




Es war kurz nach Mittag am bis dahin geruhsamen Karfreitag des Jahres 2010, als Soldaten der Bundeswehr in eines der schlimmsten Gefechte des Afghanistan-Einsatzes gerieten: Unweit des Flusses Kunduz attackierten ein paar Dutzend Taliban-Kämpfer einen deutschen Konvoi – und nahmen ihn stundenlang unter Feuer. Die Fallschirmjäger schossen mit Gewehren vom Typ G36 zurück. Drei Soldaten kamen in diesem Hinterhalt ums Leben, fünf wurden verletzt.
Mit ihrem Standardgewehr konnten die Deutschen den Gegner nicht bezwingen; erst die einbrechende Dämmerung konnte dem Blutbad ein Ende machen.
Präzisionsprobleme im Dauereinsatz
Fünf Jahre nach dem „Karfreitags-Gefecht“ kommt heute die Aufarbeitung zum Abschluss. Nicht die des Angriffs als solchem, sondern die zur Rolle des Gewehrs G36. Denn im Einsatzbericht jenes Karfreitags berichtete ein Truppführer zum ersten Mal, dass die Waffe bei Erhitzung infolge eines Dauereinsatzes offenbar an Präzision verliert. Seither setzte die Bundeswehr zunächst auf härtere Geschosse.
Inzwischen aber wachsen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Waffe generell: In einem Schreiben an Kommandeure warnte Generalinspekteur Volker Wieker, die Präzisionsprobleme seien „signifikant größer als bei untersuchten Vergleichswaffen“. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) informierte proaktiv über die Probleme und schließt nicht einmal mehr den Austausch der 176.000 Gewehre im Bestand der Bundeswehr aus!
Die Debatte um das G36
Das Sturmgewehr G36 ist die Standardwaffe der Bundeswehr. Der Hersteller, das deutsche Rüstungsunternehmen Heckler & Koch, hat nach eigenen Angaben 178.000 Gewehre des Typs G36 an die deutsche Armee verkauft. Der Preis: Mehr als 180 Millionen Euro. Das Gewehr zeichnet sich nach Angabe der Bundeswehr durch „seine einfache Bauweise aus, sämtliche Hauptbaugruppen sind mit nur drei Haltebolzen am Waffengehäuse befestigt.“
Quellen: Bundeswehr, Unternehmen, dpa
Das G36 wiegt 3,63 kg und verfügt über ein Zielfernrohr sowie ein Reflexvisier. Es handelt sich um einen automatischen Gasdrucklader mit Drehkopfverschluss im Kaliber 5,56 x 45 Millimeter. Mit dem Gewehr können sowohl einzelne Schüsse als auch Feuerstöße abgegeben werden.
Das G36 löste das G3 ab, das sich seit 1959 im Einsatz bei der Bundeswehr befindet. Bei dem G3 handelt es sich um eine schwerere Waffe im größeren Kaliber 7,62 x 51 Millimeter.
Ende März 2015 hat die Bundeswehr Probleme bei der Treffsicherheit des G36 eingeräumt. „Das G36 hat offenbar ein Präzisionsproblem bei hohen Temperaturen aber auch im heißgeschossenen Zustand“, erklärte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. In den Jahren zuvor hatte es mehrere widersprüchliche Berichte über die Treffsicherheit des G36 gegeben. Unter anderem war die Munition für Ungenauigkeiten verantwortlichgemacht worden. Daraufhin hatte von der Leyen im Frühsommer 2014 eine Expertenkommission mit Vertretern der Bundeswehr, des Bundesrechnungshofs und des Fraunhofer-Instituts eingesetzt, um Klarheit zu schaffen. Der Abschlussbericht stand zum Zeitpunkt der Äußerungen noch aus.
