Der Chef schlief. Als die Deutsche Börse am späten Abend des 5. September entschied, den Leverkusener Spezialchemiekonzern Lanxess in die höchste deutsche Börsenliga aufzunehmen, nächtigte Unternehmenschef Axel Heitmann in einem Hotel in Shanghai. Er musste ausgeschlafen sein für den „Lanxess Mobility Day“. Auf dem sollte er Autoexperten und Regierungsvertreter überzeugen, dass etwa leichte Hochleistungskunststoffe von Lanxess genau die richtigen Produkte für den boomenden chinesischen Automarkt sind. In gleicher Mission reiste Heitmann vorige Woche in die USA.
Am Montag, den 24. September, steht ein wichtiger Termin in Deutschland an. An diesem Tag notiert die Lanxess-Aktie zum ersten Mal im Deutschen Aktienindex (Dax).
Steiniger Weg zum Erfolg
Womöglich war Heitmann der Einzige, der sich vorstellen konnte, dass es diesen Tag einmal geben würde. Vor sieben Jahren jedenfalls sah es überhaupt nicht danach aus. Die damalige Konzernmutter Bayer war durch den Ausfall des Cholesterinsenkers Lipobay und die nachlassende Konjunktur geschwächt. Also gliederten die Leverkusener ihr wenig profitables Chemie- und Kunststoffgeschäft aus und brachten es als selbstständiges Unternehmen namens Lanxess an die Börse. Analysten und Konkurrenten sahen in dem Neuling nur eine „Resterampe“ von Bayer. „Lanxess ist das am wenigsten profitable Chemieunternehmen in Europa“, analysiert die Investmentbank Merrill Lynch – und irrt sich.
Denn Heitmann gelingt es, aus dem hässlichen ein für die Börse hübsches Entlein zu machen. Innerhalb von sieben Jahren steigerte er den Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) um 90 Prozent von 581 Millionen auf 1,1 Milliarden Euro – während der Umsatz nur um 24 Prozent von 7,1 auf 8,8 Milliarden Euro zulegte.
2014 will Lanxess ein Ebitda von 1,4 Milliarden Euro erreichen – ein Jahr früher als geplant. „Lanxess ist eine der beeindruckendsten Turn-around-Geschichten in der Industrie“, lobt Wolfgang Falter, Chemie-Experte bei der Unternehmensberatung Alix Partners.
Wie immer in solchen Fällen hat auch bei Lanxess der Erfolg mehrere Väter und Mütter. Fünf von ihnen zeigen besonders augenfällig, wie aus der Bayer-Resterampe der heutige Dax-Aufsteiger werden konnte.
Antritt zum Höllenjob
An erster Stelle, daran gibt es keinen Zweifel, steht der Chef. Als Heitmann im Januar 2005 vor die Belegschaft tritt, wird er von wütenden Arbeitern mit Trillerpfeifen empfangen. In der jährlichen Rangliste des Verbandes der Chemie-Führungskräfte (VAA) über die Zufriedenheit mit dem Arbeitgeber belegt Lanxess den letzten Platz, Rang 22.
Der damals 45-jährige Heitmann hatte bei Bayer seinen Posten als Leiter des Asien-Geschäfts für Polymerkunststoffe aufgegeben. Getrieben von Ehrgeiz und Ego, nahm er den Höllenjob an der Spitze von Lanxess an, den ihm der damalige Bayer-Chef Werner Wenning 2004 offeriert hatte.
Mit auserkorenen Führungskräften, die er von Bayer zu Lanxess gelotst hatte, zog sich Heitmann Ende 2004 erst einmal in ein einfaches Berghotel in den österreichischen Alpen zurück. Der genaue Ort ist Betriebsgeheimnis. Das Treffen gilt bis heute als Basis für die Wende im Unternehmen. Rund 50 Führungskräfte, allesamt „unternehmerisch denkende Manager“, so ein Teilnehmer der Runde, werden zu Geburtshelfern des Lanxess-Erfolgs. In Kleingruppen bei Brotzeit und Bier diskutieren sie, was sie künftig besser machen wollen als bei Bayer: klare Verantwortlichkeiten, einfache Abläufe, keine endlosen Diskussionen mehr, Konzentration auf Problemlösung und mehr Verantwortung.
Manager mit Unternehmer-Gen
Zu der Runde im Berghotel zählt auch Günther Weymans. Der promovierte Physiker ist einer der Männer mit Unternehmer-Gen, die Lanxess nach vorn brachten.
