Es gibt ein neues Machtvakuum auf deutschen Straßen und Plätzen: Stehen nach 22 Uhr Leute vor der Kneipe und trinken, tratschen und grölen und der Türsteher kommt und sagt: "Leute, sorry, ihr müsst jetzt reinkommen, draußen ist es zu laut für die Nachbarn", dann bekommt er nicht selten zu hören: "Nö, wir sind ja gar nicht eure Gäste, wir stehen hier nur so rum."
Lange Zeit gab es diese Entwicklung nur in den Städten mit ausgeprägter Kiosk-Infrastruktur wie Köln ("Büdchen") und Berlin ("Späti"): An lauen Sommerabenden decken sich Horden von Jugendlichen preiswert an den Kühlschränken der Mini-Läden ein, stopfen ihre Rucksäcke voll mit Chips, Weingummi und Schokolade und versammeln sich dann an den Straßenecken vor den Gastronomie-Betrieben, statt sich reinzusetzen. Man könnte es auch "cornern" nennen, so wie es Hipster mit Hang zu Anglizismen tun.
Draußen ist es eh schöner - und auf dem Gehweg zu sitzen bedeutet für viele sogar noch mehr Summerfeeling, als am Tisch rumzuhängen und sich die nackten Schienbeine am Stangengewirr unter der Platte blau zu stoßen.
Letztendlich entscheiden zwei Meter vor oder zurück über billig oder teuer. Denn die Preise in den Bars und Cafés können mit denen der Kioske natürlich nicht mithalten. Ein halber Liter Bier für 1 Euro 50 oder eben für 3 Euro 80 - bei einem langen Sommergelage mit Freunden spart die Gruppe beim Cornern schnell mal 20 Euro. Und die Musik aus der Bar schallt ja kostenlos bis auf die Straße.
Und so hat sich etwa in Köln längst eine Im-Sommer-einfach-schön-draußen-rumsteh-Kultur entwickelt. Anwohner werden jetzt rufen: "Ja, zum Beispiel bei uns am früher so idyllischen Brüsseler Platz!" Dass die Nachbarn da schnell die Metapher mit dem einfallenden Heuschreckenschwarm im Kopf haben, ist nur allzu menschlich. Dort kann man dieser Tage wohl nur mit geschlossenem Fenster schlafen. Mitunter stehen dort hunderte gut gelaunter Menschen unter den Bäumen und sparen bei jedem Schluck bares Geld. Und in den Büdchen drum herum trägt man die Euros in Eimern weg.
Das Gleiche am Wochenende in der Kölner Schaafenstraße. Dort suchen sich die Cornerer die Kioske mittlerweile schon nach Freundlichkeit der Inhaber aus. Man greift eben nicht bei jedem gern in den Kühlschrank. Und die Kneipen betreten viele Leute im Sommer nur noch zum Austreten.
Seit einiger Zeit wird der Trend zum Bordstein-Bier noch befeuert durch die Supermärkte. Sie tragen das Cornern in die mittelgroßen Großstädte. Dort wo es sich lohnt, bleiben die Läden bis Mitternacht geöffnet. Und sind längst mit meterlangen verglasten Kühlwänden ausgestattet. Extra für Bier, Limo und Smoothies.
Die beliebtesten Biermarken in Deutschland 2015
Erdinger
Absatz: 1801 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: -1,2 %
Radeberger
Vorjahr: Platz 9
Absatz: 1895 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: +1,5 %
Hasseröder
Vorjahr: Platz 8
Absatz: 2245 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: -0,2%
Warsteiner
Vorjahr: Platz 6
Absatz: 2342 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: -7,4 %
Paulaner
Vorjahr: Platz 7
Absatz: 2420 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: +/- 0%
Beck’s
Vorjahr: Platz 5
Absatz: 2559 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: +1,1%
Veltins
Vorjahr: Platz 4
Absatz: 2785 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: +0,5%
Bitburger
Vorjahr: Platz 3
Absatz: 3840 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: -1,1%
Oettinger
Vorjahr: Platz 1
Absatz: 5393 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: -4,1%
Krombacher
Vorjahr: Platz 2
Absatz: 5487 Hektoliter
Veränderung gegenüber 2014: +0,3%
Dort werden die Kunden jeden Sommer mit neuen Getränke-Varianten bezirzt. Waren es die letzten Jahre noch die Biere mit den durchgeknalltesten Beimischungen bis hin zu Ingwer und Flieder, sind es diese Saison die Ciders mit skandinavischem Anstrich mit Birnen- oder Waldbeerengeschmack. So schnell, wie die Supermärkte und Kioske mal eben das Sortiment aufpeppen, können die Kneipen gar nicht ihre Schiefertafeln über der Theke mit Kreide umschreiben.
