Ausgliederung der Energiesparte Siemens ist Treiber und Getriebener zugleich

Energiesparte ausgliedern: Siemens ist Treiber und Getriebener Quelle: dpa

Siemens-Chef Joe Kaeser formt aus dem Industrieriesen einen Digitalkonzern. Die Ausgliederung der Energiesparte ist da nur konsequent. Weitere Schritte werden folgen.

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Den Konkurrenten voraus sein. Mindestens einen Schritt, wenn möglich mehr. Das ist das Ziel, das Siemens-Chef Joe Kaeser beim heutigen Kapitalmarkttag in München Investoren und Analysten darlegen will. Weil das schwer ist mit einem Klotz am Bein, hat er wenige Stunden zuvor den Verkauf der Energiesparte Power & Gas angekündigt. Denn ein Bremser ist die schon seit geraumer Zeit nicht nur für die Aktionäre, die meutern: Ohne das lahme Geschäft mit den nicht mehr zeitgemäßen Turbinen wären Siemens-Papiere an der Börse längst viel mehr wert. Außerdem bindet sie wichtige finanzielle Mittel, die Kaeser für den angestrebten Umbau des Unternehmens in einen Digitalkonzern des 21. Jahrhunderts braucht. Einen, der in der Lage ist, „die industrielle Revolution zu gestalten“, wie der Chef sagt. Und nicht unter Druck gestaltet wird.

Deshalb kommt nun der Schnitt. Die Energiesparte wird zunächst ausgegliedert und soll – Zustimmung der Anleger bei einer außerordentlichen Hauptversammlung vorausgesetzt – bis Herbst 2020 an die Börse gehen. Die heutigen Siemens-Aktionäre bekommen die Papiere geschenkt. Damit dieses Präsent die nötige Wertschätzung erfährt, bringt der Konzern seinen 59-Prozent-Anteil an dem erfolgreichen Windkraftanlagenbauer Siemens Gamesa ein.

Die Abspaltung ist die bedeutendste Entscheidung im Rahmen der Strategie 2020+, die im vergangenen Sommer angekündigt und zum 1. April umgesetzt wurde, aber bisher wenig greifbar blieb. Weniger Zentralismus, mehr Flexibilität für die einzelnen Geschäftsfelder, schön und gut. Operative versus strategische Sparten, und sonst? Für die Zukunft steckt Kaeser nun konkrete Ziele. Der „industrielle Kern“ des neuen Konzerns mit den Sparten „Digitale Fabrik“ und „Intelligente Infrastruktur“ soll die treibende Kraft für ein jährliches Umsatzwachstum von vier bis fünf Prozent über das gesamte Portfolio hinweg sein. Bei der Ergebnismarge werden 13 bis 15 Prozent angestrebt. Zuletzt lag sie bei 11,3 Prozent.

Allein das Geschäft mit „Digital Industries“, das sich auf das Internet der Dinge fokussiert und Industriekunden helfen soll, Daten aus den eigenen Fabriken schneller auszuwerten und die Digitalisierung der Produktion zu optimieren, soll um ein Viertel stärker wachsen als der Markt. Wenn der also um vier Prozent zulegt, soll die Siemens-Sparte fünf Prozent erreichen. Einen Schritt voraus zu sein, heißt auch, ein Stück weit Getriebener zu sein.

„Der Anspruch ist so klar wie ambitioniert,“ sagte Kaeser dazu am Dienstagabend nach der Aufsichtsratssitzung, die ihm einstimmig das OK für seine Pläne gab. Er will sich an solchen Vorgaben messen lassen. Die Wette ist mutig, kann aber aufgehen: Die Geschäfte des von ihm kreierten Digitalkonzerns haben hohe Eintrittsbarrieren für Konkurrenten.

Manch einen mag heute Morgen dennoch nostalgische Wehmut beschleichen. Der Siemens-Konzern wird kleiner – vorerst um etwa 30 Milliarden Euro Umsatz und rund 80.000 Mitarbeiter der Traditionssparte Energie. Das Unternehmen, in dem die Starken die Schwächeren mitzogen, wird es bald nicht mehr geben.

Zwar wird Siemens auf absehbare Zeit als starker Ankeraktionär mit einem Anteil von etwas weniger als 50 Prozent dem losgelösten Energiegeschäft beistehen. Auch den Namen Siemens wird es tragen dürfen, und laut Finanzchef Ralf Thomas gibt es „ein großes Interesse“, dem neuen Unternehmen mit entsprechenden Mitteln „finanzwirtschaftliche Handlungsfähigkeit“ zu geben. Doch ob tatsächlich das von Kaeser beschriebene „Powerhouse“ entsteht, das wie kein anderes das gesamte Leistungsspektrum von der Energieerzeugung bis zur Verteilung abbildet und dereinst sogar einen Platz im Dax finden könnte, muss sich erst noch zeigen. Die Beschäftigten haben es nur zum Teil in der Hand, ungeachtet aller Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit, die sie nun erhalten. Zunächst geht bei vielen die Angst um.

Aber Geschichtsbewusstsein sichert keine Zukunft. Nirgendwo konnten die Münchner das besser beobachten als beim amerikanischen Konkurrenten General Electric. Dass das auch die Arbeitnehmervertreter verstanden haben, zeigt ihre Zustimmung im Aufsichtsrat.

Es wird nicht die letzte Veränderung bleiben. Siemens habe „viel Zeit“, sagte Kaeser zwar am Dienstagabend zu Fragen nach der Zukunft der Bahnsparte Mobility. Tatsächlich hat er nach der geplatzten Fusion mit dem französischen Zughersteller Alstom hier für eine Antwort aber lediglich mehr Zeit als bei der Energiesparte. Doch auch auf der Schiene wird er nicht hinterher zuckeln dürfen. Oder gar wollen.

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