Niemand wird bestreiten, dass die Hauptaufgabe der Werbung darin besteht, den Umsatz zu stützen - idealerweise natürlich zu steigern. Das geschieht direkt in Form von Vertriebswerbung, wie wir sie als „Schweinebauchanzeigen“ in der örtlichen Zeitung kennen. Oder es geschieht indirekt, indem die Bekanntheit oder das Image einer Marke gesteigert wird. Am Ende des Tages schaut daher jedes Unternehmen verständlicherweise auf seine Umsätze.
Wie verblüfft müssen die Manager des Konsumgütergiganten Procter & Gamble geguckt haben, als sie feststellten, dass der Abverkauf ihrer zahlreichen Marken (darunter Lenor, Ariel oder Always) in den letzten zwölf Monaten um acht Prozent eingebrochen war. Gemessen am Gesamtumsatz von 75 Milliarden US-Dollar hatten sie also plötzlich 6 Milliarden Dollar weniger in der Kasse. Das ist fast so viel wie sie weltweit für Werbung ausgeben.
Was war geschehen? Die Kausalität von Ursache und Wirkung ist hier nicht leicht zu berechnen. Seit Jahrzehnten bemühen sich Werber, den Einfluss ihrer Kampagnen auf den Umsatz nachzuweisen. In Einzelfällen gelingt das immer wieder, doch prognostizierbar ist es nicht. Es wäre ja auch zu schön, man könnte einfach draufloswerben - und automatisch erhöhten sich die Umsätze. Am einfachsten ist der Nachweis dann, wenn die Marke, ihr Preis und das sonstige Marktumfeld unverändert blieben und nur Kampagne oder Werbeetat verändert wurden.
Dass der P&G-Mediaeinsatz zu dem Verkaufseinbruch geführt habe, unterstellt der renommierte US-Werber, Autor und Blogger Bob Hoffman in seiner jüngsten Kolumne, in der er provozierend fragt: „How many billions have been lost?“ Er nimmt an, dass der Shift von TV- zu Onlinewerbung, den P&G in den letzten Jahren vornahm, für dieses katastrophale Ergebnis verantwortlich ist. P&G hatte in den letzten Jahren seine TV-Werbeausgaben massiv gekürzt und dabei gleichzeitig den Anteil Online-Werbung auf ein Drittel hochgeschraubt.
Procter & Gamble verkündete nun, dass sich das Targeting bei Facebook als nicht wirksam genug erwies und man wieder auf massentaugliche Medien setze, womit P&G traditionell TV meint. Das scheint Bob Hoffman Recht zu geben. Auch Pepsi hatte vor Jahren einen Rückzieher gemacht, nachdem sie 2010 ein 20 Millionen Dollar schwerer Shift von TV zu Online offenbar fünf Prozent Marktanteil gekostet hatte.
Bedeutet das nun, dass Online-Werbung und digitales Targeting, die Auslieferung von Werbung an ausgewählte Zielgruppen, nicht funktioniert? Keinesfalls. Es zeigt jedoch, dass die teure Materialschlacht im Fernsehen, die Millionen Menschen weit über die eigentliche Zielgruppe hinaus erreicht, für den Umsatz unverzichtbar ist.
Der große Irrtum der Werber
Die Kraft von Massenmedien wie Fernsehen, Print, Radio und Plakaten ist in ihrer Werbewirkung praktisch ungebrochen. Sie lassen sich zwar sinnvoll durch Online-Werbung ergänzen - aber eben nicht ersetzen. Das ist der Fehler, den die Werber seit nunmehr über zehn Jahren machen. Wer seine reichweitenstarke Werbekampagne durch digitale Werbung an die Zielgruppe ergänzt, kann seinen Umsatz steigern. Wer die Kraft seiner Kampagne in den herkömmlichen Medien schwächt, dem drohen massive Umsatzeinbußen.
Die Werber dagegen behaupten, dass Werbung in digitalen Kanälen, die dort besonders gut messbar ist, die Menschen auch besser erreicht. Dass sie durch ihre Zielgenauigkeit relevanter ist und dadurch eine höhere Wirkung erzielt, also folglich auch den Umsatz steigert. Den Nachweis dessen bleiben sie jedoch in vielen Fällen schuldig. Und nun sieht es ganz so aus, als würde die Taktik der Etatverschiebung von klassischen zu digitalen Medien sogar zu Umsatzverlusten führen.