Und es kommt noch dicker: Die Supermärkte haben erkannt, dass der durchschnittliche Deutsche immer weniger Mahlzeiten zu Hause einnimmt, nämlich 2015 4,2 Prozent weniger als noch zehn Jahre zuvor. Und so ballert der Handel seine Vitrinen voll mit Couscous nebst Minzdipp, Bulgur-Salat, Thunfisch-Wrap, geschnippeltem Obst im Klarsichtbecher und geschälten Minimöhrchen und lockt so Chefin und Praktikanten schon mittags zum Essen auf die Straße.
Fußgänger erobern den Straßenraum zurück
Wenn man also auch noch seine Mittagspause mampfend auf der Parkbank verbringen kann, statt beim Mittagstisch eines Restaurants, wenn man abends den Bierschmacht an der Laterne lehnend mit einem halben Hähnchen und Kartoffelsalat von Rewe to go stillen kann, dann blicken die Mitglieder der Dehoga wohl tatsächlich irgendwann neidisch durchs Gebüsch auf die ehemaligen Gäste, für die der öffentliche Raum im Sommer zum Ersatzbalkon geworden ist.
Und in Berlin bahnt sich schon das nächste Phänomen an. Nennen wir es anglizistisch "bridgen". Dort versammeln sich ganze Freundeskreise (mit teilweise beträchtlichem Radius) in ruhigen Wohngebieten auf Brücken mit netter Aussicht und setzen sich dort aufs Kopfsteinpflaster, wie zum Beispiel über dem Landwehrkanal auf der Admiralsbrücke. Dann wird Gitarre gespielt, jongliert und gekifft.
Die ersten sitzen noch auf Gehwegen und der Verkehrsinsel und versorgen sich direkt neben einem Italiener mit idyllischem Biergarten günstig aus einem Spätkauf-Kiosk. Doch schon bald ragen die ersten Hintern, Rücksäcke und Fahrradlenker auf die Fahrbahn. Und man erkennt schon am Gesichtsausdruck der Autofahrer, wer wegen dieses Phänomens zum ersten Mal bei 2 km/h durch den Fleisch gewordenen Hindernisparcour zirkeln muss, um nicht versehentlich über einen nackten Fuß zu rollen, und wer das verdammt nochmal seit Mai jeden Sonntag-Nachmittag tun muss. Letztere haben eine deutlich gesenkte Hup-Schwelle. Und rötere Hälse.
Und so wird nicht nur der Dehoga über das Cornern klagen, sondern bald sicher auch der ADAC und die Polizei-Gewerkschaft über das Bridgen - wegen innerörtlicher Ferienstaus und zwischen Kopfstein und Reifen zermalmter Handknochen.
Und so wie die Inline-Skating-Verbotsschilder mit den putzigen Piktogrammen heute ein Relikt aus den Neunzigerjahren sind, so werden sicher bald neue Schilder aufkommen: "Hintern nicht ins Straßenprofil ragen lassen" oder "während der Malzeiten Füße einziehen". Oder dreieckige Warnschilder an Autofahrer mit Piktogrammen von auf der Straße sitzenden Männchen mit Bierflasche in der Hand.
Dass ausgerechnet der Lebensmittelhandel dazu beiträgt, dass die Fußgänger den Straßenraum zurückerobern, hätte man wohl genauso wenig für möglich gehalten wie den Brexit.
Im Stehen auf der Straße trinken ist das neue Ausgehen. Welcher Marketing-Stratege hätte das bitte prognostiziert?
Und jetzt sind ja auch noch die Pokémon auf unseren Straßen unterwegs und locken noch mehr Leute raus. Nun noch ein paar sonnige Tage und wir werden unsere Innenstädte nicht mehr wiedererkennen.