Das Doppel-Hupen zur Warnung ist ohrenbetäubend laut. Dann ruft der Bergmann Daniel Hoffmann in einem Tunnel-Rohbau des Bahnprojekts Stuttgart 21: „Achtung, ich schieße!“ Er kurbelt an einem Kasten, drückt – und aus 300 Metern Entfernung ist ein dumpfer Knall zu hören. 50 Sprengstäbe sind in einer Wand am Ende des Tunnels explodiert. Die Druckwelle ist enorm. Eine Tüte weht umher, Haare und Klamotten wirbeln durcheinander. Eine Staubwolke ist zunächst nicht zu sehen – sie kommt erst später, wenn Luft ans Tunnelende gepumpt und das bei der Sprengung entstandene Gas nach draußen gedrückt wird.
Für den 38-jährigen Bergarbeiter Hoffmann ist die Szene Alltag – in etwa einem Dutzend Tunnelröhren in Stuttgart wird täglich gesprengt. Nahezu 20 der 59 Kilometer Tunnelstrecke unter der Stadt sind bereits gegraben oder vorgetrieben, auf der Neubaustrecke nach Ulm sind es nach Angaben der Bahn weitere 32 von 61 Tunnel-Kilometern. „Wir sind auf einem guten Weg“, sagt Bauingenieur Wadim Strangfeld.
Vor mehr als sechs Jahren schon sagte Bahnchef Rüdiger Grube: „Stuttgart 21 ist ab heute Realität.“ Im Februar 2010 bei der Feier zum Baubeginn des Milliardenvorhabens Stuttgart 21 wollten Kritiker das nicht glauben. Das ist auch heute nicht anders, obwohl mit der Grundsteinlegung – wieder mit Grube als Hauptredner – das Projekt einen weiteren Meilenstein erreicht.
Eine Röhre vom Nordkopf des künftigen Hauptbahnhofs in Richtung Stadtteil Bad Cannstatt ist fast fertig, nur 250 Meter der etwa 2,5 Kilometer fehlen noch. „Mit etwas Glück haben wir noch dieses Jahr den Durchschlag“, sagt Strangfeld, der für den Tunnel unter dem Kriegsberg zuständig ist.
Die Pannen bei Stuttgart 21
Der für Stuttgart 21 zuständige Bahn-Vorstand Volker Kefer hatte im Sommer 2013 eingeräumt, mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit werde das Vorhaben 2022 fertig, mit 40-prozentiger erst 2023. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig realistisch, dass die Inbetriebnahme 2022 zu halten ist. Offiziell hält die Bahn am Fertigstellungstermin für den Stuttgarter Bahnknoten Ende 2021 fest, auch um den Druck auf beteiligte Firmen aufrecht zu erhalten. Gegner wie Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) halten 2025 für machbarer.
Der Baufortschritt wird immer wieder durch neue Auflagen etwa beim Brand- oder Artenschutz gebremst. Ein weiterer Grund sind schleppende Baugenehmigungen - dabei ist unklar, ob das Eisenbahnbundesamt als Aufsichtsbehörde mit zu wenig Fachpersonal oder die Bahn mit womöglich unvollständigen Unterlagen verantwortlich ist. Die Verzögerungen schlagen insofern zu Buche, als dass die Bahn Firmen länger vorhalten muss als vorgesehen. Und die Erlöse aus dem Betrieb des Bahnhofs rücken immer weiter in die Ferne.
Der Puffer im vom Bahn-Aufsichtsrat 2013 beschlossenen Finanzierungsrahmen von 6,526 Milliarden Euro ist laut einer neuen Prognose des Unternehmens fast ausgeschöpft. Wenn alle neu identifizierten Risiken einträten, verblieben nur noch 15 Millionen Euro für weitere Unwägbarkeiten in den nächsten Jahren. Daraus ergibt sich ein sogenannter Gegensteuerungsbedarf von 524 Millionen Euro, der in internen Unterlagen für die nächste Aufsichtsratssitzung an diesem Mittwoch (15. Juni) in Berlin zu finden ist. Dort wird sich der Bahn-Vorstand Berichten zufolge auf starke Kritik gefasst machen müssen. Vize-Chefaufseher Alexander Kirchner sagte der Deutschen Presse-Agentur, er werde Aufklärung vom Management fordern.
