Werner knallhart

Bekenntnisse eines Desinfektions-Junkies

"Auf dem Weg zur Arbeit fasst Du 300 Oberflächen an." Tempo bewirbt in der U-Bahn ein neues Feuchttuch für unterwegs. Aber es kann nicht 99,9 Prozent aller Bazillen killen. Igitt. Nichts für vielfahrende Desinfektions-Junkies.

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Tempo - bekannt für seine Taschentücher - bewirbt ein neues Feuchttuch für unterwegs. Quelle: dpa

Tempo liefert ab sofort ein Feuchttuch für Leute für unterwegs. "Brandneu"! Liest man sich aber mal durch, was das Tüchlein bringen soll, dann ist es im Wesentlichen ein "Frischekick". Kein Wort von Desinfektion, Schutz vor Krankheiten oder zumindest Hygiene. Hä? Noch nicht mal Alkohol enthält die Flüssigkeit im Lappen. Dank der "Premiumqualität" soll es besonders reißfest sein. Weil ja herkömmliche Erfrischungstücher dauernd zerfetzen?

Also, ich weiß nicht. Schon in den 80er-Jahren war das 4711-Erfrischungstuch weiter. Voller Alkohol und voll eines penetranten Duftzeugs, das einen hinten im Kindersitz mit dem orange-farbenen Tischchen ganz schwummrig hat werden lassen. Schon der kleinste Mückenstich an der Hand und die Haut hat dank des 4711-Erfrischungstuchs gebrannt wie verrückt. Zerrissen ist es nie, dieses stinkende Tüchlein damals. Aber dass die Hände hygienisch rein waren, das schmeckte man noch Stunden später, wenn man an den bitteren Fingern leckte.

Wer Sommerferien um Sommerferien auf der Autobahnfahrt mit solchen Alkoholtüchern aufpoliert wurde, der kann über dieses neue Tempo-Tüchlein nur sagen: Tsä!

Diese Dinge sind schmutziger als man denkt
Ein liebevoller Kuss hat es ganz schön in sich: Forscher berichten in einem Artikel für das Fachjournal "Microbiome ", dass bei einem zehn Sekunden andauernden Zungenkuss rund 80 Millionen Bakterien zwischen den Mündern hin und her wandern. Eine weitere Erkenntnis: Paare, die sich mindestens neun Mal am Tag intensiv küssen, tragen sogar die gleiche Zusammensetzung von Bakterien in ihren Mündern. Je öfter sie sich küssen, umso ähnlicher wird die mikrobielle Besiedelung. Quelle: dpa
Forscher der Universität Arizona haben Geschirrtücher in den USA und Kanada untersucht. Dabei zeigte sich, dass 90 Prozent davon mit Bakterien übersät waren - vor allem Darmbakterien. Beim Abtrocknen des Geschirrs oder Abwischen anderer Oberflächen in der Küche würden diese unwissentlich mit Bakterien beschmiert, warnen die Forscher. "Sie meinen vielleicht, dass Sie den Tisch oder das Brettchen reinigen, bevor Sie Essen darauf platzieren - in Wahrheit verteilen Sie mit einem schmutzigen Küchenhandtuch Hunderttausende Bakterien". Die Forscher empfehlen, die Handtücher nach jeder Benutzung in die Wäsche zu geben. Quelle: Fotolia
Auch in Putz- und Spülschwämmen fühlen sich Bakterien besonders wohl. Bis zu 100 Millionen Bakterien pro Quadratzentimeter tummeln sich dort. Praktischer Tipp: Häufiger wechseln und den Schwamm zwischendurch bei voller Leistung etwa zwei Minuten in der Mikrowelle erhitzen. Das tötet die meisten Keime ab. Quelle: dpa
Sie sehen niedlich aus, doch der zarte Flaum von Enten- und Hühnerküken ist ein wunderbarer Nährboden für Salmonellen, die sich in ihren Exkrementen befinden. Wer handzahmes Federvieh streichelt, sollte sich danach also gründlich die Hände waschen. Sonst riskiert er eine unschöne Darminfektion. Quelle: dpa
Pecunia non olet - Geld stinkt nicht, sagt eine lateinische Redensart. Wenn es das nur täte. Denn unser Geld ist schmutzig. Auf Geldscheinen, Münzen und Kreditkarten tummeln sich Fäkalkeime. Je nach Region fanden Forscher schon mehr Fäkalkeime auf Geldscheinen als auf einer Toilettenbrille. Quelle: dpa
Zum Händewaschen gehört? Richtig, Wasser und Seife! Gerade Seifenspender sind leider aber auch ein hervorragendes Sammelbecken für Bakterien. Das belegten Forscher der Universität Arizona. Die untersuchten 127 nachfüllbare Seifenspender in öffentlichen Toiletten und Restaurants. Fast ein Viertel davon war mit Bakterien verunreinigt. Ein kleines Päckchen mit desinfizierenden Einmalhandtüchern in der Handtasche macht sich also bezahlt. Quelle: dpa
Die Chancen, sich beim Ausfüllen eines Lottoscheins einen Schnupfen zu holen, stehen gut. Kugelschreiber, die für Kunden ausliegen - sei es im Kiosk, in der Bank, in Geschäften oder Hotelzimmern - sind voll von Krankheitserregern. Also besser den eigenen Stift zücken. Quelle: dpa

