Liessman muss es wissen. Im Jahr 2002 veröffentlichte er im Christian Brandstätter Verlag das Buch "Kitsch! - oder Warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist", worin er sich mit der Frage beschäftigt, was Kitsch eigentlich ist und warum wir ihn brauchen. Dass dem so ist, ist eine relativ neue Erkenntnis. Zuvor galt die Thesen, wer sich mit Kitsch umgibt, flieht vor der Realität in eine heile Welt. Was auf den ersten Blick logisch erscheint - aber neigt wirklich ein Großteil der westlichen Welt dazu, sich hinter Krippe und Putten vor Inflation und Krisen zu verstecken?
Weihnachtsfest irgendwie überstehen
Globaler Eskapismus, der sich auf Weihnachtsmärkten und in Dekogeschäften Bahn bricht? Liessmann erklärt das Phänomen so: Je mehr Weihnachten in einer Konsumgesellschaft als religiöses Fest entwertet wird, desto mehr versucht der Einzelne, durch die Anschaffung von unschuldigem Kitsch, das Ursprüngliche zurückzuholen. "Kitsch will ja nie etwas Böses, sondern befriedigt – wenn auch auf höchst fragwürdige Weise – unsere Bedürfnisse nach Unschuld, nach Liebe und Reinheit", sagt der Philosoph.
Weihnachtsmärkte in Zahlen
85 Millionen Besuche verzeichnen die 1.457 Weihnachtsmärkte im Jahr 70 Prozent mehr als 2000.
90 Prozent der fast 5.000 Schaustellerunternehmen beschickten neben Volksfesten auch Weihnachtsmärkte.
150 Millionen Menschen besuchen die mehr als 10.000 Volksfeste. 2000 waren es noch 170 Millionen.
2,45 Milliarden Euro setzen die Schausteller 2012 auf Volksfesten um, eine Milliarde weniger als 2000.
980 Millionen Euro erzielen sie zusätzlich auf Weihnachtsmärkten.
Darauf setzen Hersteller von Kitsch aller Art, und auch Werkhausen von Yougov bestätigt: "Diese Marken funktionieren, weil sie etwas bedienen, was von klein auf gelernt wurde, nämlich mit welchen Mitteln man das Weihnachtsfest übersteht." Und auch Atheisten und Menschen, die nein sagen zu Kitsch und falschem Frieden, trinken mit Freunden oder Kollegen einen Glühwein auf dem besinnlich anmutenden Weihnachtsmarkt oder stellen sich einen - wenn auch puristischen - Adventskranz auf den Tisch.
Sehnsucht nach Besinnlichkeit
"Das Haus zu schmücken befriedigt dabei die Sehnsucht nach Ritualen in einer ansonsten entritualisierten Zeit", ist sich der Philosoph sicher. Wer in seinem Alltag außer der Neun-Uhr-Konferenz gar keine Rituale mehr hat, ritualisiert zur Not das alljährliche Punschtrinken. Hauptsache, man schafft sich etwas, das Halt und Struktur gibt. Gerade beim Dekorieren gehe es darum, nach außen zu dokumentieren: "Wir haben jetzt eine andere Zeit, eine Festzeit", sagt Liessmann.
Der gestresste Homo oeconomicus sucht Ordnung und Ruhe, er will Struktur, Halt und hohe Feiertage, wo das Smartphone auch mal ausgeschaltet sein darf und man sich über nichts ärgern muss, außer darüber, dass die Nordmanntanne schief gewachsen ist oder der Gänsebraten nicht gelingt. "Diese Sehnsucht nach Besinnlichkeit ist noch da und wird mit der festlichen – und mehr oder weniger geschmackvollen – Dekoration ausgedrückt", erklärt der Philosoph.
Auch bei Menschen, die nie viel auf Weihnachten gegeben haben, die sich nie etwas geschenkt haben, kann es vorkommen, dass sie sich eines Tages eben doch die positiven Kindheitserinnerungen kaufen und damit ihre Wohnung schmücken wollen, so Liessmann. Das muss nicht unbedingt passieren, weil Kinder da sind, denen man ein schönes Fest bereiten möchte. "Im Alter wird man oft sentimentaler und sehnt sich dann nach Ritualen und besinnlicher Stimmung. Deshalb expandiert auch der Weihnachtskult."