Als der Unternehmer Wang beschließt, sich auszuziehen, ist es halb elf Uhr abends in einer Karaokebar einer chinesischen Provinzstadt. Ein für westliche Ohren zu süßer Popsong plärrt durch die Lautsprecher, eine bleich geschminkte Mittvierzigerin schmachtet den dazugehörigen Text in ein Mikrofon. Es geht um den Mond und, natürlich, um die Liebe.
Wang, Anfang 40, haarloser Oberkörper, leichter Bauchansatz, schiebt sein Becken nach vorne und schwingt die Arme durch die Luft. Er tänzelt sich an eine junge Frau im knappen schwarzen Kleid heran, die vom Betreiber der Bar dafür bezahlt wird, sich solche und andere Annäherungsversuche gefallen zu lassen. Sein Geschäftspartner Hu, Freund deutscher Sportwagen und italienischer Designerkleidung, feuert ihn an. Mit Zigarette im Mundwinkel befiehlt er zwei Kellnerinnen in roten Uniformen, die Gläser noch mal zu füllen.
Als das Lied endet, lässt sich Wang auf die Couch plumpsen und zündet mit dem Pathos eines Mannes, der gerade eben noch Höchstleistungen vollbracht hat, eine Zigarette an. Die Gruppe johlt.
Wo die Deutschen ihren Wein kaufen
Tankstellen, Restaurants, etc.
2012: 5%
2013: 5%
Absatzmengen von Wein in Deutschland nach Einkaufsstätten für die Jahre 2012 und 2013.
Fachhandel
2012: 7%
2013: 7%
Lebensmitteleinzelhandel (bis 1500 qm Ladenfläche)
2012: 12%
2013: 13%
Selbstbedienungswarenhäuser und Verbrauchermärkte
2012: 13%
2013: 13%
Winzer
2012: 15%
2013: 14%
Aldi
2012: 27%
2013: 26%
Discounter (mit Ausnahme Aldi)
2012: 27%
2013: 26%
Absatzmengen von Wein in Deutschland nach Einkaufsstätten für die Jahre 2012 und 2013
Quelle: GfK Consumer Scan
Chinesen trinke lieber Wein als Reisschnaps
Vorausgegangen ist dem Spektakel eine Druckbetankung mit einem Dutzend Flaschen Château Lafite-Rothschild 2012. Eine kostet etwa 400 Euro.
China ist in den vergangenen Jahren zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gewachsen, überwiegend friedlich. Hunderte Millionen von Menschen haben es zu Wohlstand gebracht. Kein Wunder, dass die Chinesen, wenn sie es sich leisten können, lieber Wein statt Reisschnaps trinken. Ihr Rotweinkonsum hat sich von 2007 bis 2013 auf 1,87 Milliarden Flaschen verdreifacht – weltweiter Rekord.
Zugegeben, kein Wunder bei 1,3 Milliarden Einwohnern. Der Pro-Kopf-Konsum ist mit 1,5 Litern im Jahr noch vergleichsweise frugal. Die Deutschen trinken 24 Liter, die Franzosen 44, der Vatikan kommt auf 73 Liter. Doch das Besondere ist: Mit dem steigenden Konsum verändern die Chinesen eine ganze Branche – das Land denkt wie immer groß.
Nichts zwischen Château Lafite und billigem Fusel
Bisher kauften und tranken neureiche Chinesen alles, was aus Frankreich kam und das Wort Château beinhaltete – egal, wie viel es kostete. Die weniger wohlhabende Mehrheit trinkt gepanschten Fusel aus Staatsbetrieben, die Changyu, Great Wall oder Dynasty heißen. Dazwischen gab es wenig. Doch das ändert sich gerade.
Min Hua ist ein kleiner Mann mit großem Kopf und klugen Augen. Stolz steht er vor seinen Rebstöcken wie ein Vater vor seinen Kindern. Der Himmel färbt sich gelb, ein Sandsturm. „Ist normal hier“, sagt Hua.
Er leitet das Weingut für das französische Unternehmen Pernod Ricard, 40 Kilometer entfernt von Yinchuan. Die Stadt liegt in Ningxia, eine für chinesische Verhältnisse zwergenhafte Provinz mit etwa 6,3 Millionen Einwohnern, drei Flugstunden nordwestlich von Shanghai.
Zwischen Bergen und Wüste
Im Norden liegt die Wüste Gobi, im Westen das Helan-Gebirge, im Osten fließt der Huang He. Würde der Gelbe Fluss auf seinem Weg von Tibet ins Meer nicht einen Schlenker Richtung Norden machen, wäre die Provinz Wüste.
