Konsum außer Haus und Premium liegen. „Aber wie ich die Ziele erreiche, ist mir überlassen“, sagt Scharf. „Es ist, als führte ich eine kleine Firma, der Nestlé als Konzern auf dem Wachstumsweg hilft.“
Schwung in den Konzern mit weltweit rund 340 000 Mitarbeitern bringt Finanzchefin Wan Ling Martello, die Bulcke 2011 vom US-Handelsriesen Wal-Mart holte. Die Amerikanerin symbolisiert einen Wandel an der Führungsspitze. Bulcke weicht das eherne Konzerngesetz auf, Manager möglichst aus dem inneren Nestlé-Zirkel zu beordern. Wie Bulcke und Brabeck arbeitete sich die Führungsmannschaft stets durch den ganzen Konzern hoch.
Nach Martello holte Bulcke 2013 auch Stefan Catsicas ins Führungsteam. Der neue Chief Technology Officer war zuvor Professor für Zellbiologie und baute zuletzt für den saudi-arabischen König den wissenschaftlichen Zweig von dessen Universität aus. „Nestlé sucht die richtige Balance zwischen der Sicherheit der Produkte, dem Nährwert, dem Geschmack“, sagt Catsicas. „Meine Kernaufgabe ist es, diese drei Elemente zusammenzubringen.“
Über allem aber schwebt die Erkenntnis Bulckes, dass Nestlé stärker in die Gesellschaften eintauchen muss, mit denen der Konzern seine Geschäfte macht. Als die Konferenz im kolumbianischen Cartagena im Oktober zu Ende geht, betont Bulcke: „Wir sind ein komplexer Konzern, aber wir müssen offen sein für Kritik. Das hilft uns, den Fokus auf die wichtigen Dinge zu legen.“