Bei Bayer war Weymans verantwortlich für eine Anlage zur Herstellung von Toluoldiisocyanat (TDI), einem Kunststoff-Zwischenprodukt. „Die Restrukturierung des TDI-Geschäftes war 2003 abgeschlossen“, erinnert sich der 55-Jährige, „aber ich wollte unbedingt noch etwas bewegen.“
Also nimmt Weymans das Angebot seines Chefs an, sich fortan um Technische Kautschuke zu kümmern – daraus entstehen beispielsweise Dichtungen, Schläuche, Kabel oder Sohlen für Laufschuhe. „Ich war damals kein Kautschuk-Fachmann“, sagt Weymans, „wusste vom TDI-Geschäft aber, wie man restrukturiert.“
Erst einmal muss der Wageteufel die kriselnde Kautschuk-Sparte auf Profit trimmen. Als Weymans glaubt, aus dem Gröbsten raus zu sein, trifft ihn Ende 2008 mit voller Wucht die Finanzkrise. Die Bestellungen der Autoindustrie, mit der Lanxess 40 Prozent des Kautschuk-Geschäfts macht, brechen ein. Weymans fährt drei seiner sechs Anlagen herunter – in Marl, in Dormagen und im texanischen Orange. Tonnen von Vorprodukten müssen zwischengelagert, Mitarbeiter zum Abbau von Überstunden und längeren Weihnachtsferien bewegt werden.
Der Krise trotzen
Gleichwohl lässt sich Weymans nicht kirre machen und hält an seinen Prinzipien fest. Wenn ein Kunde keinen vernünftigen Preis zahlen will, verzichtet er auf das Geschäft. Zusätzlich zu den bereits vorhandenen etwa 100 Forschern stellt er gut ein Dutzend neue Tüftler ein, die temperaturbeständigere, abriebfestere und flammenresistentere Stoffe sowie besonders witterungsbeständige Folien für Solarzellen entwickeln.
Heute profitiert Lanxess von den neuen Produkten. Neue Produktionsstätten im brasilianischen Triunfo und im niederländischen Geleen sind hinzugekommen. Vor wenigen Tagen gab Lanxess den Bau der weltgrößten Anlage für sogenannten EPDM-Kautschuk in der chinesischen Provinz Jiangsu bekannt – eine Investition von 235 Millionen Euro. Um das EPDM-Geschäft wird sich Weymans künftig kümmern.
Weniger Hierarchien
Dass Lanxess vieles besser macht als die einstige Mutter Bayer, dafür steht auch Zhengrong Liu. Der junge Chinese kam 1989 zum Studium nach Deutschland. Um Geld zu verdienen, kellnerte Liu im China-Restaurant, füllte Heringssalat von Fässern in Gläser, gab Tai-Chi-Kurse und brachte Bayer-Managern Chinesisch bei. So kam er zu einem Praktikum in Leverkusen. Es war die Zeit, als China zur Weltmacht aufstieg. Lius Sprach- und Kulturkenntnisse waren gefragt. Ende der Neunzigerjahre ging er für Bayer nach China, organisierte dort die Fort- und Weiterbildung. Kurz darauf wurde Liu erster Bayer-Personalchef im Reich der Mitte. In Shanghai lernte er vor zehn Jahren den damaligen Bayer-Kunststoff-Manager Heitmann kennen.
Heitmann holt Liu zurück nach Deutschland und macht ihn zum Personalchef von Lanxess mit 20.000 Mitarbeitern. Liu ist damals 37 Jahre alt. Zusammen mit Heitmann streicht er die Zahl der Hierarchieebenen von neun auf vier zusammen. „Da kann sich keiner mehr hinter unklaren Verantwortlichkeiten verstecken“, sagt Liu.
Für den gemeinsamen Erfolg
Und der Chinese ersetzt das kompliziertere Vergütungssystem aus Bayer-Zeiten durch einfache Bonusregeln. Jeder Mitarbeiter erhält – sofern Lanxess das jährliche Gewinnziel erreicht – einen bestimmten prozentualen Aufschlag auf das Gehalt. „Die Unternehmensführung geht davon aus, dass sich jeder Mitarbeiter für den gemeinsamen Erfolg engagiert“, sagt Liu. Neben dem Vertrauensbonus dürfen Lanxess-Führungskräfte auch nach eigenem Gusto darüber entscheiden, welcher Mitarbeiter wann eine zusätzliche Prämie verdient hat. Für einen Tarifmitarbeiter kann es da schon mal mehrere Tausend Euro obendrauf geben.