Ich desinfiziere unterwegs alles. Und bitte urteilen Sie selbst: Ist es anerzogene Hysterie oder ist es nicht in Wirklichkeit die Vernunft, die mich zu Sagrotan-Tüchern und Sterillium-Handdesinfektion in der praktischen Reise-Miniflasche greifen lässt?

Zunächst einmal gilt:
1. Infektionskrankheiten wie die lästige Sommer-Erkältung werden ganz überwiegend nicht über die Luft übertragen - etwa durch an Anniesen oder -husten. Sondern von der Hand in den Mund. Dasselbe gilt für die schnöde Erkältung im Winter. Und für Infektionen der Verdauungsorgane auch.
2. Bakterien lauern dort, wo viele Menschen ständig hin fassen. Im Büro sind es Computertastaturen, Telefonhörer, Türklinken. Experten raten: regelmäßig Hände waschen, dreißig Sekunden lang mit ordentlich Seife. Und nicht mit den Fingern an Mund, Nase und Augen langen (Also, bei sich selber. Aber bei anderen wohl auch nicht).

Zehn Dinge, die Hotels Ihnen nicht verraten
Preise pro Tag Quelle: dpa
Bettlaken Quelle: dpa
versteckte Keime auf der Fernbedienung Quelle: dpa
Todesfälle Quelle: dpa
Wassergläser Quelle: dpa
Kundenhotlines Quelle: dpa
Überbuchung Quelle: Fotolia

Daraus folgt für mich zwangsläufig: Ich muss mir unterwegs die Hände desinfizieren. Denn auch wenn man unterwegs meist sein eigenes Telefon und seinen eigenen Laptop anfasst - was man sonst berührt, ist ja Horror:

U-Bahn: Touchscreen am Fahrkartenautomat, Münzen, Ausgabemulde für ausgedruckte Fahrkarte, Türöffner-Knöpfe am Zug, Halteschlaufen und -stangen

Einkaufszentrum: Türklinken, Bargeld, Handläufe der Rolltreppen, Kleiderbügel, Sitzbänke

Leihwagen: Türgriffe, Lenkrad, Schaltknüppel, Handbremse, Handschuhfach, Blinkerhebel, ach, einfach alles!

Restaurant: Türklinke, Stuhllehne, Tischplatte, Speisekarte, Salzstreuer, Pfeffermühle. Und dann der Griff zum Baguette.

ICE: Türöffner, Hebel zum Verstellen der Rückenlehne, Hebel zum Runterklappen des Tischchens vor einem, Deckel der Mülleimer. Und dann ein Apfel!

Manchmal sieht man, wie Menschen das ICE-WC mit einem Papiertuch in der Hand verlassen. Aha, die haben das Türschloss hygienisch geöffnet. Dann öffnen sie vor der Tür den Mülleimer mit der Schuhspitze und entsorgen das Tuch. Sympathisch. Sie schützen sich, sie schützen andere.

Schmutz trainiert die Abwehrkräfte?

Ich habe einmal gesehen, was Leute im ICE so machen, wenn sie niesen. Hatschi, Blick in die Hand, Hand geht unauffällig nach unten und schubbert einmal elegant über Armlehne. Es ist die Wahrheit! Lust auf eine Runde Sterillium?

Und leider leben wir in Deutschland immer noch in einer Welt mit öffentlichen Toiletten, bei denen man zwei, drei Türklinken drücken muss und danach noch manuell die Spülung am Urinal, dann noch die Wasserhahn-Knäufe drehen, dann den Seifenspender drücken, dann mit einem Hebel das Papierhandtuch aus dem Kasten abrollen und am Ende des Reinigungsprozesses zwei Türklinken drücken. Und alles war umsonst.

Gehen Sie mal in Düsseldorf oder in Berlin-Tegel am Flughafen austreten. Da wird Ihnen als bakterienbewussten Menschen schlecht. Und dann mal nach Bangkok an den Airport. Da berühren Sie nichts außer sich selber und den Strahl aus dem Wasserhahn.

