Baustelle Bundeswehr Was bei unserer Armee alles schief läuft

Das G36, die Standardwaffe der Bundeswehr, macht Schlagzeilen. Negative, natürlich. Viele Soldaten können die Aufregung nicht nachvollziehen. Doch die Debatte um das Gewehr zeigt, was bei der Armee schief läuft.

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Bundeswehr-G36 auf einem Übungsplatz Quelle: dpa

Hunderttausende wurden an ihr ausgebildet. Tausende haben sie im Einsatz getragen. Im Balkan, am Horn von Afrika und in Afghanistan. Die meisten, ohne jemals auf einen Menschen schießen zu müssen.

Seit 1995 hat die Waffenschmiede Heckler & Koch 178.000 Sturmgewehre des Typs G36 an die Bundeswehr ausgeliefert. Doch die Standardwaffe der Bundeswehr ist in Verruf geraten. Das Verteidigungsministerium weist unter Berufung auf einen Prüfbericht auf offenbar gravierende Mängel hin: Wird das Gewehr durch Sonneneinstrahlung oder Dauerfeuer zu heiß, schießt es daneben. Das passiert bei allen Waffen, doch der Streukreis des G36 soll auf lange Distanz besonders breit, die Hitzeanfälligkeit also besonders hoch sein.

Die Debatte um das G36

Wie weit die Schüsse vom Ziel abweichen, ist dabei allerdings nicht ganz klar. Auch eine Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen und mit welchen Vorgaben die Tests durchgeführt wurden, steht noch aus. Der Abschlussbericht einer monatelangen Untersuchung von Bundeswehr, Bundesrechnungshof und dem Frauenhofer Institut soll erst Mitte April vorliegen.

Das öffentliche Urteil scheint derweil schon festzustehen. Es fällt vernichtend aus. Ein vermeintlich fehlerhaftes G36 passt perfekt in die Reihe der Rüstungsdebakel bei der Bundeswehr. Flugzeuge, die nicht geliefert werden, Drohnen, die nicht fliegen dürfen, Helikopter, die nicht abheben können. Und jetzt eben Gewehre, die nicht treffen.

"Das Ministerium kauft jeden Ramsch"

Ein gefundenes Fressen für alle, die die Bundeswehr für unfähig halten und als Spielball der Rüstungskonzerne sehen. Linken-Chef Bernd Riexinger etwa wettert: „Scheinbar kauft das Verteidigungsministerium der Rüstungsindustrie, deren Geschäft der Tod ist, jeden Ramsch ab.“

Armee mit Schrott
Helme der Bundeswehr Quelle: dpa
Der Puma-Panzer ist nicht zu bremsen Quelle: dpa
Eine Rekrutin der Bundeswehr sichert auf einem Truppenübungsplatz eine Patrouille. Quelle: dpa
Mitte September 2014 sorgte diese Panne für Aufsehen und lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit nach längerer Zeit wieder auf die Ausrüstungsmängel bei der deutschen Bundeswehr: Weil die Transall-Maschinen der Bundeswehr technische Defekte aufwiesen, konnten die Ausbilder, die kurdische Peschmerga-Kämpfer bei ihrer Arbeit gegen den radikal islamischen IS im Irak vorerst nicht zu ihrer Mission aufbrechen. Sie mussten die Maschinen auf dem Militärflugplatz Hohn wieder verlassen. Es ist die jüngste, aber bei weitem nicht die erste Blamage in Sachen Bundeswehrausrüstung. Quelle: AP
Wie jetzt durch einen Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ bekannt wurde, gab es auch bei den Bordhubschraubern vom Typ Sea Lynx der Marine erhebliche Ausfälle. Von 22 Maschinen sei keine einzige einsatzbereit, so das Blatt, was sich nach dem der „SZ“ vorliegenden internen Dokument 2014 auch nicht mehr ändern werde. Im Juni wurde demnach in einem Modell einer Fregatte ein 20 Zentimeter langer Riss entdeckt, woraufhin der komplette Betrieb mit dem Modell zunächst eingestellt wurde. Wohl zu Recht: Danach wurden an drei weiteren Hubschraubern ähnliche Schäden gefunden. Quelle: dpa
Bereits im August gab es Berichte über nur bedingt einsatzfähiges Bundeswehrmaterial. So meldete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ unter Berufung auf ein internes Dokument des Verteidigungsministeriums, von den hier Schau fliegenden Kampfjets des Typs Eurofighter seien nur acht von 109 Maschinen voll einsatzbereit. Von 67 CH-53-Transporthubschraubern konnten demnach im August ebenfalls nur sieben in die Lüfte gehen. Quelle: dpa
Und auch die Bundeswehrhubschrauber vom Typ NH-90 glänzten nicht gerade mit Bereitschaft: Laut „Spiegel“ waren im Sommer nur fünf von 33 voll intakt, während unter den Transall-Maschinen des Typs C-160 auch damals nur 21 flugtüchtig waren. Quelle: dpa

