Hand aufs Herz: Kaufen Sie Tiefkühl-Lasagne in Supermärkten? Oder lenkt Sie der Gedanke an Pferdefleisch weg vom Eisfach? Vor einem guten Jahr gab es den letzten großen Lebensmittelskandal in Deutschland, als überall im Land Pferdefleisch in Produkten gefunden wurde, die eigentlich aus reinem Rindfleisch bestehen sollten. Hunderte Tonnen falsch ausgewiesenes Fleisch gelangten über Frankreich und Luxemburg in deutsche Einkaufsmärkte. Ikea musste seine Köttbullar-Frikadellen zeitweise aus den Regalen entfernen, Aldi nahm Dosengulasch aus dem Verkauf, der Lebensmittelgigant Nestlé zog Ravioli zurück.
Bis heute konnte niemand für diesen systematischen Betrug verklagt werden. Den Lieferanten sind bekannt, doch weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit konnten nachgewiesen werden. Für Thilo Bode ist der Pferdefleisch-Skandal ein Beweis dafür, wie sehr die deutschen Verbraucher vom Gesetzgeber vernachlässigt werden. „Die rechtliche Vorsorge funktioniert in der Praxis nicht“, sagt der Geschäftsführer der selbsternannten „Essensretter“ foodwatch. Ein groß angelegter Betrug werde erst dann bemerkt, wenn es zu spät ist: nach dem Verkauf.
Nun fordert Bode in einem neuen Report eine „Generalüberholung des deutschen und europäischen Lebensmittelrechts“. Sein wichtigstes Anliegen: Alle Lebensmittelbetriebe sollen zu eigenen Kontrollen gesetzlich verpflichtet werden. Nur so könnten Unternehmen wegen vorsätzlichen Betrugs oder zumindest wegen Fahrlässigkeit verantwortlich gemacht werden. Bisher stehen Selbstkontrollen nicht ausdrücklich im deutschen Lebens- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB).
Den rechtlichen Rahmen gibt die EU vor: Seit dem Skandal um BSE-verseuchtes Rindfleisch im Jahr 2002 gilt eine europaweite Verordnung mit Grundsätzen zum Lebensmittelrecht. Für den Verbraucher entscheidend sind die Vorsorgepflicht und die Prävention: Unternehmen müssen selbst dafür sorgen, dass ihre angebotenen Produkte sicher sind. Drin sein darf nur, was draufsteht. Außerdem soll die Lieferkette nachvollziehbar sein, um bei gesundheitsgefährdenden Produkten schnell reagieren zu können. So weit, so theoretisch. Umsetzen müssen die Staaten diese Verordnung selbst und genau da sieht Bode große Mängel. „In Deutschland verhindert das Gesetz den Verbraucherschutz“, schimpft der 67-Jährige.
Feindbild Lebensmittel-Lobby
Seine Gegner sind Lebensmittel-Lobbyisten, allen voran der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde. Bode wirft dem mächtigen Spitzenverband vor, sich bewusst gegen schärfere Kontrollen einzusetzen und damit den Verbrauchern zu schaden.
Marcus Girnau, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbandes, hält Bodes Anschuldigungen für pauschal und völlig unangemessen. „Der Frontalangriff wundert mich“, sagte Girnau im Gespräch mit WirtschaftsWoche Online. Das rechtliche Instrumentarium sei ausreichend. Und: Unternehmen könnten es sich gar nicht leisten, auf vernünftige Kontrollen zu verzichten. „Der drohende Imageschaden bei Lebensmittelskandalen ist zu groß.“ Während der Berichterstattung über den Pferdefleischskandal ist der Kauf von Tiefkühlfleisch zwar zurückgegangen. Doch im gesamten Jahr 2013 ist der Absatz von Tiefkühlfertiggerichten sogar gewachsen, berichtet der Branchenverband Deutsches Tiefkühlinstitut.
Pferdefleisch-Betrieb arbeitet inkognito weiter
Verbandssprecher Girnau räumt ein, dass Eigenkontrollen zwar nicht ausdrücklich vorgeschrieben seien. Doch die meisten Unternehmen würden sehr wohl kontrollieren – und zwar dreistufig: durch eigene Proben, durch Lebensmittelkontrolleure und durch externe Gutachter. Wie aber konnte dann diese Masse an falsch ausgewiesenem Fleisch trotzdem in Umlauf geraten? „Klar“, sagt Girnau, „da hätten sich die großen Abnehmer besser bei ihren Zuliefern umsehen müssen“. Mit den „großen Abnehmern“ meint er auch den französischen Handelsbetrieb, der im vergangenen Jahr Hunderte Tonnen Pferdefleisch als Rindfleisch verkaufte. Allerdings hätte es bis dahin nie einen Anlass gegeben, die Ware auf Pferdefleisch zu überprüfen. „Das war ein Einzelfall“, meint Girnau. „Um dem stetig nachzugehen, müsste man genauso gut auf Kängurufleisch prüfen“.
