Harley-Davidson Längst vergessene Motorrad-Fahrkünste aktivieren

Nach 20 Jahren wieder im Sattel eines Motorrads: Auf den Routen rund um den Müritzsee können Motorradfahrer die Rückkehr in den Straßenverkehr üben.

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Am Fleesensee in Berlin lernen Wiedereinsteiger nach einer Pause wieder vergessene Motorrad-Fahrkünste

Dreihundertvierzig Kilo, gehalten von drei Fingern an einer einzigen Schraube: Astrid konzentriert sich, die Maschine nicht kippen zu lassen, ohne Kraft einzusetzen. Mit der freien linken Hand greift die 55 Kilo leichte Unternehmensberaterin, heute in Motorradjacke und Regenhose, an den Lenker der Maschine, löst die rechte Hand von der Schraube in der Mitte des Tanks, geht einen Schritt weiter, lässt die rechte Hände weiterwandern, von Teil zu Teil, die Füße folgen. Geschafft – Astrid konnte die Maschine alleine halten. Obwohl sie mit dem Motorrad noch keinen Meter gefahren ist, hat sie während des tänzerischen Balanceakts mit dem Namen „Elfenübung“ Entscheidendes gelernt: „Diese Maschine fällt nicht so leicht um.“

Astrid sucht Vertrauen, Übung, Fahrsicherheit – wie viele Deutsche, die Jahre nach ihrer Führerscheinprüfung oder einer langen Pause wieder Motorrad fahren wollen. Die Zulassungszahlen für Motorräder ziehen an, vor allem das Segment mit Maschinen über 1000 Kubikzentimeter legte 2007 um 6,6 Prozent zu. In diesem Zeitraum konnte allein Harley-Davidson in Deutschland gut 300 mehr als das Jahr zuvor verkaufen: 6437 Stück.

Beim Rangieren der Harley nicht Blöde aussehen

ADAC und Motorradhersteller wie BMW bieten Kurse an, die unsicheren Wieder-Einsteigern Gelegenheit geben, unter Aufsicht ihre Grundlagen aufzufrischen, auch ohne eigenes Motorrad. Rund 3800 Führerscheininhaber ließen sich 2007 allein vom ADAC wieder in die Kunst des Steuerns einweisen. Das geht in wenigen Stunden auf einem abgezirkelten Übungsgelände.

Oder, wie im Falle des Robinson Club Fleesensee anderthalb Stunden nördlich von Berlin, auf dem Betriebshof der Golfanlage mit anschließenden Ausfahrten auf den malerischen Alleen der mecklenburgischen Seenplatte. In einer Holzscheune neben dem Club ist die Harley Academy untergebracht, eine ungewöhnliche Klippschule für Motorradtrainings: Hier duzt man sich, wie im ganzen Robinson Club.

Lebender Mittelpunkt ist Günther – Günther Kanz, Prototyp eines Harley-Fahrers. Eine Kugel von einem Mann, braungebrannte Glatze, schwarze Hornbrille aus den Fünfzigerjahren, die er nur absetzt, um sie gegen eine Sonnenbrille mit gelben Gläsern und goldenem Rand zu tauschen. Goldene Rolex am Arm, in der Geldklammer stecken die Plastikkarten zwischen 500-Euro-Scheinen. Günther kommt aus Wien, wohnt bei Hannover und ist Leiter der in der Schweiz ansässigen Motorcycle Adventure Agency, die im Auftrag von Harley-Davidson in Fleesensee eingerosteten Motorradfahrern wieder Mut machen will.

Cruisen ist das Zauberwort der Harley-Gruppe

22 Modelle hält Günther bereit für Übungen und Ausfahrten, die er und sein Kollege Armin begleiten. In Kursen zwischen zwei und drei Tagen Dauer will die Academy das Lebensgefühl in Erinnerung rufen, denn das verführt – so hoffen die Veranstalter – zum späteren Kauf. Weil das Einzige, woran sich die Teilnehmer oft noch erinnern, wenn sie an die Zeit auf dem Motorrad zurückdenken, ist: Es hat mal viel Spaß gemacht.