Hier lauern die meisten Keime im Büro
Platz 10: KopiererDie Wissenschaftler haben über 5.000 Oberflächen in Bürogebäuden unter anderem von Versicherungen, Anwaltskanzleien und Callcentern auf ihren Bakteriengehalt untersucht und dabei ein Schmutz-Ranking erstellt. Auf Platz zehn landet der Kopierer, an dem täglich Dutzende Angestellte arbeiten.
Platz 9: KaffeetassenHinter den Kopierern folgt die Kaffeetasse, die gerne mal länger in offenen Schränken vor sich hin vegetiert. Im Durchschnitt berührt jeder Büroangestellte übrigens 300 Oberflächen in 30 Minuten und kommt dadurch am Tag mit 840.000 Keimen in Berührung.
Platz 8: TelefoneAuf Platz acht der schmutzigsten Büro-Oberflächen hat es das Telefon geschafft. Mehrmals täglich wird es von einem oder sogar mehreren Mitarbeitern in die Hand genommen und vor allem nah an den Mund gehalten. Da können sich die Bakterien leicht in die Schleimhäute einnisten. Quelle: dpa
Platz 7: ComputermäuseDen ganzen Tag fast halten wir sie in unseren schwitzigen Händen - die Computermaus. So bildet sich mit der Zeit eine immer dickere Dreckschicht. Viele Unternehmen weisen ihre Mitarbeiter mittlerweile daraufhin, den Schreibtisch inklusive Computermaus und Tastatur mit Desinfektionsmittel zu reinigen. Solche Ansagen vom Chef können die Krankheitsrate offenbar um 80 Prozent senken. Quelle: AP
Platz 6: Tasten an Kaffee- und SnackautomatenDie Wissenschaftler fanden heraus, dass 79 Prozent der Tasten von Kaffee- oder Snackautomaten verschmutzt sind. 21 Prozent waren sogar mit einer sehr hohen Bakterienzahl befallen. Am besten also immer die Hände waschen, bevor der Schokoriegel aus dem Automaten verputzt wird. Quelle: AP
Platz 5: Tasten und Griffe an WasserspendernViele Mitarbeiter freuen sich, wenn der Arbeitgeber ihnen kostenlos Wasser bereitstellt. Aber Achtung: Viele Griffe und Tasten an Wasserspendern sind voll von Keimen und Schädlingen. Quelle: AP
Platz 4: KühlschränkeAusgelaufene Säfte, abgelaufener Joghurt und keiner fühlt sich verantwortlich - der Kühlschrank im Pausenraum ist ein richtiges Nest für Keime. Angestellte sollten ihr Pausenbrot also gut einhüllen, wenn sie es für einige Zeit kalt legen wollen. Gleiche Schmutz-Gefahr gilt übrigens auch für die Kühlschrank-Griffe. Quelle: dpa

Wenn ich mir vorstelle, wie die Leute am deutschen Uralt-Urinal mit manueller Spülung sich erst untenrum frei machen und dann mit den zwangsläufig ungewaschenen Fingern die Taste drücken, und jetzt stehe ich da, dann will ich am liebsten sofort wie eine Piemont-Kirsche in Alkohol versinken.

Oder achten Sie auf Ihrer nächsten Flugreise mal auf die Vielflieger. Manchmal sieht man Leute, die setzen sich nach dem Einsteigen, klappen den Tisch runter, spritzen Oberfläche, Tastenfeld in der Armlehne, den Monitor vor sich und die Lampenschalter über sich mit Desinfektionsmittel ein und wischen sie sorgsam ab. Danach haben sie ihren Sitzplatz für die nächsten zwölf Stunden Fernstrecke für sich allein. Ohne Millionen von Bakterien an den entscheidenden Stellen. Ich finde das clever und mache das jetzt auch immer. Falls man mal unbewusst im Halbschlaf mit den Fingern ins Auge fasst und im Urlaub trotzdem keine rot entzündeten Klüsen haben will.

Experten sagen: Regelmäßig Händewaschen reicht. Aber das geht unterwegs halt nicht immer. Da muss es eben das Fläschchen mit dem puren Alkohol sein. Gegen die 99,9%.

Wie? Ein bisschen Schmutz trainiert die Abwehrkräfte? Ach, bitte, aus dem Alter bin ich raus. Ich will meine Abwehrkräfte einfach nicht mit diesem unnötigen Quatsch belästigen. Die sollen sich auf Angriffe aus dem Rohmilchkäse konzentrieren. Und außerdem trainiert mein Immunsystem mit Birkenpollen.

Der Rest wird unterwegs wegdesinfiziert. Erst wenn sich andere Passagiere umdrehen, weil die Atemluft plötzlich so stechend riecht, erst dann weiß ich, jetzt bin ich rein. So ein neues Tempo-Feuchttuch ist doch höchstens ein Hygiene-Placebo. Fürs gute Gefühl. Für mich als 80er-Jahre-Erfrischungstuch-Kind ist mir das einfach viel zu heikel.

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