Der Verbandssprecher glaubt nicht, dass konkrete gesetzliche Vorschriften zur Selbstkontrolle möglich sind. Kleinere Lebensmittelbetriebe würden dadurch benachteiligt. Die könnten sich im Gegensatz zu großen Unternehmen keine aufwendigen Kontrollen oder eine transparente Rückverfolgung leisten. Im Gegensatz zu Bode, der glaubt, dass ein Lebensmittelskandal jederzeit wieder möglich sei, sieht der Verbandssprecher positive Veränderungen in der Branche: „Nach Gesprächen mit den Unternehmen gehe ich davon aus, dass die Lieferanten jetzt genauer ausgesucht werden“.
Objektive Beweise hat er aber nicht, dafür fehlen ihm die nötigen Informationen. Und ganz so einfach ist das Aussuchen der Lieferanten keineswegs: Spiegel Online hat herausgefunden, dass die Unternehmen, welche das Pferdefleisch nach Deutschland gebracht haben, unter anderem Namen weiterarbeiten.
Ob Eigenkontrollen tatsächlich per Gesetz verordnet werden, entscheidet am Ende die Politik. Genauer: der neue Minister für Ernährung und Landwirtschaft Christian Schmidt (CSU). Auf den ist foodwatch-Gründer Thilo Bode gar nicht gut zu sprechen. „Von dem halte ich nix, der macht sich zum Büttel der Industrie“, schimpft der 67-Jährige. Anstatt die Verbraucher mit konkreten Gesetzen zu mehr Vorsorge zu schützen, ließe sich der Minister stark von den Verbänden beeinflussen. Die Folge: keine schärferen Kontrollen, sondern lediglich Empfehlungen, die Ware regelmäßig zu kontrollieren und Hygieneverstöße zu melden. In dem deutschen Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) erkennt der Verbraucherschützer die Handschrift der Lobbyisten.
„Legaler Etikettenschwindel“
Das Landwirtschaftsministerium wehrt sich gegen den Vorwurf, die Verbraucher nicht ausreichend zu schützen. „Der Pferdefleischskandal war ein krimineller Einzelfall, gegen den das bestehende Kontrollsystem machtlos war“, sagte ein Sprecher des Ministers zu WirtschaftsWoche Online. Aufgrund eines einzigen Falls gleich die ganzen Gesetze in Frage zu stellen, sei verzerrend. „Allgemein ist der rechtliche Rahmen ausreichend gegeben.“
Während Nichtregierungsorganisationen wie foodwatch gegen Lobbyisten und Politiker um das Recht auf sicheres Essen kämpfen, stehen Verbraucher tagtäglich vor den Supermarktregalen. Etiketten versprechen 100 Prozent Rindfleisch, natürliche Aromen im Jogurt und Milchgetränke, die gesund machen. Aber was steckt wirklich hinter den Versprechen, und wo schwindeln die Hersteller?
Wenn man weiß, dass etwa die Aufschrift „natürliches Aroma“ auf einem Erdbeer-Jogurt nichts mit Erdbeeren zu tun haben muss, sondern sich auch auf irgendeinen anderen Rohstoff aus der Natur beziehen kann. Oder dass auf Teeverpackungen auch Früchte gedruckt werden dürfen, von denen nicht einmal ihr Aroma im Tee enthalten sind. Ganz zu schweigen von dem Versprechen von „alkoholfreiem Bier“ mit einem Alkoholgehalt von bis zu 0,5 Volumenprozent. Dann ist der unbehagliche Gedanke an „legalen Etikettenschwindel“ nicht weit.
Gastronomenlobby wehrt sich gegen Internet-Pranger
Nora Dittrich, Lebensmittel-Expertin der Verbraucherzentrale NRW, kennt diese Fälle. „Sie zeigen, dass im Supermarkt einige Produkte kursieren, bei denen die schwammige Rechtslage eine irreführende Etikettierung zulässt“, sagt sie. Immerhin gibt es seit drei Jahren das Portal lebensmittelklarheit.de, gefördert von den Verbraucherzentralen und dem Landwirtschaftsministerium. Dort können sich Verbraucher öffentlich über Produkte beschweren, von deren Verpackungen sie sich falsch informiert fühlen. Aktuell sind 319 verschiedene Waren aufgelistet, bei denen das Portal „nachvollziehbares Täuschungspotenzial“ sieht.
Wie sich Unternehmen und Verbände gegen mehr Transparenz bei Lebensmitteln wehren, zeigt auch ein Blick auf Hygienekontrollen in Restaurants. Im September 2012 wurde per Gesetz beschlossen, dass die Ergebnisse von Lebensmittelkontrollen öffentlich gemacht werden. Konkret nutzte etwa der Regierungsbezirk Berlin-Pankow ein Smiley-System, um Restaurantbesuchern zu zeigen, ob der Laden sauber ist. Lachendes Gesicht? Alle sauber. Trauriges Gesicht? Hygienemängel.
