Um teure Produkte zu verkaufen Insiderin erzählt: Wie Firmen Facebook missbrauchen

Falsche Freunde: Auf Facebook gibt es fragwürdige Aktivitäten Quelle: imago images

Unternehmen aus der Fitnessbranche nutzen massenhaft Facebook, um teure Produkte zu verkaufen. Der Internetkonzern verbietet solche Praktiken eigentlich, weiß aber angeblich nichts davon. Eine Insiderin erzählt.

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Der Facebook-Post, der im Nachrichten-Feed von Julia Richter angezeigt wurde, klang völlig harmlos: „Wenn du auch deine Bikini-Figur erreichen willst, kommentiere mit einem grünen Herz“, stand dort geschrieben. Richter postete das grüne Herz. Nur Stunden nach ihrem Post fand Richter eine Nachrichtenanfrage in ihrem Posteingang auf Facebook: „Eine fremde Frau fing einen Smalltalk mit mir an“, sagt die 23-Jährige. „Nach einigen Fragen kam wie beiläufig der Hinweis, dass es da bestimmte Produkte gebe, die mir beim Abnehmen helfen würden.“ Richter, die in Wahrheit anders heißt, wurde neugierig, und kaufte die Produkte des Herstellers Juice Plus.

Für Richter begann von da an eine Zeit, die ihr als die teuerste ihres jungen Lebens in Erinnerung bleiben sollte. Sie kaufte nicht nur die Produkte, sie heuerte später sogar bei dem Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln als Verkäuferin an. Verdient hat sie dort wenig, dafür erhielt sie Einblick in ein fragwürdiges System aus Psycho-Verkaufstricks und Gruppendruck. Nach mehreren Monaten stieg sie wieder aus – und erzählt ihre Geschichte.

Denn Juice Plus, eine der größten Firmen für den Vertrieb von Nahrungsergänzungsmitteln in Europa mit geschätztem Umsatz von rund 600 Millionen Euro, geht auf Facebook gezielt auf Verbraucherakquise – obwohl dies die Richtlinien bei Facebook verbieten. Die Kundenfänger von Juice Plus vermischen dabei bewusst Privates und Berufliches und bewegen sich so moralisch in einer Grauzone. Opfer sind vor allem junge, unerfahrene Konsumenten, die vom perfekten Körper träumen. Experten warnen vor dieser Vertriebsmasche.

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von Nico Hornig

Auch Richter wollte den Bikini-Körper. Sie probierte das Pulver „Vanilla Complete“ – mischte es mit Milch zu Hause an, so ersetzte sie eine Mahlzeit. „Ich nahm ein wenig ab, glaube aber heute, dass das der Placebo-Effekt war.“ Zusätzlich bestellte sie bei dem Unternehmen Kapseln, die ihren täglichen Bedarf an Obst und Gemüse abdecken sollten. Kostenpunkt für das „Premium Paket“ von Juice Plus, das Pulver, Vitamin-Pillen und Riegel enthält: 184,50 Euro – pro Monat. Gekauft wird jeweils in der Vier-Monats-Packung.

Die grundsätzliche Geschäftsidee hinter der Vertriebsstrategie von Juice Plus ist nicht neu: Durch persönlichen Kontakt zum Kunden sollen Produkte verkauft werden. Unternehmen wie Vorwerk mit dem Thermomix oder die Verkäufer von Tupperware im Wohnzimmer sind seit Jahrzehnten mit dem Modell erfolgreich. Seit einiger Zeit haben nun auch Firmen, die Nahrungsergänzungsmittel verkaufen, das System für sich entdeckt. Anbieter wie Herbalife, LifePlus, Amway und eben Juice Plus dominieren den deutschen und europäischen Markt und verkaufen Pulver für Shakes, Kapseln aus getrocknetem Obst und Gemüse und Fitnessriegel.

Für den Vertrieb ihrer Produkte und zur Kundenakquise nutzen viele Unternehmen wie Juice Plus vor allem soziale Netzwerke wie Facebook. Einige Verkäufer haben das System regelrecht perfektioniert: Sie geben sich als Privatperson aus, dabei wollen sie in Wahrheit Fitnessprodukte vermarkten.

