Werner knallhart
Ein Mitarbeiter des Lebensmittellieferdienstes Amazon Fresh packt die bestellten Waren in eine Transporttasche. Quelle: dpa

Sortimentslücken bei Amazon Fresh: DDR-Gefühl digital

Amazons Deutschlandchef spielt mit dem Gedanken, den Lebensmittel-Lieferdienst Fresh bald in ganz Deutschland anzubieten. Aber selbst in Berlin, wo es den Service seit knapp zwei Jahren gibt, sind Waren derartig oft ausverkauft, dass man trotzdem nochmal losmuss in den Supermarkt. Dann kann man es online gleich lassen!

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Lebensmittel liefern zu lassen, ist eigentlich aus mehreren Gründen eine vernünftige Idee.

1. Es spart Zeit: Man kauft ein, während man im ICE sitzt (Internet-Empfang vorausgesetzt) oder im Wartezimmer oder beim langweiligen Kaffeekränzchen.

2. Man schont die Umwelt und entlastet die Straßen: Fuhren früher zwanzig Nachbarn mit dem eigenen Auto zu Real, Lidl und Rewe, liefert jetzt der DHL-Bote die Einkäufe mehrerer Nachbarn mit einer einzigen Fuhre. Die Rechnung geht nur dann nicht auf, wenn man stattdessen annimmt, dass bislang alle mit dem Lastenfahrrad einkaufen waren.

3. Man pflegt die eigenen Bandscheiben. Denn die Kistenschlepperei erledigen andere für einen. Mit der Sackkarre. Und im schlimmsten Fall sogar ohne Aufzug.

4. Man unterstützt den stationären Einzelhandel. Jaha, Sie haben richtig gelesen. Denn Anbieter wie etwa Amazon Fresh bieten kleinen Läden die Möglichkeit, ihren handgeschöpften Käse, ihr mit Liebe aus dem Ofen gezogenes frisches Brot und den frisch angemachten Start-up-Matjessalat über die Fresh-Plattform zusätzlich online zu vertreiben. Ohne einen eigenen Lieferdienst aufbauen zu müssen. So gesehen…

Bei Amazon Fresh etwa zahlt man als Kunde dafür 9,99 Euro pro Monat pauschal und kann dann liefern lassen, so oft man will. Ab 40 Euro Bestellwert fallen auch keine zusätzlichen Lieferkosten an.

Ich bin seit Beginn von Fresh dabei. Und wir bestellen rund dreimal pro Monat bei Fresh. Der DHL-Bote nimmt für Amazon sogar die ausgetrunkenen Pfandflaschen wieder mit und zählt sie artig durch („Zwei Bierflaschen aus Glas und eine Coladose und drei Plastikflaschen. Ist da echt Pfand drauf? Ah, ok, alles klar.“). Rund eine halbe Stunde nach Lieferung kommt eine E-Mail. Betreff: „Ihre Pfandrückerstattung, gesamt: 1,16 €“.

Aber Fresh-Kunden sind durchaus auch geschundene Seelen. So kommt das Fresh-Geraffel in unfassbar viel Extraverpackungen. Das ist oft gut gemeint, wenn etwa der Toiletten-Reiniger nicht mit den Birnen zusammen in einer Tüte kommt, sondern in einem separaten Plastikbeutel verknotet ist. Andererseits: Die Birnen sind ja auch noch einmal in einer eigenen mit einem Netz oder einer Folie überzogenen Plastikschale geschützt.

Am Wochenende kam eine Schale Biokresse (die übliche handtellergroße Portion) in einer separaten Papiertüte, in die man Lebensmittel für eine zehnköpfige Familie reingekriegt hätte. Wahrscheinlich kam die Kresse aus einem anderen Lagerraum. Sie zu den anderen Waren zu packen, wäre zu aufwändig gewesen. Hmm. Ich tröste mich damit, dass ich die Tüten als Mülltüten für Papierabfall verwende. Lassen Sie das gelten?

Ja, übrigens: Toiletten-Reiniger

Ja, übrigens: Toiletten-Reiniger. Fresh ist nicht immer nur fresh, sondern wird auf den ersten Blick mehr und mehr zum Vollversorger, wie ein Riesensupermarkt von Real. Kaffeemaschinen, Spielekonsolen, Strandspielzeug, Bürobedarf, all das lässt sich mittlerweile auch über Fresh bestellen, was den Mindestbestellwert von 40 Euro schneller erreichen lässt. Einmal Druckertinte in den Warenkorb und es passt schon fast.