Direkter Draht nach oben
Dass solche Veränderungen im Betrieb ankommen, dazu trägt auch Wolfgang Fiolka an entscheidender Stelle bei. „Es ist transparenter, die Wege sind kürzer geworden“, sagt der Schichtmanager in einem Lanxess-Kautschuk-Betrieb in Dormagen bei Köln. Der 50-Jährige erfährt heute regelmäßig vom Betriebsleiter, wie die Geschäfte laufen – und er gibt die Informationen an seine 35 Mitarbeiter weiter.
In den früheren Zeiten bei Bayer habe eher das Prinzip „Anweisen und ausführen“ gegolten. „Heute kann ich den Betriebsingenieur direkt ansprechen, um eine Änderung in der Produktion durchzusetzen“, sagte Fiolka. „Früher musste ich damit erst mal zum Tagschichtmeister, dann zum Betriebsleiter, dann ging das Thema in die technische Besprechung am nächsten Tag und wurde dann möglicherweise noch einmal vertagt.“ Inzwischen werden technische Probleme deutlich schneller gelöst.
Schmiermittel Solidarität
Ohne Gisela Seidel und ihre Kollegen aus dem Betriebsrat hätte Lanxess-Chef Heitmann den Aufstieg in den Dax wohl kaum so reibungslos geschafft. Im Frühjahr 2005 entscheidet Heitmann, in den Problem-sparten Styrolkunststoffe und Feinchemie (Chemikalien für Pharma und Pflanzenschutz) möglichst schnell 1.000 Jobs zu streichen. Betriebsrätin Seidel hält dagegen und will den Stellenabbau bis Ende 2007 hinausschieben, um alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für die betroffenen Kollegen zu finden. Die Arbeitnehmer bieten an, die Arbeitszeit zu verkürzen und entsprechend den Lohn zu senken.
Seidel und ihre Kollegen überzeugen Heitmann. Die Tarifmitarbeiter arbeiten 2,5 Stunden weniger und erhalten 6,7 Prozent weniger Lohn. Leitende Angestellte und der Vorstand verzichten auf Teile ihres Bonus. Die üppigen übertariflichen Zulagen aus der Bayer-Zeit werden abgeschmolzen, das 13. Monatsgehalt und das Weihnachtsgeld stark gekürzt. 2007 ist Lanxess aus dem Gröbsten raus, und die Beschäftigten erhalten wieder volles Gehalt für volle Arbeitszeit. Während der Finanzkrise lebt die erprobte Arbeitszeit- und Gehaltskürzung noch einmal für ein Jahr wieder auf.
Der Plan geht auf
Der Solidarpakt funktioniert. „Bis auf wenige Ausnahmen haben wir alle vom Stellenabbau betroffenen Mitarbeiter in anderen Bereichen unterbringen können“, sagt Betriebsrätin Seidel. Im Gegenzug erhält Heitmann freie Hand, sich von unbedeutend gewordenen Geschäftsbereichen mit einem Umsatz von 1,5 Milliarden Euro zu trennen. Er schlägt zum Beispiel die Sparten Papier- und Textilchemikalien los und gliedert die Feinchemie in ein eigenständiges Unternehmen aus. 5.000 Beschäftigte wechseln den Arbeitgeber – aber keiner der neuen ging bis heute pleite.
Gleichzeitig investiert Heitmann aber nicht nur im boomenden Asien, sondern auch im Heimatmarkt Deutschland. „Das Vertrauen zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung ist mit der Zeit stark gewachsen“, sagt Betriebsrätin Seidel.
Endgültige Abnabelung
Im kommenden Jahr steht die große Veränderung für die 1.000 Mitarbeiter der Lanxess-Zentrale in Leverkusen an: Sie ziehen nach Köln um, in ein modernes Glashochhaus am Rheinufer mit Blick auf den Dom, nur wenige Meter vom Konzerttempel Lanxess-Arena entfernt. Es ist die endgültige Abnabelung von Bayer – jetzt auch räumlich.
Unruhe muss Konzernchef Heitmann derzeit kaum fürchten. In der jüngsten Umfrage des Chemie-Führungskräfteverbandes VAA liegt Lanxess bei der Zufriedenheit der Manager mit ihrem Arbeitgeber inzwischen auf Platz drei, Bayer abgeschlagen auf Rang zwölf.