Die digitale Notbremse
Fragt man prominente Werber und Experten, wohin die Werbe-Reise bis zum Jahre 2020 geht, antworten sie mit Schlagworten wie Micro-Kampagnen, Targeting und Retargeting, hyper-personalisierter und individualisierter Werbung, Social Media, Interaktivität und Dialog. Sie faseln von Verbrauchern, die ihre Gefühle mit Marken teilen, von Kühlschränken, die Brotempfehlungen abgeben und ähnlich gelagertem, total chicem, digitalen Werbe-Schnick-Schnack. Bis hin zur geradezu abenteuerlichen Behauptung: “Marketing will have totally moved online.“ Bob Hoffman nennt das schlicht und ergreifend „horseshit“.
Tatsächlich scheinen die Werber nichts begriffen zu haben. Sie treiben ihre Kunden immer tiefer in den digitalen Dschungel, aus dem es nur dann ein Entrinnen gibt, wenn der Kunden selbst die Notbremse zieht.
Das alles ist kaum verarbeitet, da ereilt der nächsten Digitalinnovation Ungemach: Der Customer Journey. Wer die digitale Reise des Verbrauchers analysiert und definiert, lenkt seine Waren ferngesteuert in den Einkaufskorb der Kunden. So das Versprechen der Heilsbringer.
Doch auch mit dem neuen Heiligen Gral ist es nicht weit her. Der Kunde, schreibt Sven Bruck von der Agentur Dialogagenten, ist „ein über die sieben Meere irrendes Geisterschiff. Er taucht plötzlich auf, verbreitet bei Marketing und Vertrieb Angst und Schrecken oder irrationale Hoffnungen und verschwindet genauso plötzlich wieder in den nebeligen Weiten. Er setzt seine Kundenreise fort - unbeobachtet und ohne Zugriff - um zu einem nicht definierten Zeitpunkt wieder aufzutauchen.“
Customer Journey durch den Irrgarten
Big Data ist schön und gut. Doch dem Daten- und Technologie-getriebenen Marketing fehlt nicht nur die Empathie, die nötig ist um Menschen und ihr Handeln zu verstehen. Sie werben selbst an den Grundbedürfnissen vorbei. Es fehlt am simplen Verständnis schon für das unterschiedliche Kaufverhalten von Männern und Frauen. Männer steuern einen Shop an, ob real oder digital, wissen genau, was sie wollen - und kaufen. Jedes Retargeting geht ins Leere.
Onlinehandel: So kauft der Durchschnittsdeutsche ein
Die Marketing-Plattform intelliAd hat vom 1. Januar bis zum 31. April 2016 rund 1,6 Millionen Onlinekäufe in verschiedenen Branchen untersucht und von den Ergebnissen ausgehend das durchschnittliche Onlinekauf-Verhalten in Deutschland ermittelt.
Quelle: Customer Journey Analyse, intelliAd
Der durchschnittliche Online-Käufer in Deutschland braucht ganze 91 Stunden, um eine Kaufentscheidung zu treffen. Vom ersten Kontakt mit einem gewünschten Artikel bis zum vollen Warenkorb vergehen also knapp vier Tage.
Die Conversion-Rate beschreibt das Verhältnis zwischen Besuchern einer Webseite und getätigten Transaktionen. In deutschen Onlineshops liegt sie bei durchschnittlich 3,2 Prozent.
Wenn Käufer sich dann erst einmal für einen oder mehreren Artikel entschieden haben, geben sie im Schnitt 72 Euro aus.
Bis sich Nutzer für den Kauf einer Ware entscheiden, tätigen sie rund 3,6 Klicks im Online-Shop.
Frauen suchen stundenlang scheinbar ziellos - und kaufen nichts davon. Die digital aufgezeichnete Customer Journey gleicht einem Irrgarten. Mag sein, dass die vermeintlich ferngesteuerte Kundin zwei Wochen später in einem Laden auftaucht - und dort etwas wieder völlig anderes kauft. Was jede Frau und jeder Ehemann weiß, treibt den Algorithmus in den Wahnsinn.
Wie lange wohl werden die Unternehmen noch zusehen, wie in digitale Technologie vernarrte Werber Milliardenumsätze vernichten? Wie lange wird es dauern, bis die Werber selbst begreifen, welche unverzichtbare Rolle die Massenmedien für den Absatz spielen - und zeitgleich welche Rolle den digitalen Medien zugeordnet werden kann?
Vielleicht war ja die Entscheidung von Procter & Gamble der Weckruf, den die Branche brauchte.