Werner knallhart
Quelle: Gorillas

Gorillas: „Lebensmittel geliefert in 10 Minuten“. Quatsch! (Es waren 9)

Peppen Sie Ihr Leben mit einer Lebensmittel-Bestellung bei Gorillas auf. Mit Stoppuhr und erhöhtem Puls hat unser Kolumnist es getestet. Lieferung in 10 Minuten? Die schaffen das sogar schneller! Wie ist das möglich?

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Wenn ich in den Keller gehe, um von dort die Gartenmöbel-Auflagen hochzuholen, dann brauche ich hin und zurück rund zehn Minuten. Und in derselben Zeit will es der Lebensmittel-Lieferdienst Gorillas schaffen, eine Lebensmittel-Bestellung anzunehmen, das Geraffel aus dem Lager zusammenzutragen, in Tüten zu packen und einem Boten oder einer Botin zu übergeben, die oder der dann mit schwarzem Fahrrad, schwarzer Jacke, schwarzem Helm und vor allem mit schwarzem Riesenrucksack losradelt, oder besser gesagt – losrast (anders kann es nicht klappen), um an der Lieferadresse das Rad abzustellen, den richtigen Knopf am Klingelbrett zu suchen und ihn zu drücken. Plingplong! Zack! Die Zeit ist gestoppt. Seit Auslösen der Bestellung in der App waren vergangen: exakt 9 Minuten und 7 Sekunden. Unfassbar! Unfassbar, dass das mitten in Berlin möglich ist. Unfassbar, dass das ein Geschäftsmodell ist.

Wie geht das bloß?

Wer die schwarze Gorillas-App lädt, merkt als erstes: Es braucht offenbar eine latente Aggressivität in der Grundhaltung. Gorillas eben. Während Lieferdienste wie etwa die von Rewe und Amazon Fresh ihre Willkommens-Bildschirme dekorieren mit Salat, Zucchini, Äpfeln und Möhren auf bunter Tischwäsche (Rewe) oder zumindest Schokoosterhasen vor frühlingsfrischem Grün (Fresh), setzt Gorillas auf ein Ambiente im Sinne von: „Hau ab, sonst fängste eine.“ Oder zumindest würden die Modells von ihren eigenen Eltern wohl gesagt bekommen: „Guck doch wenigstens einmal lieb, wenn du fotografierst wirst.“ Aber Hipster wird es ansprechen.

Genauso wie große Teile des Sortiments. Anders als bei den großen Lieferdiensten ist das zwar ordentlich ausgedünnt, aber quer durch die imaginären Supermarkt-Regale im Kopf gibt es von allem zumindest irgendwie entfernt etwas. Von Lindt gibt es exakt null. Von Ritter Sport exakt vier Sorten, darunter ausgerechnet die Sorte „Kokoswaffel“. Den Frühstücks-Zucker-Irrsinn Smacks gibt es nicht, dafür drei Sorten Haferflocken. Beim Gemüse gibt es keinen Sellerie. Rote Beete nur als Bio-Gemüse-Chips, rote Bete aber frisch in bio, die Möhren sind nicht bio, die frischen Artischocken auch nicht, die Bio-Eier sind ausverkauft, Eierlikör aber wäre lieferbar. Es gibt kein alkoholfreies Jever Fun, dafür aber das Berliner Brlo Naked – ein Alkoholfreies von der Kategorie, die man früher Craft Beer genannt hätte, was heute aber keiner mehr gerne fett unter seinen Markennamen schreibt, weil das extrem vorcorona ist.

Überhaupt haben die Gorillas offenbar Spaß am Lebensmittelhandwerk. Zumindest haben Sie Zimtschnecken von „Zeit für Brot“ im Sortiment, einer kleinen feinen Berliner Bäckerei-Kette mit wenigen bundesweiten Ausläufern und mit Bioland-Produkten, die die Kunden beim Teigkneten zugucken lässt.

Und neben dem ultimativen Popcorn-Karamell-Hammer von Werthers Original (140 Gramm für die auch sonst üblichen € 1,99), das in dem meinem Zuhause zugeteilten Gorilla-Lebensmittellager gerade ausverkauft ist, gibt es auch die überkandidelten – und trotzdem extrem gut knabberbaren – Popcörner aus der kleinen „Popkornditorei Knalle“ zum Beispiel mit der Geschmacksrichtung Erdnussbutter Salzkaramell (100 Gramm für € 4,99).

Das alles soll also in zehn Minuten geliefert werden? Ich habe testweise extra quer durchs Sortiment bestellt:

Ritter Sport weiße Vollnuss, Avocado, frische Heidelbeeren, Knalle Popcorn, eine Orange, eine vegane Bio-Tiefkühl-Pizza, frische Brötchen und Zimtschnecken von „Zeit für Brot“, einen Camembert und alkoholfreies Bier. Dafür müssen die doch kreuz und quer durchs Lager laufen. Das kostet Zeit. Ha! Doppelklick für Apple Pay und die Stoppuhr um 14 Uhr 08: los! Kurz darauf meldet die App auf Englisch: geschätzte Ankunftszeit 14 Uhr 15. Also sieben Minuten später. Das ist irre! Die wenigen Minuten Wartezeit ließ mir kaum mehr Zeit als zu denken: „Das kann nicht gehen. Das kann nicht!“ Und schon erschien auf der Stadtkarte in der App ein Icon mit einem Gorilla auf einem Fahrrad. Die Lieferung war unterwegs. Okay, 14 Uhr 15 war schließlich gerissen. Aber der Deal war ja 10 Minuten, noch war es 14 Uhr 16 und der Gorilla kam näher und näher.

