Bis in die Achtzigerjahre hinein waren die USA aus deutscher Sicht ein Schlaraffenland der Genussmittel. Was es da alles gab! Geleebohnen, die nach Popcorn schmeckten und Mikrowellen-Popcorn, das nach Butter schmeckte. Rootbeer mit Zahnpastaaroma, Cornflakes mit Erdnüssen drin, Kartoffelchips mit saurer Sahne und Zwiebeln und würzige Limo namens Dr. Pepper, eine Art Cola mit Zimtgeschmack oder so. Kinners, was war das nur für eine verrückte Welt.
Doch all das gibt es mittlerweile längst auch bei uns. Wozu brauchen wir dann noch die USA? Einzig Reese's fällt mir ein, eine Schokolade mit Erdnussbutterfüllung. Aber sonst: langweilig. Die ganze Welt hört mittlerweile die gleiche Musik, guckt die gleichen Fernsehserien, stopft sich mit Einheitsburgern voll - und mampft die gleichen Bonbons.
Außer Lakritz.
Bei Lakritz ist es so wie mit dem Foto von dem Kleid, das vor einigen Wochen durch die sozialen Medien ging. Ein Teil der Menschheit hielt es für ein in der Sonne fotografiertes Kleid in schwarz-blau, und der andere für ein im Schatten geknipstes in weiß-gold. Die Welt war geteilt.
Bei dem Kleid lag am Ende die Schwarzblau-Fraktion richtig. Aber bei Lakritz?
Laut einer Umfrage von 2014 essen 52,6 Prozent der Deutschen niemals Lakritz. Was soll das? Ich wette: Die Nichtesser leben zum allergrößten Teil im Süden der Republik. Ab Frankfurt und weiter unten. Versuchen Sie mal, in Stuttgart Fisherman's Friend Lakritz zu bekommen. Sie werden am Ende heulend aufgeben. Für viele Süddeutsche ist Lakritz eben nur "Bärendreck".
Dabei versucht es der größte Lakritzhersteller der Welt, Haribo, doch mit allen Tricks und viel Fingerspitzengefühl, die Lakritz-Weicheier rumzukriegen. Haribo nennt es Konfekt und versteckt eine kleine Schicht süßer Lakritz in einem Sandwich aus kunterbunter Zuckermasse, die nach Erdbeere, Zitrone, Kokos oder Karamell schmeckt. So wie man dem Hund die Entwurmungskur ins Nassfutter mixt, damit er es nicht merkt.
Oder sie gießen Weingummi in Fledermausform. Und der Wams der Fledermaus ist dann schwarz und schmeckt ein bisschen nach Lakritz, wenn man sich drauf konzentriert. Selbst die Lakritzschnecken und die Brezeln sind ja eher etwas für vorsichtige Einsteiger.
Irgendwie wissen die Deutschen nicht so recht, was sie mit Lakritz anfangen sollen. Denn: Wie kann etwas Bonbon sein, was herb und würzig schmeckt? Nein, nein.
Richtiges herbes und auch salziges Lakritz verkauft Haribo hingegen in Skandinavien. Dort, wo nicht nur der Winter rau ist, sondern auch der Geschmack. Wo saurer Hering in Konservendosen gärt und erst gegessen wird, wenn die Dose unter dem Druck der Gase fast explodiert. Die öffnet man dann am besten unter Wasser im Garten und muss beim Atmen doch würgen. Wer so aufwächst, der wird eben nicht so leicht zum Yoguretten-Lutscher.
Wie wäre es mal mit Lakritzsoße fürs Eis?
In Schweden finden Kinder in den Sommerferien auf der Eiskarte am Kiosk neben dem Waldsee nicht nur Erdbeereis und Schokoeis zur Auswahl, sondern auch Vanille-Eis mit Lakritzüberzug. Selbst Eisdielen bieten graubraunes Lakritzeis.
Von der renommieren finnischen Schokoladen-Fabrik Fazer gibt es Vollmilchschokolade-Tafeln mit kleinen Kammern. Beißt man darauf, fließt einem salzige Lakritzcreme über die Zunge.
Marabou-Schokolade gibt es in Dänemark mit Lakritzkristallen, die beim Kauen knuspern.
Neben Dessert-Soßen mit Himbeer- oder Vanillegeschmack stehen Lakritzsoßen zum Verfeinern von Eis oder Joghurt.
Schwarzer Lakritzschnaps steht dort in jedem Supermarkt, teilweise mit Chili verfeinert.
Als Kind habe ich mich ganz bescheiden während unserer Schwedenferien immer auf Hubba-Bubba-Lakritz gestürzt. Die in der blauen Packung. Und ich war wirklich entsetzt, als die neuen blau verpackten Hubba Bubba in Deutschland nur nach Waldbeeren schmeckten.
Und in der Weihnachtszeit wartet die dänische Nation auf die neue Silvester-Edition des jungen Lakritz-Designers Johan Bülow. Die Oster-Variante 2015 kam in einem durchsichtigen Osterei, gefüllt mit 300 Gramm silbrig gesprenkelter schwarzer Kugeln mit Lakritzkern in einem dünnen Mantel aus weißer Schokolade, gepudert mit kräftigem Lakritzstaub. Mit persönlicher Laser-Gravur auf der Verpackung für 34 Euro. Lakritz als echte Delikatesse.
Und wahrscheinlich ist es die geographische Nähe zu Skandinavien, die die Norddeutschen auch dem Lakritz näher stehen lässt. Kurioserweise gelingt es der Süßwarenindustrie aber nicht, die innerdeutsche Lakritzgrenze zu überwinden. Im Gegenteil: Im Supermarkt wird das Angebot zurzeit sogar weniger.
Nennen Sie mir ein anderes Genussmittel, das die Nation derartig spaltet. Weißbier hat seine Fans längst auch im Norden. Im Süden wird Tee getrunken. Aber wer einmal anti oder pro Lakritz sozialisiert ist, bleibt womöglich sein Leben seinem Lager treu. Nun könnte man ja sagen: Ist doch Wurscht. Jeder so wie er mag. Aber ich behaupte, jeder sollte Lakritz unvoreingenommen eine zweite Chance geben. Um sich selber ein neues Geschmacksuniversum zu erschließen.
In Dänemark steht Lakritzpulver im Gewürzregal der Supermärkte wie Kräutersalz und Paprika. Versuchen wir es doch auch einmal. Ein bisschen Süßholzpulver in die Salatsoße gibt einen herb-süßlichen Geschmack.
Ziegenkäse mit Orangenmarmelade und Lakritz. Lamm, Muscheln, Fenchel, Lachs all das schmeckt einfach mal anders mit einem dezenten Hauch von Lakritz.
Lakritz als Süßigkeit kommt in Deutschland nicht voran. Und ein Marketing-Tag wie der Lakritztag am 12. April, an dem Süßigkeitenhändler ihren Kunden hier und da an der Kasse ein Lakritzbonbon schenken, wird das Ruder wohl nicht rumreißen. Vielleicht klappt es ja über den kleinen Umweg: Lakritz als neuester Tipp für Feinschmecker. Mit diesem Argument hat auch einst der Milchschaum die Schlagsahne im deutschen Cappuccino abgelöst. Und so wurde auch der olle Kürbis wieder schick.
Vergessen Sie die Colorado-Mischung. Probieren Sie Lakritz beim Kochen. Ihre Gäste werden sich wundern. Und wenn es gut läuft, werden sie auf dem Heimweg noch nicht einmal lästern. Und los. Der Norden Deutschlands fängt an.