Zum Beispiel Gerd aus Elmshorn, der sich in den vergangenen Jahren in der Freizeit als Reiter mit nur einer Pferdestärke pro Ritt auseinandergesetzt hat. Nun sind es gut 70 PS mehr. Rund 40 Jahre ist es her, dass er das letzte Mal auf einem Motorrad saß. Die Fußschaltung, die für den ersten Gang nach unten und alle anderen nach oben gedrückt wird, der „Kill“-Schalter, der die Maschine mit einem Druck sofort ausschaltet, der Seitenständer, der trotz gefährlicher Neigung das Motorrad sicher stützt, und die gelbe Leuchte für die Einspritzpumpe: alles Neuland für den schlaksigen Mann aus Norddeutschland.

Bevor es auf die Straße geht, muss an diesem trüben Vormittag immer wieder Zeit für Theorie sein: Wie lange könnte ein Bremsweg sein? Wie komme ich durch die Kurve? Wie fahre ich möglichst sicher? Nathalie, die Fahrtrainerin, befeuert die Kursteilnehmer mit Fragen über Fragen. In den Pausen erzählt sie von ihrer Abneigung gegen die Hobbyraser vom Nürburgring, den sie meidet, und den Sicherheitspuffern auf Rennstrecken wie auf dem Sachsenring. Forsch im Tonfall, hartnäckig in der Sache. „Auch langsam fahren will geübt sein“, sagt die blonde drahtige Frau mit dem Tattoo am Hals. „Ihr wollt ja auch vor dem Eiscafé beim Rangieren nicht blöde aussehen.“

Also zuckelt die Truppe im Schritttempo um die Gerätehalle. Kupplung schleifen lassen und, bitte, nur mit der Hinterradbremse bremsen. Ganz leicht Gas geben. Die mindestens 2,25 Meter langen Maschinen machen sich scheinbar noch etwas länger. Zum Erstaunen aller kommt beim Schritttempo Ruhe ins Rad. Nathalie hat derweil kleine Hütchen in Signalfarben zu zwei Vierecken aufgestellt. Ein Tritt, und die Minipylone geben weich nach: „Fahrt drüber, wenn ihr es nicht mehr schafft.“ Immer im Kreis rum heißt die Übung, wer über die Schulter in die Mitte starrt, fährt den Kreis fast von allein. „Wohin das Auge schaut“, sagt Nathalie, „da will auch die Maschine hin.“ Blickt der Fahrer ängstlich auf die Leitplanke, ist auch das Risiko größer, sich ihr anzunähern. „Besser, das Auge fixiert ein Ziel in der Ferne.“

Frank, Bäckermeister aus Königswinter bei Bonn, der mit seiner Maschine aus dem Rheinland angereist ist und schon das Buch „Die obere Hälfte des Motorrads“ zu Ende gelesen hat, weiß das eigentlich alles schon. „Aber es ist eine Sache, die Theorie zu kennen“, sagt er, „und eine andere, es in die Praxis umzusetzen.“ Scham vorm Eiscafé fürchtet er, nicht, weil er da nicht anhält, aber „mit der Übung zum Langsamfahren komme ich besser in meine Garageneinfahrt“.

Nur Frank ist mit seinem eigenen Traummotorrad da, andere nutzen den Kurs auch als erweiterte Probefahrt. Autohändler Stefan und sein Schwiegervater Ulrich aus Erbach wollen sich gemeinsam ein Motorrad zulegen, beim Kurs soll über das passende Modell beraten werden. Stefan rattert Details über die Maschinen durch, vergleicht Sättel und Optik, bastelt sich vor dem inneren Auge sein Traummodell zusammen.

Es folgen am vernieselten Nachmittag Slalomübungen, die für alle verblüffende Erkenntnisse bringen: Will ich einem Hindernis links ausweichen, reicht ein beherzter Schlag auf den linken Griff des Motorrads, es macht eine Linksbewegung, passiert das Hindernis und fährt wie von allein wieder geradeaus. Nicht Magie ermöglicht damit auch leichteres Kurvenfahren ohne großen Aufwand, sondern Physik: „Die Kreiselkräfte der drehenden Räder wirken ab etwa Tempo 30, das Motorrad richtet sich von allein wieder auf.“ Bremsübungen beschließen den Übungstag. Zurückgelegte Strecke: gerade mal 25 Kilometer.