Restaurants klagen gegen öffentliche Kontrollergebnisse
Weniger zum Lachen fanden das die angeprangerten Restaurants, sie zogen vor Gericht – und erreichten einen Unterlassungsanspruch. Den Kommunen, die Hygienemängel von Restaurants mit Name und Adresse veröffentlicht haben, drohen nun Schadensersatzforderungen. Deshalb werden aktuell keine Ergebnisse von Lebensmittelkontrollen mehr in Deutschland veröffentlicht, trotz angeblich „ausreichender Gesetzeslage“. Das Landwirtschaftsministerium „bedauert das“. Und verspricht: Noch in diesem Jahr soll eine neue Gesetzesgrundlage geschaffen werden, um den Verbrauchern wie angedacht die Informationen zukommen zulassen.
Foodwatch will nicht auf die Politik warten und hat eine „Smiley-Offensive“ gestartet. Namhafte deutsche Köche und Gastronomen fordern ein System wie in Dänemark, wo für alle Restaurants die Ergebnisse von Lebensmittelkontrollen auf einer Internetseite gesammelt sind. Nach der Einführung habe sich bei unserem nördlichen Nachbarn die Zahl der Hygieneverstöße deutlich reduziert, argumentieren die Befürworter.
Lebensmittelkontrollen in anderen Ländern
Schon seit 2001 wird jedes dänische Restaurant mit einen Smiley als Zeichen für die Hygiene bewertet. Insgesamt gibt es vier verschiedene Kategorien, von „keine Beanstandung“ bis „strafrechtlich verfolgt“. Für Restaurants, die sich über eine längere Zeit nichts zu schulden kommen, wird der „Elite-Smiley“ vergeben. Das System scheint zu funktionieren, denn von 2002 bis 2010 ist die Zahl der lachenden Gesichter von 70 auf 87 Prozent gestiegen.
New York testet Hygienetabellen seit mehreren Jahren – mit positivem Ergebnis für die Verbraucher. So ging etwa die Zahl der Restaurants mit Mäusebefall von 32 auf 22 Prozent zurück. Die Sicherheit aller 24.000 Restaurants der Stadt wird auf der Seite des Gesundheitsamtes anhand von Buchstaben bewertet.
Auf der Seite scoresonthedoors.co.uk sind die Ergebnisse des britischen Lebensmittelkontrollamts für knapp 500.000 Restaurants, Kiosks und Gaststätten aufgelistet. Die Bewertung funktioniert nach Sternen und reicht von „sehr schlecht“ (1 Stern) bis „sehr gut“ (6 Sterne). Wer mehr über das Restaurant erfahren möchte, kann den detaillierten Kontrollbericht anfordern.
Das australische Gesundheitsamt veröffentlicht unter dem Titel „Scores on Doors“ die Ergebnisse seiner Hygienekontrollen an den Eingangstüren der Restaurants. Das Ergebnis ist dreistufig und variiert zwischen „exzellent“ und „gut“. Wenn eine Gastronomie gegen Hygienevorschriften wiederholt verstößt, wird sie in das „Name & Shame register“ aufgenommen, eine Art Schwarze Liste für Ekel-Restaurants.
Unterstützt werden sie von Volkes Stimme: Eine repräsentative Umfrage hat ergeben, dass sich neun von zehn Deutschen ein Smiley-System wünschen. Der Gastronomenverband Dehoga läuft Sturm gegen diese Transparenzoffensive: „Der Internetpranger stellt alle Gastronomen unter Generalverdacht und ist ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit“, heißt es aus dem Verband. Wenn das Gesetz dieses in den nächsten Monaten geändert werden soll, werden die Lobbyisten ihre Meinung lautstark zur Geltung bringen.
Bis sich die Rechtslage verändert, setzt die Politik vor allem auf Lebensmittelkontrolleure, um sicheres Essen zu garantieren. Ein Jahr nach dem Pferdefleischskandal gibt es immer noch sehr viel zu tun. Das Land Baden-Württemberg hat gerade seinen Jahresbericht veröffentlicht, demnach mussten die Kontrolleure pro Arbeitstag sechs Lebensmittelbetriebe schließen – darunter fallen Produzenten, Vertriebe oder Verkäufer.
Der Bericht spart nicht an Details: „In solchen Fällen spielt oft starker Schädlingsbefall mit Mäusen, Ratten oder Kakerlaken eine Hauptrolle; wegen der möglichen Gesundheitsgefahren musste sofort gehandelt werden.“ In einem von vier kontrollierten Betrieben stellten die Prüfer Verstöße gegen das Lebensmittelrecht fest. Allerdings sind die Beanstandungsquoten nicht repräsentativ für das gesamte Bundesland, weil sich die Prüfer bewusst Betriebe heraussuchen, die ein gewisses Risiko bergen. Die gute Nachricht für alle Tiefkühl-Fleischliebhaber: In den 161 Proben im ersten Halbjahr 2014 wurden keine Spuren von Pferdefleisch entdeckt.