Plastic Icons Aus Kunststoff wird Kunst

Von der Tüte bis zum Toaster, vom Duplostein bis zum Designerstuhl: Alles ist aus Plastik. Der Kunststoff prägt unseren Alltag seit Jahrzehnten. Das NRW-Kunstforum widmet dem Material eine ganze Ausstellung.

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In der Küche finden sich Joghurtbecher neben Rührtöpfen und Schaumschlägern. Im Badezimmer quakt neben der Shampooflasche die Wannenente. Im Kinderzimmer parkt das Bobby-Car neben Duplosteinen und Windelpaketen. Außerdem residiert dort seit den Wirtschaftswunderzeiten das Barbie Girl. Die dänische Band Aqua widmete ihm vor 19 Jahren ein Lied. Darin quietschte die Sängerin: „Life in plastic, it’s fantastic.“ Selten war so viel Weisheit in einem Popsong. Die Einsicht, dass Plastik unser Leben ist und jenes dadurch durchaus wonnig, trifft nicht nur auf die Puppe mit den Storchenbeinen zu. Der Satz beschreibt tatsächlich den Alltag, von Fisher-Price-Arztkoffer bis Zahnbürste. Gestern genauso wie heute.

130 Kultobjekte

Weil der Werkstoff Plastik die Lebensästhetik prägt wie kaum ein anderer, hat ihm das NRW-Kunstforum nun eine Ausstellung gewidmet. Plastic Icons heißt die kuratierte Ode an den Kunststoff. „Er hat eine ganz andere Art von Gestaltung möglich gemacht“, sagt Wolfgang Schepers, Präsident des Kunststoff-Museums in Düsseldorf, das die 130 am Rhein versammelten Kultobjekte zur Verfügung gestellt hat. Darunter finden sich Designklassiker genauso wie anonyme Entwürfe. Es gibt den von Charles und Ray Eames entwickelten fiberglasverstärkten Kunststoffstuhl mit Stahlgestell zu sehen, die Schreibmaschine Valentine, aber auch das rote Bobby-Car, Schrecken aller Türpfosten.

Der Kampf gegen die Plastiktüten

Gemein ist sämtlichen Exponaten, dass „sie sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben“ und „ohne die Verwendung von Kunststoff nicht möglich wären“, sagt Schepers. Die Ausstellung will damit die volle Varianz des Stoffes aus gut 90 Jahren zeigen. Denn Plastik kann alles sein – oder nichts. Das Material hängt an der Gestaltung wie ein Säugling an der Kunststoffnuckelflasche.

Das Chamäleon unter den Werkstoffen

„Es gibt keinen anderen Werkstoff, der sich so wirtschaftlich verarbeiten lässt und dabei so vielfältige Eigenschaften aufweist“, sagt Ernst Schmachtenberg, Professor für Kunststofftechnik und Rektor der RWTH Aachen. Kunststoff ist haltbarer als Gummi, glaubwürdiger als Furnier, leichter als Eisen und solider als jedes Textil.

„Das Material hat keine Identität wie Holz, Stahl oder Beton“, sagt Schmachtenberg. Stattdessen täuscht und trickst der Stoff wie ein Pokerspieler. Er kann Salatschüssel oder Surfbrett sein. Er ist mal hart, mal weich, glänzend, matt oder kunterbunt, mal leitend oder bei Bedarf isolierend. Das Material ist formbar wie Kuchenteig und allzeit verfügbar. Kurzum: Plastik ist das Chamäleon unter den Werkstoffen und deshalb spätestens seit den Fünfzigerjahren Traumstoff jedes Industriedesigners.

Plastik galt als grüne Vollkatastrophe

Spottbillig ist das primär aus Erdöl hergestellte Zeug obendrein. So billig, dass Plastikkultur ab Mitte der Siebzigerjahre zum Inbegriff von wertfrei und oberflächlich wurde. Plastikstücke galten als Wegwerfmüll, der vor allem das Meer schwemmte. Denn Kunststoff war zwar immer schon praktisch – aber lange nur schwer zu recyceln.

In den ökologisch angefeuerten Achtzigerjahren war Plastik deshalb vor allem eine grüne Vollkatastrophe. Beutel mit dem Aufdruck „Jute statt Plastik“ trugen Einkäufe und gutes Gewissen zur Schau. Gleichzeitig verabschiedete sich die Pop-up-Ära, die dem Kunststoff nach dem Krieg zu modernem Glanz verholfen hatte. Bloß kein Holz, viel zu staubig, lautete die Devise der Fünfziger- und Sechzigerjahre.

Bioabbaubare versus biobasierte Kunststoffe

Inzwischen sind Originale aus dieser Zeit, etwa der als „Plastic Icon“ ausgestellte eisförmige Panton-Stuhl, beliebte Sammelstücke. Nicht nur weil die Industrie den einstigen Imagekratzer dank der Erfindung von kompostier- und recycelbaren Kunststoffen erfolgreich weggespachtelt hat.

Fast zwei Drittel der Bevölkerung beurteilen nach Angaben des Branchenverbandes Plastic Europe Kunststoff heute positiv. Vor allem aber hat der Werkstoff insbesondere das Möbeldesign so nachhaltig demokratisiert, dass Plastik aus den meisten Haushalten längst nicht mehr wegzudenken ist. Derzeit tüfteln Kunststofffans an der Zukunft des Materials.

Ein paar Ideen sind im NRW-Forum zu sehen. Der Designhersteller Vitra hat einen Stuhl produziert, in dessen Beine Gase gespritzt werden, die Material sparen. Aus Italien kommt ein Fahrradrahmen, den ein 3-D-Drucker aus biobasierten Kunststoffen ausgespuckt hat. Unternehmen wie Adidas fertigen ihre Schuhsohlen oder Jacken inzwischen aus wiederverwerteten Kunststoffabfällen. „Man könnte sich einen Kreislauf vorstellen, der absolut grün ist“, schwärmt Kurator Schepers. Er ist allerdings nicht durchweg begeistert von dem Stoff. Die Barbie etwa fehlt in der Düsseldorfer Ausstellung. „Nicht alles, was man aus Kunststoff machen kann, ist auch ästhetisch gelungen“, sagt Schepers. Von dem konservativ-reaktionären Frauenbild, das die Puppe vermittelt, mal ganz zu schweigen. Plastik ist vieles – kann aber doch nicht alles.

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