Laut Facebook ist das nicht zulässig. Auf Anfrage der WirtschaftsWoche schreibt das Unternehmen: „Unsere Gemeinschaftsstandards verbieten das massenhafte Versenden von Privatnachrichten und wir haben laufend Schutzmechanismen im Einsatz, die unsere Nutzer effektiv vor Spam schützen.“ Grundsätzlich sei „es nicht zulässig, unsere Nutzer ohne deren Einwilligung über Privatnachrichten zu Werbezwecken zu kontaktieren.“

Doch genau das tun die jungen Verkäufer von Juice Plus, so erzählen es Richter und andere Betroffene, mit denen die WirtschaftsWoche im Zuge dieser Recherche sprechen konnten. Juice Plus will von systematischer Täuschung der Konsumenten nichts wissen. „Bei unseren Franchise-Partnern handelt es sich um selbstständige Vertriebspartner“, die sich an die „geltende Gesetzgebung“ sowie an „unsere Kommunikationsrichtlinien“ halten müssen, heißt es auf Anfrage. Facebook-Nutzer privat anzuschreiben, um Produkte zu verkaufen, verstoße „gegen beides“, so Juice Plus. „Werden wir auf Verstöße aufmerksam gemacht, leiten wir entsprechende Maßnahmen ein.“

Doch die Erfahrung von Richter sind andere. Einmal im Netz, werden Kunden später sogar als Mitarbeiter akquiriert. Nach einem halben Jahr fragte die Frau, die Julia Richter die erste Nachricht geschickt hatte, nach: „Willst du nicht mal hinter die Kulissen blicken und selbst mitgestalten?“ Sie sollte „Teil des Teams“ werden. Was klingt wie ein besonderer Zugang, hat möglicherweise Methode bei dem Unternehmen. So werden aus Kunden Verkäufer. Richter sagt heute: „Ich war völlig naiv.“

Nach eigenen Angaben beschäftigt Juice Plus 14.000 selbstständige Vertriebspartner, die in Deutschland mehr als 200.000 Endverbraucher bedienen. Eine Vergütung für die Anwerbung und Einführung von neuen Franchise-Partnern werde aber „nicht bezahlt“ und sei „auch nicht Teil des Vergütungsplans“. Dementsprechend „werden nicht Kunden gezielt angeworben, um sie zu Vertriebspartnern werden zu lassen.“

Beliebige Posts zum Thema Fitness und Ernährung

Als Richter als selbstständige Verkäuferin anfing, fand einmal pro Woche abends ein Live-Video-Seminar statt, an dem die junge Frau oft mit Dutzenden anderen eine Präsentation der Firma verfolgte. Dort wurde ihr beigebracht, wie sie sich auf Facebook mit fremden Menschen anfreunden sollte, um dann die Produkte zu verkaufen. Teilweise sollte sie sich beliebige Posts auf Facebook ansehen, die etwas mit dem Thema Fitness oder Ernährung zu tun hatten: „Wenn jemand darunter Freunde von sich verlinkte, konnte ich die Namen sehen. Und die habe ich dann angeschrieben – weil ja offenbar klar war, dass die eine besondere Affinität für das Thema haben und so leichte Opfer sind.“ Einer der Standardsätze, mit denen sie User anschreiben sollte, lautete: „‚Du siehst voll sportbegeistert aus. Hättest du Lust auf eine Challenge?‘“ Ziel sei es, in 90 Tagen gezielt abzunehmen. In Wahrheit ginge es darum, so viele „Juice Plus“-Produkte wie möglich zu verkaufen. Bei Interesse an den Produkten gab Richter dann einen Link weiter, über den die neuen Kunden bestellen sollten – so wurde ihre Provision bezahlt.

