Im Mai hatte die Schuhhandelskette Ludwig Görtz noch Grund zu feiern: Der Handelsverband Deutschland (HDE) kürte eine Görtz-Filiale im Düsseldorfer Kö-Bogen zu einem der „Stores of the Year 2022“, also zu einem der besten neuen Läden im Land. Görtz-Chef Frank Revermann nahm den Preis entgegen.
Seither jedoch gab es für den Manager und sein Team wohl nur wenig Anlass für Partystimmung: Nach einem ordentlichen Start ins Jahr ist die Einkaufslaune der Verbraucher gekippt. Der Krieg in der Ukraine, die hohe Inflation und Sorgen vor weiter steigenden Energiepreisen drücken auf die Stimmung der Konsumenten – und auf die Geschäftslage bei Görtz. „Mit Kriegsbeginn hat der Kunde entschieden: Ich will jetzt nicht mehr einkaufen“, sagte Revermann im August dem Branchenblatt „Textilwirtschaft“. „Das haben wir sofort gespürt – auch im Netz. Stationär sind die Frequenzen in allen Läden deutlich eingebrochen.“ Zugleich leidet das Unternehmen unter Kostensteigerungen, hohen Schulden und den Altlasten der Vergangenheit.
Am Dienstag hat die Geschäftsführung die Reißleine gezogen und beim Amtsgericht Hamburg für die drei Kerngesellschaften der Gruppe Anträge auf Insolvenz in Eigenverwaltung gestellt, im Fall der Holding als Schutzschirmvariante. Betroffen sind zudem die Logistiktochter und die Retail-Gesellschaft, in der die bundesweit rund 160 Filialen des Schuhfilialisten gebündelt sind.
Damit beginnt für das 1875 in Barmbek bei Hamburg gegründete Unternehmen und seine rund 1800 Mitarbeiter eine von Unsicherheit geprägte Zeit. Der Geschäftsbetrieb soll weitergeführt werden. Die Mitarbeiter werden für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten Insolvenzgeld erhalten. Gleichzeitig dürfte die Geschäftsführung, unterstützt von erfahrenen Sanierungsberatern, Gespräche mit Lieferanten und Vermietern suchen, um neue Verträge auszuhandeln und Kosten einzusparen. Schon im Interview mit der „Textilwirtschaft“ hatte Revermann betont, Mieten reduzieren zu wollen. Dies funktioniere aber meist nur dann „wenn ein Mietvertrag ausläuft“. Aber „wir müssen in laufenden Verträgen etwas tun. Hätten wir das Umsatzniveau von 2019, wäre alles in Ordnung. Aber wir haben eine massive Kaufzurückhaltung wegen Krieg und Inflation. Darauf sind die Mieten nicht angepasst“, so Revermann. Das Insolvenzrecht eröffnet nun neue Möglichkeiten, unrentable Verträge zu kappen.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Ziel sei es, „die gerichtlichen Sanierungsverfahren von Görtz jeweils zügig mit einem Sanierungsplan abzuschließen“, heißt es in einer Pressemitteilung. Die Geschäftsführung bleibe an Bord und werde in den kommenden drei Monaten den Plan erarbeiten und dem Gericht vorlegen. „Wenn die Gläubiger diesem Plan zustimmen und das Gericht ihn bestätigt, wird der Erhalt und die nachhaltige Fortführung von Görtz gesichert“, heißt es weiter. Görtz sei eine „starke und bekannte Marke, die weiterhin viel Potential in sich trägt“, wird Görtz-CEO Revermann in der Mitteilung zitiert.
Görtz ist nicht der einzige Problemfall
Beaufsichtigt wird die Restrukturierung vom vorläufigen Sachwalter Sven-Holger Undritz, Partner der Kanzlei White & Case. Auch auf die Gläubiger dürften Einschnitte zukommen – darunter auch der Bund.
Görtz hatte im vergangenen Jahr 28 Millionen Euro vom Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) der Bundesregierung erhalten. Schon zuvor war die staatliche KfW-Bank über ihr Corona-Sonderprogramm als Konsortialpartner mit 22 Millionen Euro an der Finanzierung des Unternehmens beteiligt worden.
Wie zahlreiche andere Einzelhändler litt das Unternehmen mit seinen Filialen in Citylagen, an Bahnhöfen und in Shopping-Centern massiv unter den Lockdown-Einschränkungen zur Bekämpfung der Coronapandemie. Bereits der erste Lockdown im Frühjahr 2020 führte nach früheren Angaben zu einem Umsatzverlust von fünf bis sechs Millionen Euro pro Woche. Im Bundesanzeiger
wurde für 2020 ein Verlust von rund 30 Millionen Euro ausgewiesen.
Corona verstärkte damit ohnehin vorhandene Probleme des Traditionsunternehmen, das schon lange vor der Pandemie rückläufige Umsätze verzeichnete. Und nun – nach der akuten Coronaphase – bleibt die erhoffte Erholung aus. Damit steht Görtz nicht allein.
Nach einem guten Start ins Jahr habe sich die Konsumstimmung in der Branche ab Mai spürbar verschlechtert, sagte vor Kurzem der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Textil Schuhe Lederwaren (BTE), Siegfried Jacobs. „Gerade die einkommensschwächeren Haushalte schränken ihren Mode- und Schuhkonsum derzeit ein“, so Jacobs. Weniger anfällig seien die gehobene Mitte und das Premiumsegment im Handel. Doch auch dort sitze das Geld nicht mehr ganz so locker. Insgesamt lagen die Umsätze im stationären Schuhhandel Jacobs zufolge im ersten Halbjahr 2022 immer noch etwa zehn Prozent unter dem Vor-Pandemie-Niveau.
Der Online-Verkauf von Schuhen, der Ende 2021 einen Marktanteil von 41 Prozent erreichte, konnte im ersten Halbjahr nicht an das vom Lockdown geprägte hohe Vorjahresniveau anschließen. Selbst die großen Online-Pure-Player hätten überwiegend und zum Teil erstmals in ihrer Unternehmensgeschichte Erlöseinbußen hinnehmen müssen. Es werde wieder mehr in den Geschäften gekauft, sagte Jacobs. Nach Schätzungen des BTE ging 2021 die Zahl der stationären Schuhhändler um sechs Prozent auf rund 3000 Unternehmen mit 11.000 Filialen zurück.
Die deutschen Schuhhersteller steigerten in den ersten sechs Monaten nach Angaben des Branchenverbandes HDS/L ihren Umsatz um 11,6 Prozent auf 1,6 Milliarden Euro. Die Zahl der Beschäftigten in der Schuhindustrie lag mit rund 15.750 um 7,7 Prozent über dem Vorjahresniveau.
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