Ukraine-Krieg Erfinderische Russen kontern Sanktionen mit eigenen Lieferketten

Roter Platz in Moskau Quelle: IMAGO/ITAR-TASS

Als Reaktion auf die westlichen Sanktionen suchen viele Russen neue Wege für die Beschaffung von fehlenden Waren. Putin hat das Problem erkannt und greift russischen Unternehmern unter die Arme.

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Viele junge Russen haben als Folge der Sanktionen, die das Land in weiten Teilen von der Weltwirtschaft abgeschnitten haben, das Land verlassen. Für Viktoria Shelanowa, eine 37-jährige Social-Media-Managerin in Moskau, war es eine Gelegenheit, ein Unternehmen zu gründen, das Wassersportbekleidung verkauft.

Die Abwanderung ausländischer Marken nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat zu einem Warenmangel in praktisch allen Bereichen geführt. Als Viktorias Schwester Julia, eine begeisterte Wakeboarderin, Schwierigkeiten hatte, eine Neoprenweste zu finden, machten sich die beiden auf die Suche nach einem Hersteller in China, das freundlichere Beziehungen zum Kreml unterhält. Sie machten eine Fabrik in der Provinz Guangdong ausfindig, die Sportbekleidung für mehrere große US-Unternehmen herstellt, und baten über den chinesischen Nachrichtendienst WeChat um Muster. Weniger als zwei Monate später erhielten sie eine Lieferung von 20 Westen.

Die beiden Schwestern wollen die Neoprenwesten zunächst in Chargen von 100 Stück bestellen und an Wassersportparks in Moskau verkaufen, die mit der zunehmenden Beliebtheit des Wakeboardens in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind. „Wir glauben, dass es eine große Nachfrage geben wird, und im Moment gibt es keine Konkurrenz“, sagt Viktoria per Telefon aus Moskau.

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von Dieter Schnaas

Viele Kommentatoren vergleichen die derzeitige wirtschaftliche Isolation Russlands mit der Sowjetzeit. Doch die Lage erinnert eher an die 1990er-Jahre, als der Zusammenbruch des Kommunismus klaffende Lücken in den Versorgungsketten hinterließ. Verbraucher und Unternehmer waren gezwungen, kreative Wege zu finden, um sie zu schließen.

Neue Lieferketten entstehen: Kreml spricht von „Mobilisierungswirtschaft“

Die Anzeigenwebsite Avito ist voll von Leuten, die anbieten, Kleidung ausländischer Marken aus dem Ausland zu importieren: Wer dort nach Gucci sucht, erhält 173.000 Angebote. Über ehemalige Sowjetstaaten werden so iPhones und andere technische Geräte nach Russland eingeführt.

Franchisenehmer begegnen dem Ausstieg der multinationalen Unternehmen, indem sie Produkte mit ähnlichen Verpackungen und Logos, aber leicht veränderten Namen verkaufen. Krispy Kreme Doughnuts heißen jetzt Krunchy Dream, Starbucks ist Stars Coffee und Pizza Hut heißt jetzt Pizza N (eine Anspielung auf die Tatsache, dass das kyrillische N wie ein lateinisches H aussieht).

Ein russischer Staatsbürger, der nicht genannt werden möchte, hat in Dubai ein Unternehmen gegründet, das eine Lizenz für den Goldimport besitzt. Russische Unternehmen kaufen Goldbarren und liefern sie an ihn. Er wiederum verkauft sie an Schmuckhersteller in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Nachdem er 40 Prozent des Gewinns eingestrichen hat, verwendet er den Erlös, um Autoteile oder andere benötigte Waren zu kaufen, die dann nach Russland transportiert werden.

Maximale Freiheit für russische Unternehmer

Das alles ist Teil dessen, was Kreml-Offizielle die „Mobilisierungswirtschaft“ nennen. In einer Rede im März, kurz nachdem die ersten Sanktionen in Kraft getreten waren, sagte der russische Präsident Wladimir Putin: „Es gibt nur einen Ausweg aus der Situation, in der wir uns derzeit befinden, und der besteht darin, den Menschen, die Geschäfte machen, maximale Freiheit zu gewähren.“

Vorschriften, die so genannte Parallelimporte verbieten, also die Einfuhr von Markenartikeln ohne Zustimmung des Markeninhabers, wurden aufgehoben. Die Website des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung wirbt für zinsgünstige Darlehen für Unternehmer in bestimmten Branchen sowie für Moratorien bei Inspektionen.