Juice Plus dementiert dieses Vorgehen. Es gebe zwar diverse Schulungs- und Trainingsmaterialien, Schulungen und sonstige Unterstützung innerhalb des Systems. Aber es würde dabei jeweils nur erläutert, „wie das Vertriebssystem funktioniert und zum anderen, welche Aussagen über das Produkt gegenüber dem Kunden getroffen werden dürfen“, schreibt das Unternehmen auf Anfrage. Dabei hätte sich jeder an die Kommunikationsrichtlinien und Verhaltensstandards zu halten. Bei der großen Anzahl von Franchise-Partnern, laut Unternehmensangaben 180.000 weltweit, die „selbstverantwortlich tätig sind“, könne es aber „in Einzelfällen vorkommen“, dass diese sich nicht an den geltenden Richtlinien orientierten.

Die Provision fällt in dem Unternehmen offenbar unterschiedlich hoch aus, je nachdem wie viel man schon verkauft hat – die Rendite beginnt bei zehn Prozent des Verkaufswerts des Produkts und wächst dann bis auf 20 Prozent an. Je nach Erfolg klettert man im firmeninternen Ranking nach oben, für jede Stufe gibt es eigene Bezeichnungen. Zusätzlich gibt es je nach Stufe eigens ausgeschüttete „Bonuszahlungen“, die am Anfang 150 Euro betragen und sich dann langsam steigern. Als „Presidential Marketing Director“ bekommt man vom Unternehmen eine Zahlung von 38.400 Euro. So ist es auf einer der Folien zu lesen, die das Unternehmen bei seinen Verkäufern verbreitet und die der WirtschaftsWoche zugespielt wurden.

Als Facebook-Nutzer kann man die Verkäufer von Juice Plus nur schwer erkennen. Oft steht der Name der Firma, für die sie tätig sind, gar nicht auf ihrem Profil. Lediglich Fotos, die das Logo vom „Move Club“ oder „Club W“ — beides sogenannte „Movements“, die zu Juice Plus gehören — lassen erkennen, für wen gearbeitet wird. Diese „Movements“ bezeichnen die Teams von Juice Plus und sollen offenbar ein besonderes Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen. Dass das Unternehmen mit seinem Namen zunächst in den Hintergrund tritt, dürfte Teil der Firmen-Strategie sein.
Marketing-Experten sehen die Vertriebskonzepte der Unternehmen kritisch. „Private Kontakte ohne deren explizite Einwilligung zu nutzen, um Produkte zu verkaufen, ist link“, sagt BWL-Professor Manfred Schwaiger von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. „In der Regel erwartet man von seinen persönlichen Bekannten nicht, dass die einem ungefragt was andrehen wollen.“ Das Modell von Juice Plus und anderen Firmen halte er „in der Hinsicht für mindestens perfide.“

Dennoch hat das Modell offenbar Erfolg. Auf sogenannten „Conventions“, zu denen oft in riesigen Video-Konferenzen aufgerufen wird, treffen sich die Verkäufer vor Ort. Richter fuhr zu zwei Treffen in Pforzheim und Berlin: „Dort wurde auf großer Bühne mit lautem Tamtam geehrt, wer besonders viel verkauft hat“, sagt sie. Als einmal einer der Chefs der Firma reinkam, habe es die Leute schier „aus den Sitzen gerissen. Die haben den regelrecht angebetet.“ Der WirtschaftsWoche liegen Fotos von den Treffen vor: freudestrahlende junge Menschen, JuicePlus-Produkte auf dem Tisch und Beamer-Sprüche an der Wand: „Nur die Harten kommen in den Garten.“

Julia Richter sagt: „Die erfolgreichen Verkäufer werden schonmal im Cabrio durch Berlin gefahren. Das machte natürlich schon Eindruck, auch auf mich damals.“ Experte Schwaiger von der LMU erklärt dazu: Diese Conventions seien „Motivationsmaßnahmen der härteren Gangart“. Das habe schon „etwas von einem Sektenkult, ist psychologische Manipulation – und offenbar sehr erfolgreich.“
Richter ist glücklich, dass sie inzwischen ausgestiegen ist. Hinter ihrem Schreibtisch lag bis vor Kurzem noch ein letztes, mittlerweile verstaubtes Juice-Plus-Paket. Sie sagt: „Das kommt jetzt endgültig weg. Endlich ist dieses Kapitel vorbei.“

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