So aber hat Ningxia zwar einen sandigen Boden, heiße Tage und kalte Nächte – aber Wasser genug, um Chinas bestes Weinanbaugebiet zu sein. 40.000 Hektar sind es mittlerweile insgesamt. Zum Vergleich: Das französische Gebiet Bordeaux kommt auf 120.000 Hektar.
1997 begann erstmals eine chinesische Firma, hier Wein anzubauen. Heraus kam jedoch zunächst ein ungenießbares Gesöff. Den Bauern fehlte Wissen und Erfahrung.
2005 kaufte Pernod Ricard das Gebiet und begann mit dem Anbau von Rotwein. Zunächst mit einem chinesischen Unternehmen, seit 2012 alleine. Weil die Abfüllanlagen alt waren, importierten sie eine gebrauchte aus Australien.
Kalte Winter gefährden die Weinpflanzen
Der Wein heißt wie das Gebirge Helan Mountain. Die Rebsorten: Cabernet, Merlot, Chardonnay. Der beste Wein ist der Xiao Feng, was so viel wie Berggipfel bedeutet. 3000 Sonnenstunden im Jahr führen zu hohem Zucker-, niedrige Temperaturen in der Nacht zu hohem Säuregehalt. Regen gibt es weniger als 200 Milliliter im Jahr, in Bordeaux sind es rund 700. Bessere Bedingungen findet man in China nicht.
Nur die Kälte im Winter ist ein Problem: Die Pflanzen müssen tief in die Erde eingegraben werden, um sie vor den Minusgraden zu schützen. Der Qualität schadet das nicht, im Gegenteil: Der Wein hat bisher 174 Auszeichnungen gewonnen, darunter 2014 den Chardonnay-Du-Monde-Preis und Gold beim deutschen Mundus-Vini-Preis.
Bevor der studierte Lebensmitteltechniker Hua das Angebot von Pernod Ricard bekam, hatte er ein unemotionales Verhältnis zum Produkt. Rotwein gilt vielen Chinesen noch immer als Medizin: in homöopathischen Dosen gesund, aber eher ein Mittel, um das Leben zu erhalten, als eines, um es schöner zu machen.
Deshalb sind 80 Prozent der verkauften Weine in China rot. Weißwein oder gar Sekt spielen kaum eine Rolle. Doch in China steht vor jedem Nicht ein Noch. Will heißen: Es gibt ein Riesenpotenzial für Schaumweine.
Chinesen trinken in großen Schlucken
Shen Yang leitet für den französischen Luxuskonzern LVMH ein Weingut in der Nähe von Pernod Ricard: drei Hektar Pinot Noir, drei Hektar Chardonnay. Ein australischer Architekt hat die quaderförmigen Gebilde entworfen, die jetzt Tanks, Büroräume und das Besucherzentrum beherbergen.
Der Blick fällt auf die Helan-Berge, hinter denen früher die mongolischen Reiterhorden und die Wüste lauerten. Die Wüste wächst in letzter Zeit wieder. Dafür ist die Wahrscheinlichkeit, dass drei Millionen Mongolen 1,3 Milliarden Chinesen überfallen, in den vergangenen 100 Jahren stark gesunken.
Yang öffnet eine Flasche Chandon und schenkt zwei Gläser ein. Der Sekt blubbert. „Man muss einen großen Schluck nehmen, um die Kohlensäure zu spüren“, sagt er und nimmt einen großen Schluck. „So wird es auch in China passieren!“
Yang studierte Finanzwissenschaften, als er in einem französischen Restaurant in Chengdu sein erstes Baguette aß und dazu ein Glas Wein trank. Sein Aha-Erlebnis. Er schmiss das Studium, zog nach Frankreich und studierte Önologie. Geld verdiente er sich in den Sommerferien auf französischen Weingütern.
2009 untersuchte LVMH die Bodenbeschaffenheit, 2012 wurde zum ersten Mal Wein geerntet. „Am Anfang war hier nichts – kein Wasser, kein Strom, nicht mal eine registrierte Firma“, sagt Yang. Er musste seine private Kreditkarte belasten, um nach Wasser graben zu lassen.
Chinesischer Wein hat nur im Hochpreissegment eine Chance
Heute richtet sich Chandon an die junge aufstrebende Mittelklasse. Seit diesem Jahr prangen chinesische Schriftzeichen auf dem Etikett. „Made in China ist nicht mehr stigmatisiert“, sagt Yang. „Wir dürfen ihn natürlich nicht so nennen, aber wir produzieren Sekt in der Qualität von Champagner.“
Tatsächlich blubbert er in Mund und Magen, schmeckt frisch, sauer und nach dem dritten Glas ist dann eh alles gut und möglich: die Sonne, die in der Wüste Gobi versinkt; der Geschmack im Mund; das Gefühl im Bauch. Mongolenhorden sind auch nicht in Sicht.