Es gibt erste Überlegungen - wie den Schichtbetrieb an den Baustellen auszuweiten, eine neue Autobrücke am Bahnhof zu errichten, um die Bauarbeiten zu erleichtern, und die Bauabläufe weiter zu optimieren.
Es gibt drei große Posten. Mehrkosten von 144 Millionen Euro könnten durch eine veränderte Tunnelbauweise entstehen, um Schäden durch das aufquellende Mineral Anhydrit zu vermeiden. 147 Millionen Euro gehen auf Risiken zurück, die mit über 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit auftreten, zum Beispiel beim Arten- und Lärmschutz. Der größte Block sind 290 Millionen Euro, die womöglich durch einen langsameren Fortschritt wegen schleppender oder neu beantragter Baugenehmigungen verursacht werden. So kamen Verzögerungen zustande, weil die Bahn im Tiefbahnhof die Fluchttreppen an die Enden der Bahnsteige verlegt und den Brandschutz für deutlich stärkere Feuer auslegen muss.
In den Koalitionsverhandlungen war das Thema heftig umstritten. Die CDU wollte der Bahn Entgegenkommen signalisieren; die Grünen wollten auf jeden Fall die bisherige strikte Ablehnung, sich an Mehrkosten zu beteiligen, nicht aufweichen. Laut Koalitionsvertrag will das Land in möglichen neuen Finanzierungsgesprächen darauf bestehen, „dass über die im Vertrag genannten Kostenanteile in Höhe von 930,6 Millionen Euro hinaus von Seiten des Landes keine Zahlungen zu leisten sind“. Beim Treffen des Lenkungskreises am 30. Juni muss die Bahn den Projektpartnern von Land, Landesflughafen, Stadt und Region Stuttgart die Lage erklären. Diese fordern vehement mehr Transparenz ein.
Das S-21-Tunnelsystem von knapp 60 Kilometern Länge ist zu einem Viertel erstellt. Die Grundsteinlegung der Bodenplatte des Tiefbahnhofs ist für spätestens September 2016 anvisiert. Aus Bahn-Sicht ist dieses Ereignis der größte Meilenstein vor der Inbetriebnahme der neuen Station - wann auch immer diese sein mag.
Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 meint: ja. Ein modernisierter Kopfbahnhof sei verkehrstechnisch sowie finanziell weit günstiger als die bisherige Durchgangslösung, die die Kritiker auf Kosten von 9,8 Milliarden Euro taxieren. Und was soll mit der Grube geschehen? Die kann nach Ansicht der S-21-Gegner als Bahnhof für Fernbusse dienen.
Kaum ein Bauprojekt in Deutschland hat so massiven Widerstand ausgelöst wie Stuttgart 21. Geldverschwendung und gefährlich für die Umwelt, so die Kritik der Gegner. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2010/11 zogen Zehntausende auf die Straße. Neben der Atomkatastrophe von Fukushima war auch S21 ein Grund dafür, dass die Grünen 2011 von der Opposition in die Landesregierung wechseln konnten.
Inzwischen sind die Proteste leiser geworden, wenngleich einmal pro Woche noch Hunderte, manchmal mehr als 1000 Projektgegner auf ihrer Montagsdemo durch die Stadt ziehen. Ein Kritikpunkt: Das großteils unterirdische Bauwerk sei schlecht für das Trinkwasser, es berge unkalkulierbare Risiken.
Der Tunnel, für den Ingenieur Strangfeld verantwortlich ist, geht unter anderem durch Gipskeuper. Dieses Gestein hat seine Tücken – durch Wasser kann Gipskeuper aufquellen, es kann so auch in Bewegung geraten. In der badischen Kleinstadt Staufen kam es zum Beispiel wegen des Gipskeupers zu Rissen an der Oberfläche.