Sven Möller (Name geändert) zahlte eine horrende Büromiete, ging aber nie in seine Kanzlei. Er konnte nicht schlafen, stand morgens um vier Uhr auf. In drei Monaten verlor er fast zehn Kilo Gewicht. Jeder Nachfrage oder Berührung durch seine Frau wich er aus. "Warten Sie drei Monate, dann wird das besser. Bei dem Wetter ist doch jeder mies drauf", sagte sein Arzt.
5,3 Millionen Deutsche sind depressiv
So denken viele Deutsche, wie die Studie „Volkskrankheit Depression – So denkt Deutschland“ der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zeigt. Insgesamt erkranken jedes Jahr in Deutschland etwa 5,3 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression.
Symptome einer Depression
Deutliche Geschlechtsunterschiede finden sich bei der sogenannten unipolaren Depression, von der Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Diese Form ist gekennzeichnet durch Symptome wie verminderten Antrieb oder gesteigerte Müdigkeit, ...
... depressive Stimmung in einem ungewöhnlichen Ausmaß, die fast jeden Tag mindestens über zwei Wochen hinweg auftritt, ...
...Verlust an Interessen, keinerlei Freude mehr an Tätigkeiten, die einem früher mal Spaß und Befriedigung gebracht haben, ...
...Verlust des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls sowie Selbstvorwürfe und Selbstzweifel,...
...Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen, Appetitverlust oder gesteigerter Appetit.
(Quelle: Ursula Nuber, "Wer bin ich ohne dich?", Campus-Verlag)
Trotzdem haben viele Menschen keine Ahnung, wie sie mit Betroffenen umgehen sollen. Von den rund 2000 Teilnehmern an der Umfrage glaubten fast 80 Prozent, dass ein Urlaub ein geeignetes Mittel gegen Depression sei. Rund jeder Fünfte sagte, dass „Schokolade essen“ gegen Depressionen helfe (18 Prozent), 19 Prozent sagten, die Betroffenen sollten sich eben zusammenreißen.
Oft treffen Depressionen Menschen, die als Gesunde sehr verantwortungsbewusst und leistungsorientiert sind. Die Veränderungen der Persönlichkeit stellen Mitmenschen deshalb vor ein besonders großes Rätsel. Sätze wie: "Nun reiß' dich mal zusammen" bewirken nur noch größere Verzweiflung der Betroffenen.
"Bei einer schweren Depression kann sich auch der disziplinierteste Mensch nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen", sagt Ulrich Hegerl. Er ist Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Betroffene sollten sich gut überlegen, ob sie den Chef einweihen
Trotzdem versuchen viele, allein mit der Krankheit klarzukommen: 37 Prozent quälen sich noch zur Arbeit, obwohl sie längst beim Therapeuten sitzen sollten. Auch Johanna Weimer (Name geändert) hat sich zusammengerissen. Drei Jahre lang. Dann ging sie für ein paar Wochen in eine Klinik.
Als die Werbekauffrau in ihren Job zurückkehrte, hatte ihr Chef bereits Ersatz für sie gefunden. Weimer bekam erst einen Arbeitsplatz im Abstellzimmer, dann einen Auflösungsvertrag. Hegerl überrascht das nicht. "Bei Menschen, die einem sehr nahe und wichtig sind, ist es meist ratsam, mit der Erkrankung offen umzugehen. Gegenüber dem Arbeitgeber sollte man sich das immer gut überlegen", sagt er. Wie auch bei anderen schweren Erkrankungen könnte es sich negativ auf die Karriere auswirken, wenn der Arbeitgeber davon weiß.
Doch es ist eben nicht nur die Angst der Chefs, dass Menschen wie Weimer regelmäßig ausfallen könnten. Viele verwechselten eine Depression immer noch mit "schlecht drauf sein", wie die Studie zeigt. 53,3 Prozent der Befragten glauben, dass Depressionen auf falsche Lebensführung zurückzuführen seien – Betroffene sind in ihren Augen also selbst schuld. 31,1 Prozent stimmen gar der Aussage zu: „Depressionen sind ein Zeichen von Charakterschwäche“
Alle vermeintlichen Depressionsauslöser und angebliche Heilmittel finden Sie auf Seite 4.
