Tatjana Sterneberg Zwangsarbeiterin für Quelle und Neckermann

Nicht nur Ikea soll Produkte aus Gefängnissen der DDR bezogen haben. Tatjana Sterneberg nähte Bett- und Kopfkissenbezüge - und entdeckte diese später in einem Neckermann-Katalog. Sie leidet noch heute unter der Haft.

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Tatjana Sterneberg leidet noch heute unter den Haftbedingungen. Quelle: Andreas Labes für Handelsblatt

Mein Verbrechen war es, einen Italiener zu lieben. Ich war 21 und wollte jede Minute mit meinem Freund aus West-Berlin verbringen. Wir wollten heiraten. Er wollte aber nur im Westen mit mir leben. Nachdem mein Ausreiseantrag mehrfach abgelehnt wurde, habe ich mich nach Fluchtmöglichkeiten umgehört. Ein Stasi-Spitzel in meinem Arbeitsumfeld hat uns verraten. Ich wurde zu vier, mein Freund zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Ein Jahr war ich in Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit, nach der Verurteilung kam ich ins DDR-Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg. Es war schrecklich. In einem für 650 Gefangene konzipierten Zuchthaus saßen 1974 über 1600 Frauen ein. Meine Zelle war 30 Quadratmeter groß, hatte 24 Schlafplätze in Dreistockbetten und Matratzen zwischen den Bettstellen (Bodenschläfer). Es gab drei Wasserhähne und nur eine Toilette.

Das Wachpersonal hat uns um fünf Uhr geweckt, die erste Schicht begann um sechs Uhr. Zwischen 1974 und 1976 habe ich Bett- und Kopfkissenbezüge für den VEB Planet genäht. In einem riesigen Saal, links 50 Frauen, in der Mitte ein Aufgang, rechts 50 Frauen. Ein Arbeitskommando hatte rund 100 Häftlinge. Die Maschinen waren total veraltet, dauernd defekt, eine Gruppe von Häftlingen war extra eingeteilt, ständig Reparaturen zu erledigen.

Wir mussten auch in Samstags- und Sonntagsschichten schuften. Für 192 Stunden Arbeit im Monat bekam ich 345 Ostmark, also 1,80 Mark die Stunde. Die Abrechnungen habe ich noch. Da kann man auch sehen, dass keine Sozialabgaben gezahlt wurden.


In der Haft mit Psychopharmaka vollgestopft

Später habe ich erfahren, dass beim VEB Planet für mehr als 100 Millionen Mark produziert wurde. Jedes Jahr. Diese Bettwäsche habe ich nach meiner Entlassung bei Quelle und Neckermann gefunden. Ich finde es empörend, dass sich diese Westfirmen auf dem Rücken der politischen Gefangenen der DDR bereichert haben.

So wurde Quelle schon vor Jahrzehnten angeschrieben, dass unsere Arbeit in ihren Katalogen gefunden wurde. Aber es kam nie eine Antwort. Das ist eine Schande. Wächterinnen nannten sich amtlich Erzieherinnen, sie haben uns ständig getriezt. Einmal habe ich gesehen, wie eine Frau auf einer Pritsche festgeschnallt war und vor Schmerzen schrie. Die Schreie höre ich heute noch. Als Zeugin musste ich zur Strafe in den Arrest.

Manche Häftlinge haben wegen der Misshandlungen auch die Arbeit verweigert oder sind in den Hungerstreik getreten. Dann wurde im Einzel- oder strengen Arrest das Wasser abgedreht: Dunkler Keller, 200 bis 300 Gramm Brot pro Tag, jeden vierten Tag eine warme Suppe.

In der Haft wurde ich mit Psychopharmaka vollgestopft, mir fielen die Haare aus, die Zähne. Der zuständige medizinische Leiter der Haftanstalt praktiziert heute noch unbehelligt bei Berlin. Ich musste im Gefängnisladen für Fantasiepreise Ersatzkleidung kaufen - in unserer alten Kleidung, die oft nicht mehr passte, wollte man uns nicht in den Westen lassen.

Aufgezeichnet von Sönke Iwersen

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