Anders als die bisherigen Rüstungspannen stößt die Kritik am Sturmgewehr bei vielen Soldaten jedoch auf Unverständnis. „Das G36 ist unserer geringstes Problem“, sagt ein Offizier des Heeres.

In den Augen vieler geht die G36-Debatte am Thema vorbei. Im Zentrum dürfe nicht die Frage stehen, ob das Gewehr gut oder schlecht sei. Man müsse aber überlegen, ob für neue Aufgaben der Bundeswehr auch andere Waffen nötig seien.

„Diejenigen, die wirklich in den Kampf müssen, brauchen vielleicht einen anderen Mix an Waffen“, glaubt auch Heinz Schulte, Chefredakteur des Branchendienstes Griephan. Für die Mehrzahl der Soldaten aber sei das G36 ein absolut adäquates Gewehr.

Finanziell wäre die Anschaffung neuer Sturmgewehre vermutlich stemmbar: Für alle 178.000 G36 zusammen hat die Bundeswehr rund 180 Millionen Euro an Heckler & Koch gezahlt. Die Anschaffung neuer Waffen zu einem ähnlichen Stückpreis wäre damit gemessen an den Ausgaben für andere Rüstungsprojekte gering.

Plastik statt Metall

Unumstritten ist das Sturmgewehr in der Truppe dabei längst nicht. Konzipiert wurde es für den Einsatz in gemäßigtem Klima. Nach Darstellung der Bundeswehr zeichnet es sich durch seine einfache Bauweise und die leichte Handhabung aus. Um das Gewicht zu reduzieren, wurde – auf Wunsch - viel Plastik statt Metall verbaut.

Das Kaliber des G36 ist kleiner als beim Vorgänger G3. Der Waffe fehlt deshalb die nötige Durchschlagskraft, klagten manche Soldaten in Afghanistan – und griffen bei Kampfeinsätzen auf die alte Bewaffnung zurück. Dafür kann das G36 aber nichts, sagt Schulte. „Wenn man einen Maserati kauft, darf man sich doch nicht wundern, dass man damit kein Klavier transportieren kann.“

Die heißen Eisen unter den Rüstungsprojekten der Bundeswehr

Auf deutschen Truppenübungsplätzen etwa funktioniert das Gewehr einwandfrei, auch nach dem Einsatz in der Balkanregion gab es keine Beschwerden der Soldaten. Daran, dass es einmal im heißen, staubigen Afghanistan dauerschießen muss, hat bei der Bestellung niemand gedacht. Bis heute ist das auch nicht die zentrale Aufgabe des Gewehres. „Die Szenarien, in denen das G36 eingesetzt werden soll, sehen ununterbrochenes Dauerfeuer eigentlich nicht vor“, sagt einer, der Truppenmitglieder auf ihre Auslandseinsätze vorbereitet. Einzelschüsse und kurze Feuerstöße, häufig auf Ziele in mittlerer Entfernung – dafür werden die Soldaten weitgehend ausgebildet.

Was die Debatte um das G36 zeigt

Einfach beiseiteschieben lässt sich der Fall G36 deshalb nicht. Zum einen weil die Standardausrüstung der deutschen Soldaten zu wichtig ist, um ignoriert oder leichtfertig übergangen zu werden.

