„Ich verbringe jede freie Minute mit Lego.“ Der Satz steht einen Moment im Raum bis Andreas Reikowski ergänzt: „Wenn ich nicht gerade etwas baue, denke ich an Lego.“ Was bei einem Kind normal klingt, verwundert, wenn es aus dem Mund eines 52-Jährigen kommt. Wer allerdings Reikowskis meterhohen Modelle sieht, die er ohne Anleitung, ohne Zeichnungen, ohne Hilfsmittel entwirft, ist baff.
Ob es nun der Nachbau eines Gebäudes ist, das er in der Stadt gesehen hat oder eine riesige, aus Lego errichtete Murmelbahn an der er aktuell arbeitet: „Bei mir entsteht alles am Bauplatz.“ Wie viele Steine er dort zur Verfügung hat, weiß er nicht genau. 200, vielleicht 300 Kisten werden es wohl sein.
Den Kontakt zum Spielzeug seiner Kindheit hatte Reikowski in seiner Jugend verloren. Als 24-Jähriger fand er dorthin zurück. „Anfangs war es die reine Freude am Spielen“, sagt er. „Es war das Kind im Manne, das noch nicht erwachsen geworden ist.“ Seit 2006 stellt er seine Bauten aus und treibt sich in der Lego-Szene herum.
Erwachsene wie Reikowski, die das Spielkind in sich wieder entdeckt haben, gibt es in Deutschland zu Tausenden – egal ob es nun Fans der Modelleisenbahnen von Märklin sind, der Rennstrecken von Carrera, der Modellautos von Wiking oder eben der Klötzchenwelt von Lego.
Spielen, um nicht abzustumpfen
Auch wenn der spielende Mann immer noch häufig belächelt wird – vor allem von der eigenen Frau, für Rainer Buland, der das Institut für Spielforschung in Salzburg leitet, steht fest: „Zu spielen ist die höchste Kunst des Erwachsenen.“
Bulands Erklärung: Das Gehirn baut ab, wenn wir es nicht nutzen. Da während des beruflichen Alltagstrotts oftmals lediglich ein Bruchteil der geistigen Kapazitäten abgerufen wird, bleibt laut Buland nur eines: „Immer wieder etwas Neues ausprobieren, lernen, Gewohnheiten bewusst ändern und vor allem - spielen.“
Marktanteil der Lego GmbH in ausgewählten Ländern
In Deutschland beherrschte Lego 2013 17,1 Prozent des Spielzeugmarktes.
In der Schweiz ist der Anteil minimal größer – er beträgt 17,2 Prozent.
18,4 Prozent des Österreichischen Markts konnte Lego vereinnahmen.
Der Erwachsene als Umsatztreiber
Klötzchenbauen ist also kein Selbstzweck. „Etwas ‚Sinnloses’ tun, aber das mit ganzer Hingabe – da steckt doch mehr drin als Sinnlosigkeit“, sagt Reikowski. „Das ist Philosophie, denn die Steine sind nur so gut, wie ich sie setze. Das ist wie mit allen künstlerischen Tätigkeiten: Das Material selbst ist es nicht, was reizt, sondern das Wissen-Wollen, was damit möglich ist.“
Das Interesse der Erwachsenen am Spielzeug ist den Produzenten nicht entgangen. Viele Spielzeughersteller richten ihre Produkte und Marketing-Strategien mittlerweile bewusst auf Erwachsene aus und erschaffen ganze Spielewelten für sie.
Wenn Erwachsene die Hauptkundschaft sind
Für den Göppinger Spielwarenhersteller Märklin sind Erwachsene sogar die wichtigste Kundschaft. Viele Modelle sind für Kinder zu teuer – die kunstvollen und detailreichen Modelleisenbahnen kosten nicht selten mehrere hundert Euro. Dazu kommt das Gleismaterial, von dem mehrere Meter gebraucht werden, um eine Welt zu entwerfen. Kostenpunkt für einzelne Schienen: Zwischen zwei und 40 Euro.
