Corona-Krise „Die globalen Lieferketten werden um 34,5 Prozent zurückgehen“

Während die Lieferketten in er Metall- und Elektronikindustrie zurückgingen, wuchsen die Wertschöpfungsketten in der Autoindustrie. Quelle: dpa

Das Coronavirus wird die Strukturen weltweiter Lieferketten dramatisch verändern. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie von Dalia Marin, Wirtschaftsforscherin an der TU München.

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Dalia Marin ist Professorin für Internationale Wirtschaft an der School of Management der Technischen Universität München. Marin hatte Gastprofessuren an den Universitäten Harvard und Stanford inne und ist Senior Research Fellow des Brüsseler Thinktanks Bruegel.

WirtschaftsWoche: Frau Marin, Sie erforschen den Zusammenhang zwischen Krisen und deren Auswirkungen auf die Lieferketten westlicher Unternehmen. Welche Folgen wird die Corona-Krise für die Lieferketten deutscher Unternehmen haben?
Dalia Marin: Für unsere aktuelle Forschung „Eine neue Ära des Welthandels“ arbeite ich mit meinem Team mit dem sogenannten Unsicherheits-Index, den Forscher der Universität Stanford entwickelt haben. Dieser Index basiert darauf, dass weltweit Zeitungen nach Schlagwörtern wie „Unsicherheit“ durchforstet werden. Dadurch sind wir in der Lage, Veränderungen im Sicherheitsgefühl quantifizieren zu können. Durch diese Methode lässt sich etwa feststellen, dass die Unsicherheit beim Ausbruch von SARS im Jahr 2003 um rund 70 Prozent gestiegen ist. Nach dem Brexit stieg die weltweite Unsicherheit sogar um rund 250 Prozent.

Wie stark lässt Corona diese Unsicherheitskurve ansteigen?
Noch habe ich dazu nur Prognosen. Ich gehe allerdings davon aus, dass der Anstieg der Unsicherheit mehr als dreimal höher als bei SARS sein wird. Das liegt vor allem daran, dass SARS eine nationale und Corona eine internationale Epidemie darstellt. Ich rechne damit, dass die weltweite Unsicherheit durch das Coronavirus um bis zu 300 Prozent steigen wird.

Welche Folgen hat das für die Lieferketten westlicher Konzerne?
Wenn es tatsächlich zu einem Anstieg der Unsicherheit um 300 Prozent kommt, entspräche das einem Rückgang der globalen Lieferketten um 34,5 Prozent. Der durch die Unsicherheit ausgelöste Prozess nennt sich Reshoring und meint die Rückholung der Produktion in den Heimatmarkt der Unternehmen. Betroffen von dieser Rückholung ist die Fertigung in Schwellen- und Billiglohnländern, besonders in Asien und Osteuropa.

Wird das Coronavirus die wirtschaftliche Globalisierung nachhaltig zurückdrehen?
Der Trend zum Rückbau der globalen Lieferketten bestand bereits vor dem Coronavirus. Corona wird diesen Trend jedoch weiter verstärken. Unser Studie „Eine neue Ära des Welthandels“, die in zwei Monaten erscheinen wird, kommt zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die internationalen Lieferketten in den OECD-Staaten in vielen Ländern bereits zurückgegangen sind beziehungsweise stagnieren.

Wie stark verlagern deutsche Unternehmen ihre Lieferketten zurück nach Deutschland?
Besonders deutlich wird dieser Trend in Deutschland bei der chemischen Industrie. In dieser Branche sind die globalen Lieferketten im Zeitraum von 2011 bis 2014 um rund 2,5 Prozent zurückgegangen. In Frankreich betrug der Rückgang in dieser Branche sogar rund fünf Prozent. Im Bereich Metallindustrie und Elektroindustrie lag der Rückgang in Deutschland bei rund zwei Prozent. Gewachsen sind die Wertschöpfungsketten hingegen in der Autoindustrie, wo zwischen 2011 und 2014 eine Zunahme um 16 Prozent zu beobachten ist. Die Werke der Autozulieferer etwa in Asien produzieren allerdings nicht für den europäischen Markt, sondern für den asiatischen Markt. Rückgänge in den Lieferketten betreffen vorrangig Vorprodukte, die nach Europa oder in die USA geliefert werden.

Dalia Marin

Was sind die Ursachen für diese Rückholung der Produktion?
Die Ergebnisse unserer Studie machen deutlich, dass die Finanzkrise 2008 in vielen Unternehmen zu einer Neubewertung ihrer globalen Lieferketten geführt hat. In der Finanzkrise ist die globale Unsicherheit stark angestiegen. Der Unsicherheitsindex stieg zwischen 2008 und 2011 um rund 200 Prozent. Dadurch stieg für viele Unternehmen das Risiko eines Ausfalls bei globalen Lieferketten. Seitdem hat sich das massive Wachstum dieser Lieferketten, das Mitte der 1990er Jahre eingesetzt hat, in sein Gegenteil verkehrt. Die Produktion verlagert sich tendenziell zurück in die Herkunftsmärkte der Unternehmen.

Enthält Ihre Studie auch Zahlen darüber, wie viele Arbeitsplätze durch diese Rückholung der Produktion in Deutschland entstehen werden?
Es werden dadurch wahrscheinlich keine zusätzlichen Arbeitsplätze entstehen. Die Rückverlagerung der Produktion in die reichen Industrieländer erfolgt nur dann, wenn die Unternehmen bereits hinreichend roboterisiert sind, sodass die Löhne als Produktionskosten nicht mehr die entscheidende Rolle spielen. Die Rückverlagerung der Produktion begünstigt dann den Einsatz von weiteren Robotern statt der Beschäftigung. Jene Unternehmen, die im Stande waren, ihre Fabriken weitgehend automatisiert zu betreiben, gehörten auch zu den ersten, die die Produktion zurück in die Heimatmärkte verlagert haben.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Schwellenländer, in denen der Westen preiswert produzieren lässt und deren Lebensstandard dadurch gestiegen ist?
Diese Länder könnte die neue Ära des Welthandels teils dramatisch treffen, weil sie oft ihre gesamte Wirtschaft nach dem Modell der Lieferketten ausgerichtet haben. Allerdings beobachten wir auch, dass einige der betroffenen Länder gegenhalten und vermehrt auf Robotisierung setzen. Gerade in Osteuropa haben Länder wie Tschechien, die Slowakei oder Slowenien massiv in die Fertigung mittels Robotern investiert, um die Fertigung im Land zu halten.

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