Depressionen lassen sich nicht verhindern
„Es wird deutlich, dass noch ein großer Aufklärungsbedarf besteht“, bestätigt Christian Gravert, Projektleiter Psychische Gesundheit bei der Deutsche Bahn Stiftung und Leitender Konzernbetriebsarzt der Deutsche Bahn. Denn egal, ob stressiger oder gar kein Job, glückliche Familie oder frisch getrennt – eine Depression kann jeder bekommen. Jeden Fünften trifft es mindestens einmal im Leben. Fast jede dritte Berufsunfähigkeit entfällt derzeit auf psychische Erkrankungen.
Direkte Krankheitskosten liegen bei 16 Milliarden Euro pro Jahr
Auch bei den Krankschreibungen sind psychische Erkrankungen auf dem Weg, Rückenprobleme abzulösen. Laut dem aktuellen BKK Gesundheitsreport sind sie die dritthäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibung. 2017 kamen auf 100 Arbeitnehmer 237 Fehltage wegen psychischer Erkrankungen zusammen; im Schnitt 36 Tage pro Fall. „Größere Unternehmen wissen, dass sie etwas tun müssen, weil psychische Erkrankungen ein riesiger Kostenfaktor sind“, sagt Hegerl.
Allein die direkten Krankheitskosten für psychische Erkrankungen betragen knapp 16 Milliarden Euro pro Jahr. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin schätzt, dass diese Kosten bis zum Jahr 2030 auf rund 32 Milliarden Euro ansteigen könnten. Dabei ist der noch größere Anteil an indirekten Kosten – geringere Produktivität und vorzeitige Verrentung – noch gar nicht berücksichtigt.
Das Problem ist aus Hegerls Sicht, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern zwar Rückengymnastik, Stresscoachings und Yoga anbieten können, das aber gegen Depression weder hilft, noch sie verhindert. „Man muss immer unterscheiden zwischen Befindlichkeitsstörungen und der Krankheit Depression“, sagt er.
„Ich kann durch Stressmanagement und sonstige Wellbeing-Maßnahmen sehr viel für das Wohlbefinden tun, aber ob dadurch das Auftreten von Depressionen verhindert werden kann, das würde ich in Frage stellen. Hier werden manchmal naive Versprechungen gemacht"·
Depressionen sind Stoffwechselstörungen, keine Launen
Was nicht heißt, dass Kurse zur Stressreduktion nichts bringen, aber gegen eine Stoffwechselstörung im Gehirn – was eine Depression nun mal ist – helfen sie nicht. Betroffene brauchen eine Therapie. Die bekommt aber nur eine Minderheit. Oftmals müssen Patienten lange Wartezeiten überbrücken, bis sie einen Termin beim Facharzt oder Psychotherapeuten erhalten und eine adäquate Behandlung erfahren, wie die Studie zeigt.
Bis zum Therapiebeginn müssen viele im Job noch funktionieren. „Besteht ein vertrauensvolles Verhältnis zu Kollegen und Arbeitgebern, dann lassen sich manchmal Arrangements treffen, zum Beispiel kann der Betroffene weiter im Arbeitsrhythmus bleiben, das Arbeitspensum wird aber deutlich reduziert. Bei leichteren Depressionen ist das oft besser, als grübelnd zu Hause im Bett zu liegen", sagt Hegerl. Aber dafür müssten Betroffene ihre Situation ansprechen, wenn der Vorgesetzte es nicht selbst bemerkt.
Was Führungskräfte tun können
Gleiches gilt, wenn eine Depression überwunden ist und es darum geht, Rückfälle zu vermeiden. Hier empfehlen Experten, Schichtdienste und den häufigen Wechsel von Früh- auf Nachtschichten zu vermeiden. „Ein regelmäßiger Schlafrhythmus hilft häufig, um gesund zu bleiben“, sagt Hegerl. Dass sich Arbeitgeber darauf einlassen müssen – so es andere Einsatzmöglichkeiten gibt – hat das Bundesarbeitsgericht in Erfurt bereits 2014 entschieden. Im konkreten Fall ging es um eine Krankenschwester aus Potsdam. Sie konnte wegen einer Depression keine Nachtdienste mehr leisten. Die Klinik erklärte sie deswegen 2012 für arbeitsunfähig.
Die Krankenschwester verlangte dagegen, ohne Nachtschichten weiterarbeiten zu können – und Recht. "Die Klägerin ist weder arbeitsunfähig krank noch ist ihr die Arbeitsleistung unmöglich geworden“, hieß es im Urteil. Sie könne alle Tätigkeiten einer Krankenschwester ausführen. Der Arbeitgeber müsse deshalb bei der Schichteinteilung auf das gesundheitliche Defizit der Klägerin Rücksicht nehmen.