„Der Preis, die Modellauswahl – das ist schon sehr auf den Erwachsenen Kunden zugeschnitten“, sagt Florian Sieber, geschäftsführender Gesellschafter bei Märklin. Die wichtigsten Produkt seien nach wie vor Dampflokomotiven aus den Fünfzigern und Sechzigern - nicht gerade etwas, was Kinderherzen höher schlagen lässt. „Die Digitaltechnik ist zudem oft sehr komplex. Man kann unglaublich viel einstellen. Für die meisten Kinder ist das zu kompliziert.“
Mit den Serien MyWorld und Starter versucht Märklin zwar mittlerweile Kinder und Neueinsteiger als Modellbahner zu gewinnen, bis dato lief das aber nur schleppend an.
Sieber schätzt, dass Erwachsene, die die Eisenbahnen für sich selbst kaufen, mehr als drei Viertel des Gesamtumsatzes von Märklin ausmachen. Der Umsatz belief sich im Ende April 2015 zu Ende gegangenen Geschäftsjahr auf insgesamt 98 Millionen Euro.
Das Problem, die jüngere Zielgruppe zu erreichen, hat der dänische Klötzchenproduzent Lego nicht. Trotz Spielekonsolen und Smartphone – aus den meisten Kinderzmmern hierzulande ist Lego weiterhin nicht wegzudenken. Aus vielen Hobbyzimmern von Erwachsenen ebenfalls nicht.
Lego für den Mann
Seit 2010 fährt das Unternehmen eine Werbekampagne, die sich speziell an Männer richtet. Auf der Kampagnen-Website Legomen.de finden sich Sets, die das Spielkind im Manne ansprechen: Etwa der Nachbau des Super Sternenzerstörers aus der Star-Wars-Saga.
Das Set umfasst mehr als 3000 Steine, wird mit einer 220 Seiten langen Anleitung angeliefert und erfordert von versierten Legobauern um die 20 Stunden Bauzeit. Aufgebaut ist der Sternenzerstörer über einen Meter lang und wiegt 3,6 Kilogramm. Zum Spielen eignet er sich nicht, dafür macht sich das detailgetreue Modell hervorragend in der Vitrine.
Wie gefragt solche Sets sind zeigt sich zudem daran, dass das Modell des Sternenzerstörers im Lego-Shop längst vergriffen ist; trotz des stolzen Preises, der sich bei Erscheinen 2011 auf rund 400 Euro belief. Bei anderen Anbietern finden Fans das Set noch. Kostenpunkt heute: Mehr als 1000 Euro.
Lego-Sets für mehrere hundert Euro
Eine solche Preisentwicklung ist bei den Modellen nicht selten, die wie der Sternenzerstörer Teil der Ultimate Collector’s Series sind. Die Serie startete Lego im Jahr 2000 mit den Star-Wars-Baukästen X-Wing Fighter (7191) und TIE-Interceptor (7181). Bis heute hat Lego 28 Modelle aus der Star-Wars-Saga in dieser Serie herausgebracht. Sie sind allesamt hochpreisig, gigantisch groß und vor allem für den Erwachsenen Klötzchenbauer gedacht. Zuletzt erschien unter anderem der Slave I (75060), das Raumschiff von Kopfgeldjäger Boba Fett.
Wie groß die Begeisterung so manch eines Erwachsenen ist, lässt sich den Produktbewertungen entnehmen. In Dutzenden Kommentaren loben die Käufer die detailgetreue Umsetzung des Vorbilds aus den Star-Wars-Filmen, die Stunden des kniffligen Bauens und die beeindruckende Größe. Es gibt sogar Youtube-Videos, in denen Fans stolz das aufgebaute Werk präsentieren. Sie werden tausendfach angeklickt.
Neben den riesigen Lego-Star-Wars-Modellen sprechen die Reihen Lego Architecture und Lego Technic Erwachsene an. 2010 fand das Unternehmen bei einer Studie heraus, dass sich jeder dritte Mann vorstellen kann, ein Lego Technic Produkt für sich selbst zu kaufen.