Zum anderen weil an der Debatte deutlich wird, was in der deutschen Armee gerade schief läuft. Und das ist die Art, wie sowohl nach außen als auch nach innen kommuniziert wird. Die Bundeswehr bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen übertriebener Abschottung und dem zu frühen Schritt in die Öffentlichkeit.

Erste Berichte über mögliche Defizite für den Einsatz des G36 in warmen Regionen lagen dem Verteidigungsministerium, damals noch unter Thomas de Maizière, spätestens im Jahr 2012 vor – wenn nicht sogar schon 2011. Lange geschah daraufhin wenig. Gutachten und Gegengutachten wurden in Auftrag gegeben. Die Munition sei schuld, lautete im Februar 2014 schließlich die offizielle Erklärung des Verteidigungsministeriums.

Über Jahre sei versucht worden, das Thema kleinzuhalten, kritisieren deshalb viele Politiker. „Er hat die Dinge beschönigt und beschwichtigt“, sagt etwa der SPD-Wehrexperte Rainer Arnold in Richtung de Maizière. „Er hat teilweise Menschen, die aufklären wollten, gedeckelt.“

Im Frühsommer 2014 setzte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die Expertenkommission ein, um Klarheit zu schaffen. Öffentlichkeitswirksam verkündete sie dann Ende März und noch vor Freigabe des Abschlussberichts, das Gewehr habe „offenbar ein Präzisionsproblem bei hohen Temperaturen, aber auch im heißgeschossenen Zustand“. Die Treffsicherheit des G36 sei so schlecht, dass man vielleicht sogar alle Exemplare in den Beständen der Bundeswehr austauschen müsse, hieß es schnell. Zuletzt kündigte von der Leyen zudem eine Prüfungskommission an, die sich mit möglichen Versäumnissen ihres Vorgängers de Maizière befassen soll.

Mit ihrem Versprechen von Transparenz und schnellem, energischem Handeln schießt sie in den Augen mancher jedoch über das Ziel hinaus, wenn nicht gar absichtlich daran vorbei.

Worte statt Taten

„Wenn die Transparenz als erster Schritt dient, um dann energisch weiterzugehen, dann ist das in Ordnung. Wenn es nur Symbolik ist, ohne dass Handlungen folgen, ist es der falsche Weg“, sagt ein Branchenkenner, der seinen Namen aber nicht veröffentlicht sehen will.

Sein Urteil über Verteidigungsministerin von der Leyen fällt deutlich aus: Sie sei in erster Linie an dem medialen Aufschlag interessiert, nicht an den Ergebnissen. Das zeige sich auch daran, dass die Ministerin mittlerweile zurückrudere und sich um Schadenbegrenzung bemühe. Man dürfe das Gewehr jetzt auch „nicht in Bausch und Bogen verdammen“, erklärte von der Leyen im Gespräch mit der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung".

Der Vorwurf, von der Leyen nutze die Truppe für ihre Inszenierung und als Sprungbrett ins Kanzleramt, ist nicht neu. Er begleitet sie spätestens, seit sie zum ersten Mal mit perfekter Frisur vor einer Transall posierte.

In der Truppe treffen der Vorstoß des Verteidigungsministeriums und die nachfolgende Berichterstattung mindestens auf Skepsis. Von einem „unnötigen Hype“ und „Skandalisierung“ ist die Rede. Selbst unter denen, die sich für eine offenere Kommunikation der Bundeswehr nach außen stark machen.

„Die aufgeheizte Debatte trifft einen Punkt, der intern eigentlich nie zu Diskussionen geführt hat“, so ein Heeresoffizier. Er befürchtet, dass die Diskussion nun von den wahren Problemen ablenkt. „Entsteht in der Truppe der Eindruck, die Führung kreist nur um sich selbst, kann das zu einem echten Problem für die Moral werden“, warnt Schulte.

