Bauteile von Atomkraftwerken möglicherweise defekt Skandal um gefälschte Unterlagen erschüttert Areva

Betrug oder Schlamperei? Beim Atomanlagenbauer Areva sind hunderte Protokolle für Bauteile von Kernkraftwerken fehlerhaft. Noch ist unklar, ob die Sicherheit gefährdet ist – bei Rückrufen droht die komplette Stilllegung.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Areva könnte fehlerhafte Teile für Kernkraftwerke verbaut haben. Quelle: REUTERS

Frankreichs Atombranche wird von einem neuen Skandal erschüttert. Wie Areva, Minenbetreiber und Hersteller von Atomanlagen, selber mitteilte, finden sich in den Produktionsunterlagen gut 400 Dossiers, in denen geschlampt oder gefälscht wurde. Es geht nicht um leicht auszutauschende Ersatzteile. Betroffen sind vielmehr die Herstellungsprotokolle für große Bauteile von Atomreaktoren und anderen Kraftwerken.

Sie weisen Areva zufolge „Anomalien“ auf. „Es handelt sich um fehlende Informationen oder um Widersprüche bei den Angaben.“ sagte ein Unternehmenssprecherin. Man könne noch nicht sagen, ob die Sicherheit der Bauteile gefährdet sei. Teilweise seien sie schon nicht mehr in Funktion, andere würden noch nicht in der Produktion eingesetzt. Der größere Teil aber ist wohl im laufenden Betrieb.

Areva kann oder will sich noch nicht dazu äußern, ob Betrug oder „nur“ Nachlässigkeit bei den unzutreffenden Dokumenten im Spiel ist. Ort des Geschehens ist das Schmiedewerk „Forges du Creusot“ bei Chalon-sur-Saône, das Areva 2006 erworben hat. Es hat eine sehr wechselhafte Geschichte hinter sich, die bis auf die Entstehung der Metallindustrie im Département Saône-et-Loire im 18. Jahrhundert zurückgeht.

Welche deutschen Atomkraftwerke demnächst vom Netz gehen

Zeitweilig gehörte es einem Bruder von Vicendi-Chef Vincent Bolloré und Arcelor-Mittal. Später fiel es an Framatome, einer der Vorläufer von Areva. Dort werden die Einzelteile für die größten Aggregate von Kernkraftwerken wie Reaktordruckbehälter oder Primärkreislaufpumpen geschmiedet. Die Bauteile haben teilweise mehrere Meter Durchmesser und werden aus komplexen Stahllegierungen hergestellt. Jeder Industriefreund hat seine Freude an diesen eindrucksvollen Spitzenleistungen der Ingenieurkunst.

Doch heute wird die Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Denn falls sich herausstellen sollte, dass mithilfe der „Anomalien“ in den Protokollen über Defekte hinweggetäuscht wurde, dann müssten wohl Teile zurückgerufen werden und Areva Schadensersatz leisten. Ein Rückruf ist bei Teilen dieser Größenordnung mit der Stilllegung des ganzen Kraftwerks verbunden. Der Umfang des möglichen Schadens lässt sich also noch nicht bemessen. Areva kann nach eigenen Angaben noch nicht sagen, wer die Endkunden waren.

Im vergangenen Jahr hat Areva fast 100 Millionen Euro in dieses Werk investiert. Das geschah in der Erwartung, dass mit dem Neubau von zwei modernen Druckwasserreaktoren in Hinkley Point in Großbritannien sowie der Überholung aller 58 französischen Reaktoren eine Masse an Aufträgen ins Haus stehen würde.

Radioaktives Wasser könnte entweichen


Doch mittlerweile hat sich viel verändert. Areva hat im letzten Jahr zwei Milliarden Euro Verlust ausweisen müssen, unter anderem eine Folge der völlig verfehlten Uranminen-Käufe durch die frühere Chefin Anne Lauvergeon. Um das Unternehmen zu retten, bestand der Staat darauf, dass die gesamten Reaktoraktivitäten vom staatlichen Versorger EDF übernommen werden. Der wehrte sich zwar dagegen, weil er zwei Milliarden Euro aus eigener Kasse zahlen muss, hat aber keine Chance gegen den Willen des Wirtschaftsministers Emmanuel Macron. EDF zögert nun jedoch die Entscheidung über den Neubau in Hinkley Point hinaus: Nach der Übernahme von Areva müsste das Risiko von 17 Milliarden Euro voll auf die eigene Bilanz genommen werden.

Die Unregelmäßigkeiten im Schmiedewerk sind durch eine Überprüfung bekannt geworden, die Areva in Auftrag gegeben hatte. Es wird von internen Kräften und von der britischen Firma Lloyds Register Apave durchgeführt. Llloyds soll vor allem die Prozesse für die Qualitätskontrolle innerhalb von Areva untersuchen. Ausgangspunkt des Audits sind Fehler am Boden und am Dom des Reaktordruckgefäßes, das im neuen Druckwasserreaktor in Flamanville an der Kanalküste eingebaut ist. Die Fertigstellung des Reaktors ist bereits seit Jahren überfällig.

Im vergangenen Jahr war dort festgestellt worden, dass der Stahl von Boden und Dom eine fehlerhafte Zusammensetzung aufweist. Ein Druckbehälter ist der Kern jedes Reaktors und von essenzieller Bedeutung für seine Sicherheit, da er die Brennstäbe enthält. Die Herstellung der Teile für den EPR in Flamanville hat mehrere Jahre gedauert. Ein Austausch ist entweder unrealistisch oder hätte zur Folge, dass das AKW erst Jahre später ans Netz gehen kann. Frankreichs Behörde für Nuklearsicherheit ASN hat von Areva zusätzliche Tests verlangt, bevor sie grünes Licht für die Befüllung und spätere Verwendung des fraglichen Druckgefäßes gibt. Diese Versuche laufen noch.

Areva teilte mit, dass man bis ins Jahr 1960 zurück die Unterlagen durchforsche. Jedes Dossier enthält eine exakte Beschreibung der Herstellung, von der chemischen Zusammensetzung des Stahls über jede thermische Behandlung bis zum Schmiedevorgang. Betroffen seien in mehr als der Hälfte der Fälle Bauteile für Atomreaktoren, der Rest entfalle auf Komponenten für konventionelle Kraftwerke. „Bei den nuklearen Teilen geht es um Druckbehälter, Pumpengehäuse, Pumpenringe und anderes“, sagte die Sprecherin. Atomkraftwerke weisen gewaltige, mehr als 10 Meter hohe Pumpen für den Primärkreislauf auf. Die müssen unter allen Umständen funktionieren, weil der Reaktor andernfalls nicht mehr gekühlt werden kann. Auch radioaktiv verseuchtes Wasser könnte dann austreten.

Derzeit werde noch untersucht, ob es sich bei den fehlerhaften Dossiers um Schlampereien oder um bewusste Fälschungen handele, sagt das Unternehmen. Die Untersuchungen erstreckten sich insgesamt über 10.000 einzelne Dossiers. Die Sicherheitsbehörde ASN hat noch nicht zum neuen Skandal bei Areva Stellung genommen. Der neuen Unternehmensleitung unter Philippe Varin und Philippe Knoche muss man zu Gute halten, dass sie nach Jahren des Vertuschens und der Bilanzkosmetik versucht, reinen Tisch zu machen. Die Frage ist, ob das noch rechtzeitig geschieht, um den erschütterten Nuklearriesen zu retten.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%