Die Zahl der erwachsenen Spielkinder nimmt zu
Branchenexperten haben den Anteil Erwachsener, die Lego für sich selbst kaufen, 2014 auf 15 Prozent der Kundschaft taxiert. „Wir hören immer wieder, dass der Star-Wars-Todesstern von Vätern an ihre ein-jährigen Kinder verschenkt wird“, sagt eine Unternehmenssprecherin.
Der Todesstern kostet mehr als 400 Euro und besteht aus über 3800 Steinen – nicht gerade das, womit ein Ein-Jähriger Lego-bauen und -spielen lernt.
Lego auch bei Erwachsenen besonders beliebt
Der Erwachsenen-Anteil am Lego-Umsatz steht über dem Branchendurchschnitt. Rund acht Prozent des Umsatzvolumens der gesamten Spieleindustrie fällt auf Erwachsene zurück, die Spielzeug nicht für ihre Kinder kaufen, sondern für sich selbst. Das hat das Consumer-Panel des Marktforschungsunternehmens npdgroup ergeben.
„Der Anteil erwachsener Selbstnutzer hat in den vergangenen Jahren zugenommen“, sagt Joachim Stempfle, Director Toys der npdgroup. Spielforscher Buland kann den Erfolg von Marken wie Märklin, Carrera oder Lego bei der Kundschaft im fortgeschrittenen Alter erklären: „Spielzeug muss eine Herausforderung bieten, sonst wird es schnell langweilig. Es muss möglich sein, etwas Kompliziertes zu bauen oder wie im Falle einer Modelleisenbahn etwas wirklich ‚echt’ aussehen zu lassen.“
Vielen Lego-Bauern reichen Baukästen deswegen nicht aus. Reikowski sagt: „Ich bin hochzufrieden, wenn Lego Steine auf den Markt bringt, den Rest erledige ich. Ein Set nachbauen, das ist ja so, als würde ich die Ideen eines anderen kopieren.“
Damit Lego-Modelle selbst zu entwerfen, verbringt auch Rene Hoffmeister seine Tage. Der Betreiber des Lego-Teileshops und -Fan-Forums 1000Steine.de lebt den Traum, den jedes Lego-bauende Kind einmal hatte: Er wird fürs Lego-Bauen bezahlt. Als einer von weltweit zwölf zertifizierten Lego-Designern („Lego certified professionals“ heißt das bei Lego) sind seine Werke auf Messen und Ausstellungen gefragte Objekte.
Die Geschichte Legos
1932 gründete der dänische Tischlermeister Ole Kirk Christiansen Lego. Der Name setzte sich zusammen aus „leg godt“, was so viel heißt wie: „spiel gut“. Zu Anfang stellte das Unternehmen noch Holzspielzeug her.
Ein Legostein, der dem heutigen Modell schon sehr ähnelt, wurde 1949 eingeführt. Die Oberseite war mit Noppen besetzt – wie es bis heute noch ist. Allerdings war die Unterseite hohl. Daraus resultierte ein Mangel an Stabilität.
Geschaffen wurde die Stabilität, die Lego so beliebt macht, 1958. Statt des Hohlraums befanden sich an der Unterseite der Steine nun Röhren, die dafür sorgten, dass die Steine fortan sehr gut hielten.
Von 1956 bis 1970 produzierte Lego Modellfahrzeuge nach realen Vorbildern. Insgesamt 16 Fahrzeuge gab es – diese konnten mit den bereits verkauften Klötzen kombiniert werden.
1974 wurden erstmals Lego-Figuren mit drehbaren Köpfen und Armen verkauft. Die Körper wurden damals noch aus herkömmlichen Steinen gebaut. Im selben Jahr kamen Figuren mit drehbaren Köpfen auf den Markt, die den heutigen Figuren sehr ähneln. Allerdings hatten sie noch keine bemalten Gesichter. Seit 1978 werden die sogenannten „Minifigs“ produziert – die heute bekannten Figuren.
2003 musste Lego große Verluste hinnehmen – rund 120 Millionen Euro verlor das Unternehmen und stand kurz vor der Insolvenz.
