Die Reise beginnt an einem ebenso gigantischen und wie penibel sauberen Bahnhof in Shanghai, den abzuschreiten eine halbe Stunde in Anspruch nehmen kann. Im Gegensatz zu den notorisch verspäteten Flugzeugen verlassen die Züge auf die Minute genau den Bahnhof. Ruhig, fast geräuschlos, beschleunigt der Zug auf 320 Kilometer pro Stunde. Er verlässt die Stadt und gleitet jetzt durch die zersiedelte Landschaft nördlich von Shanghai. Adrett gekleidete Stewardessen bieten den Reisenden Kaffee und Tee an. Eineinhalb Stunden später hält der Zug, exakt zwei Minuten am Bahnhof der Millionenstadt Nanjing, bevor er seine Fahrt nach Peking fortsetzt.
Es ist nur ein paar Jahre her, da nahm eine Zugreise von Shanghai ins 1200 Kilometer nördlich gelegene Peking einen ganzen Tag (und eine Nacht) in Anspruch. Seit 2011 braust der Gaotie, wie der chinesische Hochgeschwindigkeitszug heißt, dieselbe Strecke in fünf Stunden entlang. Eine Fahrkarte kostet rund 500 Yuan, 60 Euro, und damit nur halb soviel wie ein Flugticket. Die meisten der 37 Hochgeschwindigkeitszüge, die pro Tag den Bahnhof Richtung Peking verlassen, sind ausgebucht.
Kaum etwas verdeutlicht den Aufstieg Chinas besser als eine Fahrt mit diesem Zug, kaum etwas lässt Besucher aus dem Westen mehr staunen.
Bald schon sollen die chinesische Züge auch im Ausland fahren. Beschleunigen sollen die Expansion eine Fusion der beiden Zugherstellergiganten CSR und CNR (China Northern Locomotive and Rolling Stock Industry Group Corp) zu einem Unternehmen. Die Fusion gab der Staatsrat diese Woche bekannt. Die neue Firma soll so leichter gegen internationale Konkurrenten wie Kawasaki aus Japan und Siemens-Alstom aus Europa bestehen können. Damit ist den Chinesen das Kunststück geglückt, was ihnen in der Autoindustrie trotz zahlreicher Anläufe misslingt: Sich mit Hilfe von Gemeinschaftsunternehmen ausländische Hochtechnologie aneignen, damit konkurrenzfähige Firmen aufbauen und schließlich selbst ins Ausland exportieren. Denn die Konkurrenten von heute kopierten die Chinesen noch vor wenigen Jahren.
Äußerlich hat die futuristische Anmutung der Züge schon Hollywood inspiriert: So tauchen der CRH-380A im Oskar-prämierten Zukunftsvision "Her" auf. Mit der schlanken Schnauze ist die Ähnlichkeit zum japanischen Shinkansen-Zug unverkennbar.
Das Innere dürfte wiederum deutschen Bahnreisenden vertraut vorkommen. Im "BordBistro" gibt es anstatt Currywurst und Gulaschsuppe zwar Reis und eingeschweißte Hühnerfüße, ansonsten aber ähnelt die Inneneinrichtung des "Gaotie" dem eines ICE's auf verblüffende Weise.
Die Ähnlichkeit ist kein Zufall. Im Frühjahr 2009 lieferte Siemens Züge für 750 Millionen Euro nach China. Der Jubel war damals groß, so groß, dass das Thema Technologie-Transfer unter den Tisch fiel: Denn auch dazu hatte sich Siemens verpflichtet. Ähnlich erging es den anderen nicht-chinesischen Zugherstellern Bombardier, Kawasaki und Alstom. Lieber gab man Hochtechnologie preis, als eine Chance im größten Wachstumsmarkt der Welt zu verpassen.
Expansion ins Ausland
Heute bauen die Chinesen ihre Züge selbst - und zwar im großen Stil. Das Streckennetz innerhalb Chinas wird kontinuierlich erweitert. Das Zugunglück von Wenzhou, das 2011 40 Menschen das Leben kostete, bremste das Wachstum nur vorübergehend. Chinas Streckennetz ist heute mit 12.000 Kilometern das längste der Welt, bis 2015 sollen es 18.000 Kilometer werden. 500 Millionen Fahrgäste nutzen das Angebot. Immer mehr Städte werden an das Netz angeschlossen. Seit vergangenen Jahr verbindet ein Zug die Hauptstadt mit der Perlflussdelta-Metropole Guangzhou in Südchina. Im kommenden Jahr soll die Strecke bis nach Hongkong erweitert werden. Wuhan in Zentralchina ist bereits an das Netz angeschlossen, weitere Trassen verbinden Chengdu und Chongqing in Sichuan mit den Küstenstädten des Ostens. Ebenfalls im Bau befindet sich bereits eine Strecke nach Urumqi in der Unruheprovinz Xinjiang.
Die Züge dafür kommen von CSR und CNR, zwei Firmen, die Anfang des Jahrtausends aus dem Unternehmen "China National Railways Locomotive and Rolling Stock" entstanden. Beide sind in Staatsbesitz. Die neue Firma wird im Jahr rund 33 Milliarden Dollar umsetzen, und über 170.000 Arbeiter beschäftigen.
Jetzt beginnt die Expansion ins Ausland. Erst in der vergangenen Woche erteilte die Stadt Boston den Chinesen einen Auftrag im Wert von 567 Millionen Dollar, um eine U-Bahn zu bauen. Auch aus der Türkei winken Aufträge - dort gehört ausgerechnet Siemens zur Konkurrenz. Interessenten gibt es ebenfalls in Indien, Mexiko, Venezuela, Thailand und Russland.
Besonders interessant aber dürften Aufträge aus Kalifornien sein. Dort will man seit den Achtzigern die Metropolen San Francisco und Los Angeles verbinden. Das Auftragsvolumen liegt bei 68 Milliarden Dollar. In Europa werden bald die ersten chinesischen Züge auftauchen: Laut der Nachrichtenagentur Xinhua kauft Mazedonien sechs CSR-Züge.
Der Erfolg steigt den Chinesen manchmal auch zu Kopf. Im Sommer machte die Meldung in den Staatsmedien die Runde, wonach eine Zugstrecke Peking-San Francisco geplant sei - durch Russland über Alaska und Kanada nach Kalifornien. Die Fahrt würde rund 65 Stunden dauern und den Bau eines 200 Kilometer langen Tunnel unter der Beringstraße erfordern.