Arzneiprüfer Walter Schwerdtfeger "Fälschungen fallen oft nicht auf"

Seit vier Jahren leitet Walter Schwerdtfeger das Bundesinstitut für Arzneimittel. Kurz vor seinem Abschied spricht Deutschlands oberster Arzneiprüfer offen über die Risiken von Medikamenten.

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Vom Forscher zum Behördenchef: Walter Schwerdtfeger Quelle: Dominik Pietsch für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche Online: Professor Schwerdtfeger, immer öfter wird vor gefährlichen Nebenwirkungen bei Medikamenten gewarnt. Auch die Schadensmeldungen bei Brustimplantaten oder Herzschrittmachern nehmen zu. Wie sicher sind die Patienten noch?

Schwerdtfeger: Grundsätzlich funktioniert das System der Überwachung. Es gibt aber Schwächen und Lücken, die zu Risiken führen können, vor allem bei Medizinprodukten, die in den Körper eingesetzt werden, wie etwa Brustimplantaten oder künstlichen Gelenken.

Zur Person

Mehrere Tausend Frauen in Deutschland erhielten von der französischen Firma PIP hergestellte, schadhafte Brustimplantate. Wie lässt sich das verhindern?

Das lässt sich nie ganz verhindern. Hier war kriminelle Energie des Herstellers im Spiel. Immerhin müssen die Überwachungsstellen in Zukunft auch nicht angemeldete Kontrollen der Hersteller durchführen. Bisher war eine 14-tägige vorherige Anmeldung üblich.

Anderes Beispiel: Herzschrittmacher des US-Unternehmens Medtronic senden unvermutet Stromstöße aus. Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach ist deswegen im vergangenen Jahr zusammengebrochen.

Medizinprodukte, die im Körper verbleiben, wie auch Herzschrittmacher, müssten in der klinischen Prüfung intensiver auf ihre Eignung zur Anwendung im menschlichen Körper untersucht werden.

Wie sicher sind künstliche Gelenke?

Sie steigern die Lebensqualität enorm. Mit zunehmender Verweildauer im Körper können zum Beispiel Schwermetalle in den Körper gelangen, oder es bilden sich Entzündungen. Auch hier wissen wir noch zu wenig über das Langzeitverhalten.

Wer in der Pharmabranche wen übernehmen will
Die Pharmaindustrie steckt im Übernahmefieber. Die Meldungen über Megadeals häufen sich. Ein Überblick über die wichtigsten Pläne in der Pharmabranche. AbbVie und ShireDer US-Pharmakonzern AbbVie hat im Juli die Übernahme des britischen Rivalen Shire für umgerechnet rund 40 Milliarden Euro angekündigt. Damit wird der Medikamentenbestand deutlich ausgebaut. Zudem soll der Zusammenschluss signifikante Steuervorteile bringen. Quelle: REUTERS
Durch den Kauf von Shire, unter anderem Hersteller von Medikamenten gegen ADHS, erweitert AbbVie sein Produktportfolio deutlich. Größter Umsatzbringer des US-Konzerns ist bislang das Rheumamittel Humira. Quelle: REUTERS
Bayer und MerckDer Dax-Konzern baut sein Geschäft mit rezeptfreien Medikamenten aus. Da passte es gut, dass US-Konzern Merck & Co seine entsprechende Sparte zum Verkauf feil geboten hat. Für rund 14 Milliarden Dollar (etwa zehn Milliarden Euro) hat Bayer den Zuschlag für die Sparte bekommen und dabei den britischen Konkurrenten Reckitt Benckiser ausgestochen. Quelle: REUTERS
Die ehemalige Merck-Sparte stellt unter anderem Dr. Scholl's-Fußpflegeprodukte, Sonnencremes der Marke Coppertone und das Allergiemittel Claritin her und kam 2013 auf Umsätze von etwa 1,9 Milliarden Dollar. Quelle: dpa
Novartis und Glaxo-Smithkline und Eli LillyEin großes Tauschgeschäft haben Novartis und Glaxo-Smithkline eingefädelt. Am 22. April gaben die beiden Konzerne bekannt, jeweils eine Sparte voneinander zu übernehmen. Der Schweizer Pharmariese Novartis kauft für 14,5 Milliarden Dollar der britischen Glaxo-Smithkline das Geschäft mit Krebsmedikamenten ab. Im Gegenzug erhält Glaxo für 7,1 Milliarden Dollar die Impfsparte von Novartis. Quelle: AP
Mit im Paket des großen Pharma-Deals: ein Gemeinschaftsunternehmen für rezeptfreie Medikamente. Glaxo hält daran die Mehrheit, Novartis lediglich 36,5 Prozent. Das Joint Venture wird zu einem bedeutenden internationalen Spieler bei nicht verschreibungspflichtigen Mitteln. Im Rahmen des Novartis-Konzernumbaus wird noch eine weitere Firma an der Vereinbarung beteiligt. Der US-Konzern Eli Lilly kauft den Schweizern für 5,4 Milliarden Dollar den Bereich Tiergesundheit ab. Quelle: REUTERS
Mylan und MedaAuch der US-Konzern Mylan ist auf Übernahmekurs. Der Generikahersteller hat Branchenkreisen zufolge den schwedischen Arzneimittelhersteller Meda ins Visier genommen. Rund neun Milliarden Euro soll Mylan die Übernahme wert sein. Doch es gibt ein Problem. Quelle: REUTERS

Was hält Sie davon ab, genauer hinzusehen? Immerhin Sie sind doch der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM.