Deswegen übernahm ab 2004 der damals 36-jährige Jørgen Vig Knudstorp die Geschäftsführung. Der frühere Mitarbeiter von McKinsey war der erste Lego-Chef, der nicht zur Gründungsfamilie gehörte. Indem er zurück zum Kerngeschäft kehrte, die Zahl der Teile drastisch reduzierte und Legos Kindermarke Duplo wieder einführte, brachte er den Konzern zurück auf Gewinnkurs.
Unter Knudstorp schaffte Lego auch den Sprung in die digitale Welt. Warner Brothers produzierte für Lego den Film „Lego the Movie“, es gibt mittlerweile Online-Games, Computer-Spiele und Apps. Mit all diesen Mitteln wirbt Lego für sein Kerngeschäft – die Klötzchen.
Ob es nun ein sieben Meter langer Nachbau der Queen Mary II ist oder eine rund ein Quadratmeter große Nachbildung des New Yorker Guggenheim-Museum aus mehr als 8000 Lego-Steinen – mit Klötzchen und seinem Vorstellungsvermögen macht Hoffmeister in seiner brandenburgischen Werkstatt fast alles möglich. „An den besten Tagen ist mein Job fast so wie früher im Kinderzimmer zu sitzen“, sagt er. „Sachen ausdenken, rumprobieren, rumspielen, kaputt machen und von vorne anfangen.“
Über sein Forum hat er viele Gleichgesinnte kennengelernt. Alleine dort tummeln sich zwischen 4000 und 5000 aktive Legobauer – die meisten im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Und 1000Steine.de ist bei weitem nicht das einzige deutschsprachige Forum für ausgewachsene Lego-Fans. Da wäre zum Beispiel noch das Imperium der Steine, wo Andreas, Jahrgang 69, stolz seine 187 Lego Star-Wars-Sets präsentiert.
Ein Querschnitt der Gesellschaft
Was das für Menschen sind, die nach Feierabend mit Klötzchen bauen? „Es sind weitaus mehr Männer als Frauen“, sagt Hoffmeister. „Es geht los bei Jugendlichen ab 16 und nach oben hin gibt es keine Grenzen.“ Auf Ausstellungen und im Forum begegnet er auch Rentnern. „Die Lego-Bauer sind ein Querschnitt der Gesellschaft, Arbeitslose gehören da genau so zu wie Akademiker – und alles, was dazwischen zu finden ist.“
Wie wichtig das Spielen ist, haben mittlerweile auch Unternehmen erkannt. Die buchen Lego-Designer Hoffmeister seit Jahren, damit er mithilfe von Lego in Seminaren den Teamgeist der Belegschaft fördert.
„Außerdem ist Lego-Bauen entspannend und fördert die Feinmotorik“, sagt Hoffmeister. Einer seiner Bekannten hat das vom Arzt verschrieben bekommen, damit seine Fingergelenke wieder in Schwung kommen.
Fragt man Spieleforscher Buland, warum Erwachsene ihre Zeit mit etwas vermeintlich Nutzlosem wie Spielen verbringen, erzählt er vom Münchener Nobelpreisträger für Physik, Gerd Bining. Dieser habe die Tätigkeit seines Teams dezidiert als „Spielen“ bezeichnet. „Wenn sie nur gearbeitet hätten, anstatt mit Ideen, Einfällen und neuen Möglichkeiten zu spielen, hätten sie den Nobelpreis nie bekommen“, sagt Buland. Den Preis erhielt Bining letztlich für ein Nebenprodukt seiner Forschung: das Tunnelelktronenmikroskop.
Buland sagt weiter: „Wenn im Konzert eine Bruckner-Symphonie nach Arbeit klingt, läuft irgendetwas falsch.“ Deswegen sollte die Frage nicht lauten, warum so viele Erwachsene spielen. „Im Gegenteil müssen wir fragen: Wie kommt es, dass so viele Erwachsene ihre Zeit mit etwas verbringen, das sie nicht inspiriert, das sie nicht glücklich macht, nämlich mit Arbeit?“