Das Sturmgewehr G36 von Heckler & Koch wird nicht nur von der Bundeswehr verwendet, sondern auch von Armeen anderer Staaten. In Lettland, Litauen und Spanien ist die Waffe nach Angaben der Bundeswehr ebenfalls als Standardgewehr der Armee im Einsatz. Verwendet wird das G36 zudem von Spezialeinheiten in Jordanien, Norwegen und Mexiko. Aus Bundeswehr-Beständen sind kürzlich G36-Sturmgewehre an die kurdischen Peschmerga-Einheiten im Nord-Irak geliefert worden. Die Kurden sollen damit gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kämpfen.
Im spanischen La Coruña wurde das G36 in Lizenz von General Dynamics Santa Bárbara Sistemas hergestellt. 2008 erteilte die Bundesregierung außerdem eine Genehmigung zur Ausfuhr von Technologie für die Herstellung des Gewehrs in Saudi-Arabien. Diese Genehmigung sieht allerdings nach Angaben der Regierung nur eine Produktion für den Eigenbedarf der saudischen Sicherheitskräfte vor und keine autonome Fertigung ohne Zulieferung von Schlüsselkomponenten aus Deutschland.
Jahrelang schaffte es das Militär, die Probleme geheim zu halten. Erst Untersuchungen gaben der verwendeten Munition Schuld an den Präzisionsproblemen. Eine Initiative zur Verbesserung des Gewehres wurde im vergangenen Jahr zurückgestellt, um die Ergebnisse einer weiteren Untersuchung abzuwarten, meldet die „Süddeutsche Zeitung“.
Jetzt befeuert das Ministerium einen Skandal, der dem Hersteller Heckler & Koch (HK) einen empfindlichen Imageschaden beibringen könnte. Dort weist man fast hysterisch die Vorwürfe zurück, denn ein Einsatz im Dauerbetrieb sei schon bei der Bestellung nie Teil des Anforderungsprofils gewesen.
Was Fachleute wie Florian Jordan ähnlich sehen: „Es gibt weltweit keine vergleichbare Handwaffe, deren Treffsicherheit bei starker Erhitzung infolge stundenlanger Belastung nicht nachlässt“, sagt der Sicherheitsexperte der Münchner Unternehmensberatung h&z, ein ehemaliger Elite-Soldat.
Die Gewehre von HK seien jedenfalls „der Goldstandard“, urteilt Jordan. Wenn man die Leistung noch weiter verbessern wolle, müsse man die Anforderungen definieren – und dem Hersteller viele Millionen Euro für die Materialentwicklung bewilligen. Undenkbar!
Die Aufgabe der Bundeswehr ist unklar
Im Grunde genommen handelt es sich beim „G36-Skandal“ ohnehin um eine Scheindebatte, die von weitaus größeren Problemen ablenkt: Der Bundeswehr fehlt die Strategie, was deutsche Soldaten können und leisten sollen: Kampfeinsätze am Hindukusch? Friedenssicherung in Afrika? Terrorismusbekämpfung in Nahost? Die Sicherung von Lieferwegen der deutschen Wirtschaft? Alles? Oder doch zurück zur Landesverteidigung gegen den imaginären Feind Rotland, der sich aus Richtung Osten „über freie Pläne“ nähert und jahrelang von Wehrpflichtigen mit Platzpatronen beschossen wurde.
All diese Fragen verlangen Antworten, die der Möchtegern-pazifistische deutsche Michel gar nicht hören will. Denn sie laufen auf die bittere Einsicht hinaus, dass sich die Bundesrepublik gerade als Führungsmacht in Europa nicht länger abschotten kann in einer Welt, die permanent gefährlicher wird. Wenn im Osten eine Atommacht willkürlich Grenzen verschiebt und der Terrorismus südlich von Europa gar keine Grenzen kennt, geraten rasch auch deutsche Handelswege und Investitionen in Gefahr.
Den neuen Bedrohungen muss sich auch Deutschland stellen. Im Idealfall könnten sich die Bundeswehr und andere Armeen im Rahmen einer europäischen Verteidigungspolitik spezialisieren – indem die Deutschen die U-Boote schicken, um Flugzeugträger der Briten zu sichern.