Das Wort Medizinprodukte taucht zwar im Namen auf, aber mit der Prüfung haben wir nur am Rande zu tun. Wir registrieren Fehlermeldungen, nachdem etwa künstliche Hüftgelenke schon auf dem Markt sind. Die Verkehrsfähigkeit wird von Einrichtungen wie dem TÜV bescheinigt. Das Problem ist: Die Überwacher sind auf Aufträge aus der Industrie angewiesen. Es ist nicht auszuschließen, dass in Einzelfällen weniger kritisch geprüft wird, um mehr Aufträge zu erhalten.

Was muss sich ändern?

Wirksamere Kontrollen können nur vom europäischen Gesetzgeber beschlossen werden. Es ist aber sehr schwierig, dafür Mehrheiten zu finden, weil die Mitgliedsländer das Thema als unterschiedlich brisant einschätzen. Das BfArM bewertet sicherheitsbezogene Meldungen und schlägt gegebenenfalls Maßnahmen zur Abhilfe vor. Durchsetzen können solche Maßnahmen aber nur die Behörden der Länder. Deren Betrachtungsweisen sind nicht überall dieselben. Es scheint mir nicht der Intention des Grundgesetzes zu entsprechen, wenn auf diese Weise innerhalb von Deutschland ein unterschiedliches Schutzniveau entsteht.

Das Geschäft mit gepanschten Pillen
Das Geschäft mit gefälschten Medikamenten ist lukrativer als der Drogenhandel. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind mindestens 50 Prozent der im Internet vertriebenen Medikamente und etwa zehn Prozent aller weltweit verkauften Arzneimittel Fälschungen. Hier zu sehen: Tablettenproduktion in einer indischen Fälscherwerkstatt. Dieses und alle folgenden Fotos stammen aus Ermittlungsakten des Pharmakonzerns Pfizer. Quelle: Pfizer (aus Ermittlungsakten)
25 Millionen gefälschte Medikamente wurden 2010 allein in Deutschland vom Zoll beschlagnahmt. In kriminellen Werkstätten wie dieser in Kolumbien werden Pillen gepresst, die zu wenig, zu viel oder gar keinen Wirkstoff enthalten. Quelle: Pfizer (aus Ermittlungsakten)
Die Herstellungsbedingungen sind meist - wie hier in Kolumbien - abenteuerlich. Oft sind es auch die Inhaltstoffe. So fanden sich in Imitaten diverser Produkte des Pharmakonzerns Pfizer mitunter hochgiftige und lebensgefährliche Stoffe wie Straßenfarbe auf Blei-Basis, Borsäure, Bodenreiniger und das  Amphetamin Speed. Quelle: Pfizer (aus Ermittlungsakten)
Zuweilen sind die Fälscherwerkstätten auch schlichtweg eklig. Hier entsteht eine Kopie des Pfizer-Präparats Lipitor / Sortis, einem Cholesterinsenker. Die Kosten von Rückrufaktionen gefälschter Arzneimitteln müssen die betrogenen Pharmaunternehmen übrigens selbst tragen. Quelle: Pfizer (aus Ermittlungsakten)
So gut wie jedes Medikament wird kopiert. So wurden von 60 Pfizer-Produkten Fälschungen in 104 Ländern sichergestellt, darunter Mittel zur Behandlung von Krebs, HIV, hohem Cholesterin, Alzheimer, Bluthochdruck, Depressionen, rheumatischer Arthritis und Antibiotika. Hier wird in Pakistan eine Fälschung des Hustensafts Corex abgefüllt. Das Original wird in Indien, Pakistan, Bangladesch und anderen südasiatischen Märkten vertrieben. Quelle: Pfizer (aus Ermittlungsakten)
Das am häufigsten gefälschte Medikament ist das Potenzmittel Viagra, ebenfalls von Pfizer. Allein im Jahr 2008 wurden weltweit acht Millionen gefälschte kleine blaue Tabletten beschlagnahmt. Quelle: Pfizer (aus Ermittlungsakten)
Hier wurden gefälschte Viagra-Pillen in China verpackt. Quelle: Pfizer (aus Ermittlungsakten)

Arzneien werden strenger kontrolliert. Dennoch treten immer wieder unerwartete Nebenwirkungen auf. Warum?

Das System der Arzneimittelkontrolle funktioniert im Prinzip sehr gut. Aber Sie können nicht jede Nebenwirkung über große klinische Studien erkennen – auch nicht, wenn mehrere Tausend Patienten einbezogen sind. Auch lassen sich nicht alle Wechselwirkungen mit anderen Präparaten ausschließen, bevor ein Medikament auf dem Markt ist. Natürlich haben Unternehmen und Patienten ein berechtigtes Interesse daran, dass neue Mittel schnell auf den Markt kommen. Aber die weisen eben noch wenig Praxiserfahrung auf. Ich selbst würde mich – wenn ich die Wahl zwischen einem älteren und einem neuen Medikament hätte – immer für das ältere entscheiden. Das kann in Wirkungen und Nebenwirkungen besser eingeschätzt werden.

Boehringer Ingelheim hat mit Pradaxa ein Mittel auf den Markt gebracht, das Tausende Schlaganfälle verhindert, aber vereinzelt teils tödliche Blutungen auslösen soll, für die es kein Gegenmittel gibt. Darf so ein Mittel auf den Markt kommen?

Ja, wenn die Zulassungsbehörden eine positive Nutzen-Risiko-Bewertung vorgenommen haben. Der Einsatz neuartiger Arzneimittel muss von den anwendenden Ärzten intensiv beobachtet werden.

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