Aber, und jetzt kommt es dicke: Das Sortiment erscheint zwar gigantisch, aber es ist in dem Ausmaß gar nicht verfügbar. Große Klappe, oft aber nichts dahinter. Einkaufen, was halt da ist. So muss es in der DDR gewesen sein. Nur heute eben online. Für mich als jemand, der in der BRD groß geworden ist, ein ganz neues Einkaufserlebnis. Man fragt sich plötzlich: „Was ist denn überhaupt vorrätig?“ Und richtet sich danach.

Selbst wenig extraordinäre Lebensmittel sind mitunter nicht lieferbar. Bananen, Biotomaten, Skyr, Artischockenherzen im Glas, Stremellachs. Es gibt Zeiten, da sind tiefgefrorene Himbeeren nicht zu bestellen. Weder von Frosta, noch von Hofgut, Juetro oder Alnatura. Man findet sie zwar in der Liste, aber überall: „Derzeit nicht verfügbar.“

Manchmal lassen sich die Sachen in den Warenkorb packen, wählt man dann aber die Lieferzeit aus, fallen einige Produkte wieder raus. Selbst und gerade, wenn man Tage im Voraus bestellt. Die Bio-Orange ist für Fresh das, was zur Zeiten der deutschen Teilung für viele von uns die Banane war.

Neue Produkte, wie die zurzeit von Rittersport in ganz Deutschland großartig beworbenen Schokoladen der „Kakaoklasse“, die etwa bei Edeka kürzlich in einer Sonderaktion für 90 Cent (statt rund 1 Euro 30) verkauft wurden, gibt es bei Fresh bis heute nicht zu kaufen.

Selbst die von Fresh selber angeleierten Aktionen stoßen treue Kunden wegen leergefegter Lagerregalen vor den Kopf. Da kommt eine Fresh-Werbemail: „Entdecken Sie unsere aktuellen Angebote. Ausgewählte Biere jetzt genießen.“ Klickt man auf den Link, sind selbst die dort aufgeführten Biere mitunter nicht da. „Jever Fun 3,99 nicht vorrätig“.

Oder: „Bis zu 20% Rabatt auf ausgewählte Produkte“. Ausgewählte Produkte, die es mitunter nicht gibt: Skyr, Ricola Apfelminze, Milkana Käseecken, Ketchup von Knorr. Extra ausgewählt. Superbillig. Aber gerade leider nicht bestellbar.

Sogar Haushaltswaren, die ja nicht schlecht werden. Bislang haben wir zum Beispiel unsere Kerzen gerne bei Fresh bestellt. Das geht jetzt nicht mehr. Seit Monaten sind lange Kerzen nicht mehr lieferbar. Gar keine. Egal von welchem Hersteller.

Also gehen wir jetzt für die Kerzen wieder zu Rossmann oder dm. Und kaufen bei der Gelegenheit dort auch die Zahncreme, die Biohaferflocken und Tee. Und die Bioeier und den Lachs dann eben noch schnell gegenüber bei Edeka oder Lidl. Wenn wir ohnehin schon unterwegs sind. Und billiger ist es bei Lidl oft auch. Bei Edeka gibt es auch die neue Ritter Sport. Aber wie sollen wir so am Ende die 40 Euro bei Fresh zusammenkriegen?

Neulich gab es bei Fresh wieder die Artischockenherzen im Glas. Das ist dann wie Weihnachten. Manchmal ist dort dann zwar eine Mengenbeschränkung drauf. Dann darf man nur vier Gläser bestellen. Aber diesmal gab es keine Grenze. Ich habe in freudiger Panik schnell 14 Gläser abgegriffen. Ha! Für schlechte Zeiten bei Fresh. Und in der Tat: Während ich dies hier schreibe, sind die Artischocken wieder aus.

Dafür gibt es gerade wieder Jever fun. Herrlich. Bestell ich. Verrückt: Dank Fresh steigt die Wertschätzung für Lebensmittel wieder. Das hätten damals beim Start des Lieferservices die Amazon-Kritiker sicherlich nicht für möglich gehalten.

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