In Marl im nördlichen Ruhrgebiet soll die Chemie revolutioniert werden. Im dortigen Industriepark startet in den nächsten Monaten das Projekt Rheticus: Der Chemiekonzern Evonik und Siemens wollen die Natur kopieren, es geht um ein Verfahren zur künstlichen Photosynthese. Kohlendioxid und Wasser werden in neue chemische Substanzen umgewandelt – so, wie es im Kern das Prinzip der Pflanzen ist.
Bis 2021 soll die erste Versuchsanlage im riesigen chemischen Komplex von Evonik in Marl fertiggestellt sein. Hinter dem Projekt steht eine Vision, die die Industrie schon länger umtreibt: Statt Kohlendioxid nur die in die Luft zu pusten, soll der Klimakiller eingefangen und wiederverwertet werden. Weltweit treiben Industrie und Forscher die Entwicklung voran, an deren Ende CO2 das Öl als neuen Super-Rohstoff ablösen könnte.
Das Potenzial ist groß: Im CO2 steckt Kohlenstoff – die Substanz also, die seit langem Grundlage für Benzin, Kerosin, Kunststoff oder Chemikalien ist. Bislang wird Kohlenstoff aus Rohöl gewonnen, praktisch die gesamte Chemieproduktion baut auf dem fossilen Brennstoff auf. Doch die Erdölquellen werden einmal versiegen, zudem gelangt bei der Nutzung jede Menge des schädlichen Treibhausgases CO2 in die Erdatmosphäre.
Stickoxide und CO2
Gesundheitsschädliche Stickoxide wie etwa Stickstoffmonoxid und -dioxid kommen in der Natur nur in winzigen Mengen vor. Sie stammen vor allem aus Autos, aber auch aus Kohle-, Öl- und Gaskraftwerken. Dieselmotoren stoßen viel mehr NOx aus als Benziner. Die Stoffe können Schleimhäute angreifen und so zu Husten, Atembeschwerden und Augenreizungen führen. Sie können auch Herz und Kreislauf beeinträchtigen. Pflanzen werden dreifach geschädigt: NOx sind giftig für Blätter, und sie überdüngen und versauern die Böden. Außerdem tragen Stickoxide zur Bildung von Feinstaub und bodennahem Ozon bei. Technisch lassen sie sich mit einem Drei-Wege-Katalysator von Benzinern in unschädlichen Stickstoff (N2) und Sauerstoff (O2) umwandeln. Es bleiben jedoch immer NOx-Reste übrig. Bei Dieselmotoren ist der Abbau von NOx bedeutend schwieriger – er gelingt etwa durch Einspritzung einer zusätzlichen Harnstoff-Lösung in den Abgasstrom.
Der Grenzwert in Pkw-Abgasen für alle Stickoxide zusammen liegt in der EU bei 80 Milligramm pro gefahrenen Kilometer (mg/km) für Diesel- und bei 60 mg/km für Benzinmotoren. Der von der US-Umweltbehörde EPA geforderte Wert liegt im Schnitt bei umgerechnet 43,5 mg/km. Allerdings sind die US-Kontrollsysteme nicht einheitlich, und die Vorschriften können je nach US-Bundesstaat abweichen.
Es ist in nicht allzu großen Mengen unschädlich für den Menschen, aber zugleich das bedeutendste Treibhausgas und zu 76 Prozent für die menschengemachte Erderwärmung verantwortlich. Der Straßenverkehr verursacht nach Angaben des Umweltbundesamts rund 17 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen in Deutschland - hier spielt CO2 die bei weitem größte Rolle. Es gibt zwar immer sparsamere Motoren, zugleich aber immer größere Autos mit mehr PS und mehr Lkw-Transporte. So ist der Treibhausgas-Ausstoß des Verkehrs von 1990 bis 2014 sogar um 0,6 Prozent gestiegen. Die Konferenz von Paris (30. November bis 11. Dezember) soll die Emissionen so verringern, dass sich die Erdatmosphäre um nicht mehr als zwei Grad aufheizt.
In diesem Jahr müssen die Autohersteller in der EU bei ihrer Pkw-Flotte im Durchschnitt einen Grenzwert von 130 Gramm CO2 pro Kilometer erreichen. 2021 sind dann nur noch 95 g/km erlaubt. In den USA liegen diese Schwellen geringfügig höher: Die Vorgabe der Umweltbehörde EPA sieht für die im Jahr 2016 zugelassenen Fahrzeuge einen Grenzwert für Personenwagen von umgerechnet etwa 140 g/km vor. Bis 2025 sinkt der Durchschnittsgrenzwert auf rund 89 g/km.
Das Recycling von CO2 erscheint da als geniale Idee – und es ist längst keine Vision mehr. Weltweit entstehen immer mehr Anlagen zur ersten kommerziellen Nutzung, beobachtet Michael Carus, Chef des auf Bioökonomie spezialisierten Nova-Instituts aus Hürth bei Köln. Der Wissenschaftler und Berater ist überzeugt: „In 50 Jahren werden wir Chemikalien und Treibstoffe komplett ohne Öl herstellen können.“ Evonik und Siemens haben in 20 Wissenschaftler auf das Projekt Rheticus angesetzt. In dem Verfahren im Chemiepark Marl sollen CO2 und Wasser mit Hilfe von erneuerbarer Energie und Bakterien in Basischemikalien verwandelt werden. Die wiederum werden zu Spezialchemieprodukten und Nahrungsergänzungsmitteln weiterverarbeitet. „Wir entwickeln eine Plattform, mit der chemische Produkte wesentlich günstiger und umweltfreundlicher produziert werden können“, sagt Günter Schmidt, Manager bei Siemens Corporate Technology.
Covestro sucht nach neuen Anwendungen
Hundert Kilometer südlich von Marl ist die kommerzielle Nutzung von CO2 als Rohstoffs bereits Realität. Am Standort Dormagen bei Köln produziert Covestro Kunststoffe auf Basis von Kohlendioxid. Die frühere Bayer-Tochter liefert Weichschäume, die in Polstern und vor allem in Matratzen verwendet werden. Üblicherweise werden diese Schäume nur aus fossilem Rohstoff hergestellt. Covestro ersetzt Öl mittlerweile zu mehr als einem Fünftel durch CO2.