Einst bildete die Stahlindustrie das Fundament der deutschen Wirtschaft. Im 19. Jahrhundert war sie Antreiber der Industrialisierung. Der technische Fortschritt bei der Stahlherstellung – etwa Hochofenverfahren, die zu Massenproduktion und dadurch fallenden Preisen führten – sowie innovative Stahlsorten ermöglichten den Siegeszug der Eisenbahn und den Bau industrieller Großanlagen.
Diese herausragende Bedeutung hat Stahl in Deutschland und anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften heute nicht mehr. Teilweise wurde er durch andere Werkstoffe verdrängt, zudem hat sich die Wirtschaftsstruktur zugunsten des Dienstleistungssektors gewandelt.
Mit rund 80 000 Arbeitsplätzen zählt die Stahlindustrie heute auf den ersten Blick nicht mehr zu den bedeutendsten Branchen in Deutschland. Ist Stahl also ein altes Eisen, das Politik und Gesellschaft getrost aus den Augen verlieren können?
Die Antwort ist ein klares Nein. Denn die volkswirtschaftliche Bedeutung eines Sektors macht sich nicht allein an dessen Jobintensität oder Wertschöpfung fest. Entscheidend ist die Position in der Wertschöpfungskette. Die Stahlindustrie wurde zum Motor der Industrialisierung, weil sie die Basis für viele Produkte lieferte, mit denen die Industrie den Weltmarkt eroberte.
Und daran hat sich nichts geändert, wie aktuelle Forschungsergebnisse des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung belegen: Die Stahlindustrie steht heute im Mittelpunkt eines „stahlintensiven Clusters“, zu dem insbesondere Maschinenbau und Automobilindustrie zählen, abgeschwächt auch Elektrotechnik und Bauwirtschaft.
Beim Maschinenbau bestanden 2007 rund 20 Prozent der bezogenen Vorleistungen aus Stahl und Stahlerzeugnissen, im Kfz-Sektor waren es 13 Prozent und in den beiden anderen Sektoren immerhin rund zehn Prozent. Die vier stahlintensiven Sektoren beschäftigen rund 3,5 Millionen Menschen und sind für etwa die Hälfte des deutschen Warenexports verantwortlich.
Selbst diese hohen Anteile beschreiben die Bedeutung der Stahlbranche für den Standort Deutschland nur unzureichend. Schließlich wird Stahl heute international gehandelt, und man könnte ihn aus dem Ausland beziehen wie Textilien.
Zwei Gründe sprechen dagegen: Zum einen legen, gemessen am Produktpreis, hohe Transportkosten eine gewisse räumliche Nähe von Stahlerzeugern und -verwendern nahe. Deutschland führt zwar große Mengen an Stahl ein. Dieser stammt aber überwiegend aus nahe gelegenen Standorten in der EU.
Die Bedeutung von Stahl steigt
Noch wichtiger als die Transportkosten ist, dass die Stahlindustrie in einem engen Innovationsverbund mit ihren Kunden steht. Stahl ist kein homogenes Produkt, sondern wird entsprechend den Bedürfnissen der Kunden legiert, gewalzt und verformt. Dieser Verbund ist keine Einbahnstraße: Die Stahlverwender verlangen von den Herstellern immer wieder neue Problemlösungen, und die Stahlerzeuger erschließen ihren Kunden durch innovative Produkte neue Märkte.
Was es bedeutet, diesem Verbund die Grundlage zu entziehen, zeigt das Beispiel Großbritannien. Dort ist wegen des Bedeutungsverlustes von Stahlsektor, Maschinen- und Fahrzeugbau die Deindustrialisierung weit vorangeschritten. Dies geht einher mit einer rückläufigen Rohstahlerzeugung und einem Rückzug der Branche aus dem Segment qualitativ hochwertiger Stähle.
Die Energiewende braucht Stahl
Die Bedeutung von Stahl zeigt sich auch im Kontext der Energiewende: Wenn neue Kraftwerke oder Stromnetze gebaut werden, geht es nicht ohne Stahl. Das gilt auch für das Ziel, die Emissionen im Straßenverkehr zu vermindern. Der entscheidende Ansatz ist, das Gewicht der Fahrzeuge zu reduzieren, mithin weniger Stahl zu verwenden. Soll dies nicht zulasten der Sicherheit gehen, muss Stahl künftig noch intelligenter erzeugt, gewalzt und verformt werden.
Die Beispiele zeigen, wie wichtig es auch bei der Formulierung energie- und umweltpolitischer Ziele ist, die gesamte Wertschöpfungskette im Auge zu behalten. So geht die durch weniger Stahl im Auto erzielte Energieersparnis beim Fahren mit einem höheren Energieverbrauch bei der aufwendigeren Stahlerzeugung einher – jeder zusätzliche Prozessschritt kostet Energie.
Und den geringeren CO2-Emissionen von regenerativen Energien stehen zusätzliche Emissionen gegenüber, die durch die Stahlproduktion für weitere Windräder und Strommasten entstehen. Und auch das Ende der Wertschöpfungskette muss berücksichtigt werden: Stahl kann im Gegensatz zu den meisten Kunststoffen nahezu beliebig oft recycelt werden.
Den Herausforderungen einer durch das Postulat der Nachhaltigkeit geprägten Zukunft kann Stahl also gerecht werden. Für die deutsche Wirtschaft dürfte daher auch künftig gelten, dass ihr Fundament zu guten Teilen aus Stahl besteht.
Die vier stahlintensiven Sektoren in Deutschland beschäftigen 3,5 Millionen Menschen