Tempo liefert ab sofort ein Feuchttuch für Leute für unterwegs. "Brandneu"! Liest man sich aber mal durch, was das Tüchlein bringen soll, dann ist es im Wesentlichen ein "Frischekick". Kein Wort von Desinfektion, Schutz vor Krankheiten oder zumindest Hygiene. Hä? Noch nicht mal Alkohol enthält die Flüssigkeit im Lappen. Dank der "Premiumqualität" soll es besonders reißfest sein. Weil ja herkömmliche Erfrischungstücher dauernd zerfetzen?
Also, ich weiß nicht. Schon in den 80er-Jahren war das 4711-Erfrischungstuch weiter. Voller Alkohol und voll eines penetranten Duftzeugs, das einen hinten im Kindersitz mit dem orange-farbenen Tischchen ganz schwummrig hat werden lassen. Schon der kleinste Mückenstich an der Hand und die Haut hat dank des 4711-Erfrischungstuchs gebrannt wie verrückt. Zerrissen ist es nie, dieses stinkende Tüchlein damals. Aber dass die Hände hygienisch rein waren, das schmeckte man noch Stunden später, wenn man an den bitteren Fingern leckte.
Wer Sommerferien um Sommerferien auf der Autobahnfahrt mit solchen Alkoholtüchern aufpoliert wurde, der kann über dieses neue Tempo-Tüchlein nur sagen: Tsä!
Ich desinfiziere unterwegs alles. Und bitte urteilen Sie selbst: Ist es anerzogene Hysterie oder ist es nicht in Wirklichkeit die Vernunft, die mich zu Sagrotan-Tüchern und Sterillium-Handdesinfektion in der praktischen Reise-Miniflasche greifen lässt?
Zunächst einmal gilt:
1. Infektionskrankheiten wie die lästige Sommer-Erkältung werden ganz überwiegend nicht über die Luft übertragen - etwa durch an Anniesen oder -husten. Sondern von der Hand in den Mund. Dasselbe gilt für die schnöde Erkältung im Winter. Und für Infektionen der Verdauungsorgane auch.
2. Bakterien lauern dort, wo viele Menschen ständig hin fassen. Im Büro sind es Computertastaturen, Telefonhörer, Türklinken. Experten raten: regelmäßig Hände waschen, dreißig Sekunden lang mit ordentlich Seife. Und nicht mit den Fingern an Mund, Nase und Augen langen (Also, bei sich selber. Aber bei anderen wohl auch nicht).
Daraus folgt für mich zwangsläufig: Ich muss mir unterwegs die Hände desinfizieren. Denn auch wenn man unterwegs meist sein eigenes Telefon und seinen eigenen Laptop anfasst - was man sonst berührt, ist ja Horror:
U-Bahn: Touchscreen am Fahrkartenautomat, Münzen, Ausgabemulde für ausgedruckte Fahrkarte, Türöffner-Knöpfe am Zug, Halteschlaufen und -stangen
Einkaufszentrum: Türklinken, Bargeld, Handläufe der Rolltreppen, Kleiderbügel, Sitzbänke
Leihwagen: Türgriffe, Lenkrad, Schaltknüppel, Handbremse, Handschuhfach, Blinkerhebel, ach, einfach alles!
Restaurant: Türklinke, Stuhllehne, Tischplatte, Speisekarte, Salzstreuer, Pfeffermühle. Und dann der Griff zum Baguette.
ICE: Türöffner, Hebel zum Verstellen der Rückenlehne, Hebel zum Runterklappen des Tischchens vor einem, Deckel der Mülleimer. Und dann ein Apfel!
Manchmal sieht man, wie Menschen das ICE-WC mit einem Papiertuch in der Hand verlassen. Aha, die haben das Türschloss hygienisch geöffnet. Dann öffnen sie vor der Tür den Mülleimer mit der Schuhspitze und entsorgen das Tuch. Sympathisch. Sie schützen sich, sie schützen andere.
Schmutz trainiert die Abwehrkräfte?
Ich habe einmal gesehen, was Leute im ICE so machen, wenn sie niesen. Hatschi, Blick in die Hand, Hand geht unauffällig nach unten und schubbert einmal elegant über Armlehne. Es ist die Wahrheit! Lust auf eine Runde Sterillium?
Und leider leben wir in Deutschland immer noch in einer Welt mit öffentlichen Toiletten, bei denen man zwei, drei Türklinken drücken muss und danach noch manuell die Spülung am Urinal, dann noch die Wasserhahn-Knäufe drehen, dann den Seifenspender drücken, dann mit einem Hebel das Papierhandtuch aus dem Kasten abrollen und am Ende des Reinigungsprozesses zwei Türklinken drücken. Und alles war umsonst.
Gehen Sie mal in Düsseldorf oder in Berlin-Tegel am Flughafen austreten. Da wird Ihnen als bakterienbewussten Menschen schlecht. Und dann mal nach Bangkok an den Airport. Da berühren Sie nichts außer sich selber und den Strahl aus dem Wasserhahn.
Wenn ich mir vorstelle, wie die Leute am deutschen Uralt-Urinal mit manueller Spülung sich erst untenrum frei machen und dann mit den zwangsläufig ungewaschenen Fingern die Taste drücken, und jetzt stehe ich da, dann will ich am liebsten sofort wie eine Piemont-Kirsche in Alkohol versinken.
Oder achten Sie auf Ihrer nächsten Flugreise mal auf die Vielflieger. Manchmal sieht man Leute, die setzen sich nach dem Einsteigen, klappen den Tisch runter, spritzen Oberfläche, Tastenfeld in der Armlehne, den Monitor vor sich und die Lampenschalter über sich mit Desinfektionsmittel ein und wischen sie sorgsam ab. Danach haben sie ihren Sitzplatz für die nächsten zwölf Stunden Fernstrecke für sich allein. Ohne Millionen von Bakterien an den entscheidenden Stellen. Ich finde das clever und mache das jetzt auch immer. Falls man mal unbewusst im Halbschlaf mit den Fingern ins Auge fasst und im Urlaub trotzdem keine rot entzündeten Klüsen haben will.
Experten sagen: Regelmäßig Händewaschen reicht. Aber das geht unterwegs halt nicht immer. Da muss es eben das Fläschchen mit dem puren Alkohol sein. Gegen die 99,9%.
Wie? Ein bisschen Schmutz trainiert die Abwehrkräfte? Ach, bitte, aus dem Alter bin ich raus. Ich will meine Abwehrkräfte einfach nicht mit diesem unnötigen Quatsch belästigen. Die sollen sich auf Angriffe aus dem Rohmilchkäse konzentrieren. Und außerdem trainiert mein Immunsystem mit Birkenpollen.
Der Rest wird unterwegs wegdesinfiziert. Erst wenn sich andere Passagiere umdrehen, weil die Atemluft plötzlich so stechend riecht, erst dann weiß ich, jetzt bin ich rein. So ein neues Tempo-Feuchttuch ist doch höchstens ein Hygiene-Placebo. Fürs gute Gefühl. Für mich als 80er-Jahre-Erfrischungstuch-Kind ist mir das einfach viel zu heikel.