Die wahren Sorgen der Soldaten

Dass sich die Probleme in der Bundeswehr häufen, ist kaum zu leugnen. Sie haben sich über Jahre und Jahrzehnte aufgetürmt, beginnen schon bei den Kasernen. Etwa die Hälfte aller Bundeswehr-Unterkünfte hat Mängel, sechs Prozent seien sogar unbewohnbar, heißt es im jüngsten Bericht des Wehrbeauftragten aus dem Januar.

Wie desolat die Lage beim Material der Bundeswehr ist, zeigte sich im Herbst vergangenen Jahres. Ein Bericht der Bundeswehr legte offen, dass große Teile an Fahrzeugen und Fluggeräten nicht einsatzbereit sind und es allerorten an Ersatzteilen mangelt. Geändert hat sich daran bis heute wenig.

Braucht die Bundeswehr mehr Geld?

Nach eingehender Prüfung haben externe Experten der Bundeswehr ein miserables Zeugnis beim Umgang mit ihren großen Rüstungsprojekten wie dem Transportflieger A400M ausgestellt. Sie kosten Milliarden mehr als geplant und werden dennoch nicht fristgerecht ausgeliefert.

Anekdoten wie ein Nato-Manöver im Februar, bei dem Bundeswehr-Soldaten offenbar mit schwarz angestrichenen Besenstielen statt Waffenrohren auf ihren gepanzerten Fahrzeuge ins Scheingefecht zogen, leisten ihr übrigens, um am Ruf der Truppe zu kratzen.

Zugleich zeichnet sich ein gravierendes Personal-Problem für die Bundeswehr ab. Den Kampf um die besten und klügsten Köpfe verliert die Armee gegen die freie Wirtschaft. Das hat gravierende Folgen: Gerade einmal zwei der vier U-Boote der Marine sind derzeit einsatzbereit, weil für die übrigen die nötigen Fachkräfte fehlen. Die Abschaffung der Wehrpflicht hat die Situation noch verschärft. Deutschlands Armee verliert zunehmend den Kontakt zur Zivilbevölkerung.

Weißbuch der Bundeswehr

Auf all diese Probleme reagierte das Verteidigungsministerium im vergangenen Jahr mit einem Paket an Maßnahmen: Solderhöhungen, Bundeswehr-Kitas und Flachbildschirme auf den Stuben sollen die Bundeswehr attraktiver machen, Untersuchungen und Prüfberichte die Versäumnisse der Vergangenheit aufdecken. Auf die Mängel an den Kasernen reagierte von der Leyen mit dem Versprechen, Millionen für die Renovierung bereitzustellen.

Doch wieder seien es vor allem Maßnahmen, die die Verteidigungsministerin kurzfristig in einem guten Licht erscheinen lassen, aber in Wahrheit wenig Einfluss darauf haben, wie die Bundeswehr in Zukunft aufgestellt ist, sagen Kritiker. Es werde nur verwaltet. Eine energische Entscheidung fehle.

Wie wichtig die richtige Strategie und Ausrichtung der deutschen Armee ist, zeigt der Fall G36 im Kleinen. Neue Aufgaben erfordern eine angepasste Ausrüstung genauso wie eine neu ausgerichtete Armee.

Immerhin: Die Grundlage für die künftige Ausrichtung der Armee soll ein neues Bundeswehr-Weißbuch legen, das das zehn Jahre alte aktuelle strategische Grundlagendokument der deutschen Sicherheitspolitik ablösen wird. Es soll die Rolle der Bundeswehr in Zeiten von Ebola-Einsatz, der Bedrohung durch den Islamischen Staat und der Russland-Ukraine-Krise neu verorten.

An der Entwicklung der strategischen Grundlagen arbeitet das Verteidigungsministerium nicht allein, sondern in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt, anderen Ministerien und externen Experten und Instituten.

Für Befürworter ist das der richtige Weg, gemeinsam eine Debatte anzustoßen. Skeptiker befürchten, dass durch die Beteiligung nur ein lauwarmer Konsens herauskommt. 2016 soll das neue Weißbuch vorgestellt werden. Pünktlich zum Auftakt des Wahlkampfes für die Bundestagswahl 2017.

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