Depression: Volkskrankheit mit Versorgungsdefiziten
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Bis 2020 werden sie laut Weltgesundheitsorganisation weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein, vor Diabetes mellitus (Zuckererkrankung) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dabei gibt es immer noch erhebliche Versorgungsdefizite, so das Robert Koch Institut (RKI).
Je nach Statistik haben schätzungsweise vier bis fünf Millionen Menschen in Deutschland eine Depression. Nach Zahlen des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gab es 2015 insgesamt 1,12 Millionen stationäre Fälle von GKV-Patienten, die die Diagnose Depression hatten. Der weitaus größte Teil davon wurde jedoch wegen anderer Erkrankungen stationär behandelt. Depression war also häufig „nur“ Nebendiagnose. GKV-Patienten mit Hauptdiagnose Depression gab es insgesamt bei rund 316 500 stationären Fällen. Genaue Zahlen über ambulante Fälle gibt es nicht.
Betroffene leiden unter einer gedrückten Stimmung, Traurigkeit oder inneren Leere, Antriebs-, Freud- und Interessenlosigkeit. Weitere Symptome können Konzentrationsmangel, schwindendes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sein. Dann auch Müdigkeit, Schlafstörungen sowie Appetitlosigkeit und entsprechend Gewichts- sowie Libidoverlust. Auch Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit kommen vor. Wenn eine bestimmte Anzahl dieser Grund- und Zusatzsymptome über 14 Tage anhält, spricht man je nach Anzahl und Schwere von einer leichten, mittelschweren oder schweren depressiven Episode. Bei schweren Depressionen kann es zu lebensmüden Gedanken kommen, die das Risiko einer Selbsttötung steigen lassen.
Depressionen haben auch körperliche Grundlagen, denn im Gehirn findet da etwas statt oder besser nicht statt. Bisher geht man davon aus, dass in bestimmten Regionen des Gehirns die Botenstoffe zwischen den Nervenzellen reduziert sind, so dass nicht ausreichend oder falsche Signale übertragen werden. Einer dieser Botenstoffe ist Serotonin. Hier setzen auch die Medikamente an. Sie sollen die Konzentration dieser Botenstoffe an den sogenannten synaptischen Spalten erhöhen.
Grundsätzlich ja. Heute gehe man von einem bio-psycho-sozialen Erklärungsmodell für Depressionen aus, erläutert die Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses in Berlin-Weißensee, Iris Hauth. Bio meint dabei auch, dass man eine angeborene Empfänglichkeit haben kann. „Es gibt mehrere Gene, die mittlerweile in unserer Erbausstattung identifiziert worden sind, die eine mögliche Anfälligkeit für Depressionen mit sich bringen.“ Doch Depressionen müssten nicht zum Ausbruch kommen. „Da müssen psychische und soziale Faktoren hinzukommen.“ Etwa schlimmer akuter Stress nach einem Autounfall oder längerer Stress, etwa durch Arbeitslosigkeit.
Wird eine depressive Erkrankung frühzeitig erkannt, ist sie in den meisten Fällen gut behandelbar. Zwei Drittel der Episoden klingen laut Hauth gut ab, auch wenn eine erhöhte Sensibilität bleiben kann. 20 Prozent werden chronisch. In der Regel gilt: Leichte Depressionen werden mit psychotherapeutischen Maßnahmen behandelt, mittelschwere mit psychotherapeutischen und - wenn der Patient es will - mit Medikamenten. Bei schweren Depressionen kommt auf jeden Fall beides zum Einsatz.
Ja, können sie haben. Um die Kriterien für eine Depression zu erfüllen, muss man sich ausdrücken und Gefühle äußern können. Ein Kleinkind, das keine Fürsorge bekommt, ist traurig und zeigt Zeichen einer frühkindlichen Depression. Aber eigentlich sieht man die klassischen Symptome einer Depression bei Kindern erst vom Schulalter an, erläutert der Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Neuruppin, Michael Kölch. Bei Kindern und Jugendlichen gebe es einen hohen Anteil reaktiver Depressionen, etwa, wenn sich die Eltern trennen, wenn die Eltern umziehen oder wenn der geliebte Opa stirbt. Mobbing in der Schule ist ebenfalls ein Risikofaktor. Die kindliche Symptomatik sei nicht nur traurige und niedergeschlagene Stimmung, sondern drücke sich oft auch in einem gereizten Stimmungswechsel aus.