Momentan produziert das Weingut 10 000 Kisten à zwölf Flaschen im Jahr. Eine Flasche kostet umgerechnet knapp 25 Euro. Der Umsatz liegt also bei rund drei Millionen Euro. „Wir können problemlos mehr produzieren“, sagt Yang. „Dann kaufen wir eben Trauben dazu.“
Das Problem sei der Einzelhandel und der Vertrieb. Durch die hohen Preisaufschläge lohne sich der Verkauf in Supermärkten nicht. Deswegen fokussiert sich die LVMH-Marke Moët & Chandon in China auf angesagte Restaurants und Clubs. „Die europäischen Weinbauern bekommen viel mehr Subventionen“, sagt Yang. „Wir haben deswegen nur im Hochpreissegment eine Chance.“
Weinanbau passt nicht zu Staatsunternehmen
Judy Leissner ist dort schon ein bisschen länger. Die 37-Jährige hat ihr Büro in ihrer Heimatstadt Hongkong, wo Wein schon seit Jahrzehnten geschätzt und getrunken wird. Leissner ist die Chefin von Grace Vineyard, einem der erfolgreichsten chinesischen Qualitätsweine. Die Preise liegen umgerechnet zwischen 10 und 70 Euro.
Als Leissner 2002 das Geschäft ihres Vaters übernahm, hatte sie von Wein keine Ahnung. Sie hatte Psychologie in den USA studiert, und in der nordchinesischen Provinz Shanxi sitzen alte Männer, die lieber ein Fax schicken anstatt einer E-Mail. 2003 füllte Grace Vineyard eine Million Flaschen ab, verkauft wurden 20.000. „Damals war zum einen der Markt noch nicht da, zum anderen hatten wir kein gutes Marketing.“ Dann importierte Leissner schwere Flaschen aus Frankreich und klebte ein verschnörkeltes Etikett drauf – das gab dem Wein ein hochwertigeres Image.
Der Durchbruch kam, als ein Manager der spanischen Firma Torres den Wein zufällig im Hotel probierte. Er war so angetan, dass er den Vertrieb übernahm. Heute verkauft Leissner 1,5 Millionen Flaschen im Jahr, 50 Prozent davon in der Provinz Shanxi. Marken wie Changyu und Great Wall hätten den Ruf des chinesischen Weines schwer beschädigt. „Weinanbau braucht Zeit und Hingabe – das passt nicht zu Staatsunternehmen“, sagt Leissner.
Das Qualitätsbewusstsein steigt
Seit dem vergangenen Jahr leide der Absatz etwas unter der Antikorruptionskampagne des Staatspräsidenten Xi Jinping. Doch das sei langfristig nicht schlecht für die Zukunft des Weins in China. „Früher waren die Käufer nicht die Trinker“, sagt Leissner. „Für uns als Marke ist es positiv, wenn Kenner übrig bleiben.“ Langfristig sei es gut für Grace Vineyard, wenn das Qualitätsbewusstsein der Kunden gefördert werde.
Möglich, dass sich dieses noch optimieren lässt. Bevor sich Unternehmer Wang auszieht, sitzt die Gruppe um einen runden Tisch. „Guan Xi“ nennen die Chinesen den sanften Übergang von Geschäftlichem und Privatem. Deswegen hat Hu den Unternehmer Wang und noch ein paar andere Geschäftspartner zum gemeinsamen Abendessen und Karaoke-Besuch geladen.
Sechs Kellner bringen im Akkord neue Gerichte für die zehn Gäste und stellen sie auf eine drehbare Glasplatte in der Mitte des Tischs: Sashimi; chinesischer Speck mit Senf; unbekannter, aber gut schmeckender Salat; unbekanntes, aber nicht gut schmeckendes Gemüse; Innereien vom Schwein und gebratener Fisch.
Die Kellner füllen die Gläser zwei Finger hoch mit Château Lafite. Hu, Schirmherr des Besäufnisses, steht auf und spricht einen Toast auf die Runde. Das Gesagte kommt dem Inhalt des konsensfähigen Spruches „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“ recht nahe. Alle leeren ihr Glas auf Ex. Die Kellner eilen herbei und schenken nach. Fünf Minuten später steht Wang auf, dankt Hu mit blumigen Worten. Alle leeren ihr Glas auf Ex. Die Kellner schenken nach. So geht es reihum: aufstehen, Toast aussprechen, exen, nachschenken. Zwei Stunden später sind zwölf Flaschen Château Lafite leer und alle Gäste voll.