Astrid, Hobby-Kickboxerin und Tiefschneeskifahrerin, ist dennoch erschöpft und gleichzeitig zuversichtlich. Mit 40 Jahren hatte sie sich entschlossen, den Motorradführerschein zu machen, den ihr Vater ihr mit 18 noch verboten hatte. Kurz nach der erfolgreichen Prüfung folgten zwei unverschuldete Unfälle: „Ich merkte dann, dass ich nach der Babypause immer wieder Ausreden fand, nicht mehr aufs Motorrad zu steigen. Aber man muss seine Angst umarmen“, sagt die Journalistin und Pädagogin, die in Hamburg mit ihrem Lebensgefährten Rainer, einem diplomierten Psychologen und Betriebswirt, eine Unternehmensberatung betreibt und wieder mit ihm am Wochenende Ausfahrten machen will. „Wenn ich beim Händler bin, dann juckt es schon noch.“

Am nächsten Morgen scheint die Sonne über dem Nationalpark Müritz. In einer Formation, die Stuhlreihen im Stadion ähnelt, folgt das Quintett Armin, der vorneweg fährt. Über Funk gibt Kursleiter Günther von hinten die Informationen an alle Fahrer. Stoppschild vorne, loser Untergrund rechts oder überholendes Auto von hinten. Dann ziehen alle Fahrer, ohne Tempo zu vermindern, rüber an den rechten Rand und machen sich schmal, um die viel schnelleren Autos passieren zu lassen in den schmalen Alleen und welligen Waldstraßen rund um die Müritz. Denn um Schnelligkeit geht es nicht.

Cruisen ist das Zauberwort der Harley-Gruppe, das für die überholenden Autofahrer stark nach gemütlichem Rumtuckern aussieht. Hin und wieder ermahnt Günther, dass Tempo 80 schon nötig sei – um nicht den Verkehr aufzuhalten. Ein ernst gemeinter Hinweis – denn der Spaß auf den dicken Motorrädern beginnt auf den Landstraßen schon bei gut Tempo 60. Der Fahrtwind lässt es dann noch zu, den Kopf entspannt zur Seite zu drehen, um die Felder zu betrachten. Der Nordosten vom Motorrad aus – hier zeigt sich Deutschland von einer seiner schönsten Seiten.

Gutmütig wie Bernhardiner lassen sich die dicken Harleys steuern

Einen halben Tag und gut 100 Kilometer dauert es etwa, bis sich die Neueinsteiger auch wieder den Dingen links und rechts der Fahrbahn widmen können. Bis dahin ist jede langgezogene Kurve außerorts und jede schärfere Kurve im Dorf eine Herausforderung, die mit Bedacht angegangen werden will. Die Fahrer rekapitulieren die Tipps zum Steuern und Anvisieren der Kurve, üben das Kupplung-Schleifen vor Ampeln — und müssen sich über das Schalten und die Balance so gut wie keine Gedanken machen.

Gutmütig wie Bernhardiner lassen sich die dicken Maschinen mit seltenen Schaltwechseln steuern; der große Hubraum beschleunigt das Motorrad auch, wenn die Drehzahl so tief ist wie der blubbernde Sound aus den verchromten Auspuffrohren (siehe auch Test Automatikmotorrad Seite 99). Stets präsent mit fast massierenden Vibrationen, tuckern die Motoren in angenehm tiefer Tonlage. Und je schwerer, desto ruhiger liegt die Maschine auf der Straße. Autohändler Stefan wird immer unsicherer. In den Pausen diskutiert er mit Schwiegervater Ulrich über die passende Maschine.

Für Pausen gibt die Mecklenburgische Seenplatte reichlich Anlass. Etwa die ehemalige Datscha, von deren Terrasse einst Erich Honecker die Müritz im Blick hatte. Oder die Dörfer rund um die Seen mit ihren beschaulichen Ufern – wenn es nur nicht so viel Spaß machte, auf 340 Kilo an alledem vorbeizufahren.

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