Im Alter setzen sich Menschen mit ihrem Leben auseinander. Traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit können hoch kommen. Verlusterlebnisse beim Tod des Partners oder der Partnerin können Auslöser sein. Zugleich muss man sich immer mehr mit körperlichen Gebrechen und Krankheiten abplagen. Typisch für das Alter sind auch viele Medikamente. Das alles kann psychische Krankheiten nach sich ziehen.
Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz gibt zu bedenken, dass rund 1,2 Millionen der über 60-Jährigen in Deutschland an Depressionen leiden. Doch nur sechs Prozent davon würden behandelt. Depressionen seien Hauptursache für Suizide. In Deutschland geht man insgesamt von 100.000 Suizidversuchen im Jahr aus. Etwa 10.000 Menschen bringen sich tatsächlich um.
Ja. Statistisch haben etwa 10 bis 25 Prozent der Frauen im Leben depressive Phasen, während es bei den Männern 4 bis 10 Prozent sind. Oberarzt Stefan Rupprecht vom Alexianer St. Joseph-Krankenhaus sagt, zwar sei die Depressionsrate bei Männern niedriger als bei Frauen, dafür aber die Suizidrate höher. Männer geben aber ihre Depressionen oft nicht zu, sind eher gereizt beziehungsweise aggressiv oder sind in sich gekehrt.
Hegerl möchte trotzdem nicht zwangsläufig dazu raten, die Diagnose Depression offenzulegen. Das solle sich jeder Betroffene sehr gründlich überlegen – wegen möglicher beruflicher Nachteile und weil man auch auf Unverständnis stoßen kann. Er sagt: „Dem Arbeitgeber gehen meine Diagnosen zunächst mal nichts an. Das gilt für Depressionen genauso wie für Migräne".
Führungskräfte sollen Mitarbeiter ansprechen
„Ich würde mir wünschen, dass es für Depressionen ebenso Handlungsleitfäden für Personalverantwortliche gibt wie für Alkoholprobleme“, so der Experte. „Wenn einer morgens mit Fahne zur Arbeit kommt, wird er darauf angesprochen. Wenn er wiederholt weinend vor dem Computer sitzt und nicht mehr in die Mensa geht, dann wissen die Vorgesetzten meist nicht, was sie tun sollen. Das muss sich ändern.“ Denn die Menschen brauchen rasche Hilfe. Wer eine Veränderung an Kollegen oder Angestellten bemerkt, die Symptom einer Depression sein könnte, sollte also nicht wochenlang tatenlos zusehen.
„Es ist doch selbstverständlich, hinzugehen und zu sagen: ‚Ich mache mir Sorgen um Sie. Sie wirken verzweifelt, und Ihre Leistung hat auch nachgelassen. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Vielleicht kann ich helfen`", sagt Hegerl. Klar, wenn das Verhältnis nicht stimme, werde der Betroffene darauf nicht eingehen.
Auch Jurist Möller hat lange keine Hilfe zugelassen und sich gegen das vermeintliche Stigma Depression gewehrt. Selbst die Experten waren sich uneins. Sein Hausarzt vermutete Sauerstoffmangel im Schlaf. Eine Psychologin stellte nach zehn Sitzungen die Diagnose Partnerschaftsproblem. Es dauerte ein Jahr, bis Möller aus eigenem Antrieb Hilfe bei einem Psychiater suchte und die Diagnose mittelschwere Depression erhielt. Bis dahin sprach er selbst nur von einer „Schwächephase“. So wie insgesamt 17,6 Prozent der Betroffenen die Schuld bei sich suchen.
Sie, Ihre Freunde, Familie oder ein Kollege sind betroffen?
■ Wissen, Selbsttest und Adressen rund um das Thema Depression finden Sie auf der Webseite deutsche-depressionshilfe.de
■ deutschlandweites Info-Telefon Depression: 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
■ Hilfe und Beratung gibt es außerdem bei den sozialpsychiatrischen Diensten der Gesundheitsämter in den Gemeinden
■ Betriebsärzte können ihren Mitarbeitern das kostenfreie iFightDepression-Tool an die Hand geben, dass Menschen mit einer leichten bis mittelgradigen Depression dabei unterstützen kann, mit den Symptomen umzugehen