Um 14 Uhr 17, nach insgesamt 9 Minuten und 7 Sekunden klingelte es an der Tür. Als der Lieferant aus der Aufzugtür trat, lag ihm etwas auf der Seele: „Sorry for the delay.“
Delay? Der gute Mann war überpünktlich. Und alle bestellten Artikel waren dabei. Das Bier sogar eiskalt runtergekühlt.

Wie? WIE?

Antwort: Es sind die Mikro-Lager. Mit riesigen Hochregalen an der Peripherie der Städte kann der 10-Minuten-Lieferservice per Fahrrad natürlich nicht klappen. Die ganzen leckeren Sachen müssen kreuz und quer in der Stadt verteilt sein. Wie viele? Keine Ahnung. Bei denen geht nur ein englischer Anrufbeantworter dran, der auf den Chat verweist. Und der Chat sagt, er könne keine Presseanfragen beantworten. Und die Pressestelle rührt sich seit 24 Stunden nicht. Die improvisieren halt.

Aber Fotos auf der Presseseite von Gorillas geben einen Eindruck, wie das da hinter den Kulissen zugeht. Die Lager wirken zwischen rohen Betonwänden und Kühlschränken mit Glaswänden wie eine kleine Underground-Disko im Putzlicht. Und dort reichen sich Twens mit Masken Gemüse hin und her. Alles ist eben sehr mikro.

Und deshalb liest man „Bald zurück!“ in der Gorillas-App häufiger als das Wort Gorillas. Alles Mögliche ist ausverkauft. Weil in den kleinen Mikro-Lagern vieles nur in winziger Stückzahl vorrätig ist. Rote Zwiebeln: ausverkauft. Frischer Salbei: ausverkauft. Bonduelle Kidney-Bohnen: ausverkauft. Kräuterbutter: ausverkauft. Räucherlachs: montags ausverkauft, dienstags wieder da. Aber gefühlt ein Fünftel ist weg. Aber na und? Vier Fünftel sind da. Gorillas sind natürlich kein Ersatz für den großen Wochenendeinkauf mit der ganzen Familie. Sondern die Rettung für den spontanen Heißhunger und beim enttäuschten Blick in den leeren Kühlschrank zwischen sechs Folgen auf Netflix.

Wer morgens nach dem Aufwachen spontan Lust hat auf frische Brötchen, Rührei, Obstsalat, der kann bestellen, Zähneputzen, Katzenwäsche und schafft es dann gerade noch, von Schlafanzug auf Homeoffice-Wear zu wechseln, bevor der Gorilla klingelt.

Die Preise: Supermarkt-Niveau, Liefergebühr: € 1,80. Keine Mindestbestellmenge. Meine Prognose: Das wird auf Dauer nicht so bleiben. Zum Vergleich: REWE verlangt gut und gerne bis zu 4 Euro pro Lieferung. Bei einer Mindestbestellsumme von 50 Euro.

Jetzt könnten wir mitfühlenden Kunden aufschreien: Das Konzept wird auf dem Rücken der Fahrrad-Kuriere ausgetragen. Aber das ist alles letztendlich keine Frage des Konzepts, sondern eine sehr berechtigte Frage des Geldes. Mit anderen Worten: Sind die Kunden auf Dauer bereit, so viel für den unfassbar schnellen Service zu bezahlen, dass die Fahrerinnen und Fahrer davon gut leben und auch noch für die Rente vorsorgen können? Das ist der Knackpunkt ja auch bei Chauffeur-Diensten, Lieferanten von warmem Essen und Subunternehmern von Paketzustellern. Die Logistik ist das eine, die Bezahlung das andere. Und die muss stimmen. Vom saftigen Trinkgeld darf die Existenz niemals abhängen.

Unter ökologischen Gesichtspunkten gibt es am Mikrolager-superschnell-Liefer-Konzept zumindest nichts zu meckern. Wer dringend was zu essen braucht, muss nicht mit dem Auto los. Gorillas fahren mit Muskelkraft.

Berlin, Köln, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und München sind schon dabei. In Stuttgart sucht Gorillas zumindest mal Mitarbeiter.

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Eigentlich gibt es ja nur eine Devise: Schnell mal ausprobieren, bevor es teurer wird – oder bevor das Konzept scheitert. Was traurig wäre. Es ist so selten im Leben, dass man mal sagt: Ich kann einfach nicht glauben, dass eine Geschäftsidee wirklich funktioniert. Und dann klappt es doch. Mal sehen, was das nächste Mal nicht lieferbar ist. Und dann esse ich eben spontan etwas anderes. Neun Minuten später.

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