Dennoch zeigen die Sanktionen ihre Wirkung. Gebrauchte Toyotas und BMWs erzielen höhere Preise als zum Zeitpunkt, als sie noch neu waren. Mehr als ein Viertel der Flugzeuge von Aeroflot wurden aus dem Verkehr gezogen, weil sie als Ersatzteile für noch funktionierende Flugzeuge ausgeschlachtet wurden.

Eine Studie von Bloomberg Economics, die Russland mit Südafrika in den 1960er- bis 90er-Jahren verglich – damals war das Land wegen der Apartheid mit Sanktionen belegt – kommt zu dem Schluss, dass die Wirtschaft mit „einer erheblichen, schleichenden Belastung konfrontiert ist, da Handels- und Kapitalverkehrsbeschränkungen den Wettbewerb abwürgen und zu Ineffizienz führen“. Die russische Wirtschaft schrumpfte demnach im vergangenen Jahr um 2,7 Prozent und wird bis 2023 um weitere 2,5 Prozent einbrechen.

Das russische Statistikamt veröffentlicht seit dem Einmarsch in die Ukraine keine detaillierten Handelsdaten. Nach Angaben der Zentralbank sind die Einfuhren im vergangenen Jahr um schätzungsweise 23,5 Prozent von 380 Milliarden Dollar (351 Milliarden Euro) im Jahr 2021 zurückgegangen. Der stellvertretende Ministerpräsident Denis Manturow sagte im September voraus, dass der Wert der Paralleleinfuhren bis Ende 2022 mindestens 20 Milliarden Dollar erreichen werde.

Ausländische Unternehmen stellen Aktivitäten ein und stoppen Investitionen

Bis zu eine Million Russen verließen im Jahr 2022 das Land, um der wirtschaftlichen Not und der drohenden Einberufung an die Front zu entkommen. Für die verbliebenen Russen ändert sich das tägliche Leben langsam, da viele der großen globalen Marken ihre Geschäfte aus Russland zurückziehen.

Bislang haben nur etwa fünf Prozent der internationalen Unternehmen, die vor dem Krieg in Russland tätig waren, ihre Zelte vollständig abgebrochen, wie aus einer von der Kiewer Wirtschaftshochschule erstellten Datenbank hervorgeht. Aber mehr als die Hälfte haben ihre Aktivitäten eingeschränkt oder neue Investitionen gestoppt.

Einige multinationale Unternehmen wie Apple und Inditex, die Muttergesellschaft von Zara, zogen sich nach der Invasion schnell zurück. Andere, wie der Konsumgüterhersteller Reckitt Benckiser, zu deren Portfolio Produkte wie Enfamil-Babynahrung und Durex-Kondome gehören, sowie British American Tobacco, Hersteller von „Dunhill“- und „Pall Mall“-Zigaretten, kündigten Pläne zum Rückzug an, haben diese aber bis heute nicht umgesetzt.

In einigen Warenkategorien füllen chinesische Marken das entstandene Vakuum. Xiaomi war 2022 Russlands meistverkaufter Smartphone-Hersteller und hat damit Samsung entthront. Nach Angaben der M.Video-Eldorado Group, Russlands größtem Einzelhändler für Unterhaltungselektronik, waren drei der fünf meistverkauften Marken chinesisch.

Markt für Designerkleidung und Accessoires boomt

Der Markt für Designerkleidung und Accessoires floriert trotz der Sanktionen. Nachdem die Europäische Union im März die Ausfuhr von Luxusartikeln mit einem Stückpreis von mehr als 300 Euro nach Russland verboten hatte, stiegen die Umsätze in Geschäften in Dubai und der Türkei, zwei Ländern, die Direktflüge nach Russland unterhalten, erklärte Claudia D’Arpizio, eine Partnerin bei Bain.

Das Beratungsunternehmen schätzt, dass die Russen im Jahr 2021 persönliche Luxusgüter im Wert von etwa 7 Milliarden Euro gekauft haben, sowohl zu Hause als auch auf Reisen im Ausland. Das entspricht bis zu 3% des weltweiten Luxusmarktes.

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Die Shelanowa-Schwestern haben nicht vor, sich auf Neoprenwesten zu beschränken. Sie denken darüber nach, in den Bereich der Neoprenanzüge zu expandieren und wollen an chinesische Fabriken, die für große US-Marken produzieren, herantreten.

„Wir haben bereits die Fabrik gefunden, die Neoprenanzüge für Roxy herstellt, aber wir sind auch auf der Suche nach anderen Unternehmen“, sagt Julia. „Wir würden gerne unsere eigene Marke gründen.“

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